Sabine R. aus W., 14.01.2016
Ich schildere hier die Unfallgeschichte meines Sohnes. Aufgrund eines unverschuldeten Verkehrsunfalls ist er jetzt schwerbehindert mit einem Grad von 60 Prozent und hat täglich mehr oder weniger heftige Schmerzen.
Im Jahr 2009 wurde er als Teenager angefahren, als er mit seinem Motoroller an einer Haltelinie stand, die auf eine vorfahrtsberechtigte Straße führte. Von dieser Straße aus wollte eine Autofahrerin in die Straße einbiegen, in die er stand. Sie schnitt die Kurve, übersah ihn und fuhr ihn um. Er wurde herumgeschleudert, fiel nach hinten, schlug mit dem Kopf auf (er hatte einen Helm an). Direkt nach dem Unfall hatte er einen Gedächtnisverlust und einen Nystagmus (unkontrollierbare Bewegungen der Augen).
Das Krankenhaus, in dem er fünf Tage verbrachte, meinte, er hätte ein Schädel-Hirn- und ein Schleudertrauma erlitten. Allerdings entließen sie ihn mit dem Befund „Zerrung und Stauchung re. Knie“ ohne die Traumata zu erwähnen. Erst knapp zwei Jahre später wurden nachträglich noch die Diagnosen „Gehirnerschütterung“ und „HWS-Distorsion“ durch ein Attest des erstbehandelnden Krankenhauses nachgetragen, damit wir etwas in der Hand haben wegen der Haftpflichtversicherung der Unfallverursacherin. Wichtige neurologische Untersuchungen und eine (MRT) Magnetresonanztomogramm des Kopfes und der Halswirbelsäule waren unterblieben. Eine Einteilung in Gradzahlen, wie sie bei Traumata eigentlich nötig ist, unterblieb ebenfalls.
Da wir damals noch nicht wussten, was mein Sohn hatte und wir uns viele Sorgen um ihn machten, begann eine wahre Arztodyssee. Seine Beschwerden waren: starke Kopfschmerzen, Doppelbilder auf beiden Augen, Reaktionsverlangsamung, Schwindel bis zum Erbrechen, Gedächtnis – und Konzentrationsstörungen, Knie-, Nacken- und Rückenschmerzen, um nur die wichtigsten zu nennen. Wir waren bei Neurologen, Augenärzten, Orthopäden, sogar in der Neuroopthalmologie. Da die behandelnden Neurologen keine adäquaten Untersuchungen wie etwa ein EEG veranlassten, gab ich – leider erst nach 5 Monaten – ein privates neurologisch/neuropsychologisches Zusammenhangsgutachten in Auftrag. Endlich erfolgten die notwendigen Untersuchungen und diagnostizierten die Ärzte etliche Verletzungen.
Erst nach über einem Jahr wurde die Diagnose „instabile Halswirbelsäule mit ligamentum alare Verletzung links“ gestellt. Die einzige „konventionelle“ Behandlungsmethode ist die Versteifung der Halswirbel von C0-C2. Dabei werdender Kopf und die beiden obersten Wirbel werden mit einer Stange aneinandergeschraubt. Der Kopf ist damit steif. Aber davon riet der Arzt ab, da mein Sohn zu jung wäre; auch Wirbel unterhalb der Versteifung können auf Dauer Schaden nehmen und auf die Dauer wäre dann die ganze Wirbelsäule versteift. Er veranlasste eine Einweisung in die Loreley-Kliniken zur Physiotherapie. Danach ging es meinem Sohn auch etwas besser. Aber bei geistiger und körperlicher Anstrengung verstärkten sich seine Schmerzen immer wieder.
Auch wegen der erlittenen Bänderverletzungen (unter anderem ein Riss im Bein) wurde mein Sohn zunächst fehlbehandelt. Die betroffenen Körperteile hätten sofort ruhig gestellt werden müssen. Bänder haben nämlich nur eine gewisse Zeit lang eine Heilungsphase, danach sind sie auf Dauer instabil.
Die Ärzte empfahlen meinem Sohn auch Craniosakraltherapie, Osteopathie und Akupunktur. Aber das ist keine Kassenleistung. Ich habe etliche Therapien bezahlt, aber ich habe leider kein Geld mehr dafür.
Auch für Anwälte und Gutachten habe ich bereits viel Geld bezahlt. Die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers behauptet einfach: „Die Schäden kommen nicht vom Unfall“, obwohl sie erst seit dem Unfall bestehen. Mein Sohn muss sein Recht einklagen – mit ungewissem Ausgang und ohne bestehende Rechtsschutzversicherung.
Heute geht es meinem Sohn nach Reha und zahlreichen Behandlungen etwas besser. Doppelbilder und Nystagmus sind nicht mehr so schlimm. Der Rest ist geblieben. Zusätzlich hat sich eine Blut-Hirnschrankenstörung sowie eine Glukose-Stoffwechselstörung des Gehirns eingestellt. Außerdem wurde nach drei (!) Jahren festgestellt, dass eine Arterie, die das Gehirn mit Blut versorgt, durch die instabile Halswirbelsäule bei etlichen Bewegungen „abgedrückt“ wird, sodass die Blutversorgung durch die eine Seite quasi gestoppt wird. Das kann u.a. zu Schwindel, Gedächtnis- u. Konzentrationsstörungen führen, ist wohl auch die Ursache für die Doppelbilder, die er lange Zeit gesehen hatte. Außerdem ist das Innenohr geschädigt, das führt ebenfalls zu Schwindel. Das hat zwei Jahre nach dem Unfall ein Neurootologe festgestellt.
Alle Einschränkungen meines Sohnes sind ärztlich attestiert. Durch die Art der Verletzung geht es ihm einmal besser, einmal schlechter und manchmal ganz schlecht. Das liegt an der Stellung der Halswirbel, die sich immer wieder gegeneinander verschieben, je nachdem, wie er sich bewegt. Auch die Kopfschmerzen sind oft unerträglich. Manchmal sind ein Kinobesuch und Unternehmungen mit Freunden möglich. Manchmal bleibt ihm nur, im dunklen Zimmer im Bett zu liegen.
Anfangs nahm mein Sohn jeden Tag bis zu drei verschiedene Schmerzmittel und Schlafmittel, da er sonst nicht durch den Tag kommt. Das lässt er inzwischen, weil es üble Nebenwirkungen auf die Leber hatte. Nun muss er die Schmerzen ertragen.
Eine Schulausbildung ist für ihn unmöglich geworden durch die Kopfschmerzen, die er bei geistiger und körperlicher Belastung und vor allem beim Lesen bekommt. Außerdem ist sein Kurzzeitgedächtnis gestört und die Konzentration fällt ihm schwer. In der Reha bescheinigten sie ihm eine Belastungsfähigkeit von drei bis vier Stunden am Tag, wenn er genügend Pausen einlegt. Er könnte leichte Tätigkeiten ausüben. Welche das sein sollen, sagten die Ärzte nicht.
Körperliche Arbeit kann mein Sohn wegen der geschädigten Halswirbelsäule und des Knies ohnehin nur sehr eingeschränkt machen. Außerdem wird ihm schwindlig, sobald er nach oben schaut. Wenn er länger nach unten schaut, baut der Kreislauf ab und er bricht zusammen. Auch die Kopfschmerzen werden bei Belastung stärker.
Mein Sohn ist sehr verzweifelt. Jeder Tag ist schmerzhaft und – da er oft wenig machen kann – auch langweilig. Da man ihm die Erkrankung nicht ansieht, trifft er oft auf Unverständnis.
Als der Unfall passierte, war er in der 13. Klasse, kurz vor dem Abitur. Das hätte er aller Voraussicht nach mit guten Noten bestanden. Durch den Unfall konnte er sein Abitur nicht beenden, schaffte aber durch zwei Praktika (z.T. in Teilzeit) seine Fachhochschulreife.
Einen Studienversuch musste er erfolglos abbrechen.
Auch finanziell sieht es schlecht aus. Die Haftpflichtversicherung der Unfallverursacherin streitet ab, dass der Unfall so schwer war, dass irgendwelche bleibenden Schäden hätten entstehen können. In einem Beweissicherungsverfahren, das der Anwalt der Versicherung heftig in die Länge zog, wurden bleibende Gesundheitsschäden bestätigt. Unser Anwalt hat die Versicherung zur Zahlung aufgefordert, eine Reaktion von Seiten der Versicherung erfolgte überhaupt nicht!
Wir haben zwar eine Rechtsschutz-Familienversicherung. Die greift aber nicht, da der Roller, mit dem der Unfall passierte, auf meinen Sohn zugelassen war und nicht auf mich. Dass wir meinen Sohn dann Rechtschutz versichern hätten müssen, hat uns beim Abschluss der Roller-Versicherung aber keiner gesagt, obwohl es sich um denselben Versicherungsvertreter handelte. Der war sehr betroffen, da ihm das so nicht bewusst war und hat alle anderen Versicherten, die die gleiche Versichungskonstellation hatten wie wir, angerufen, damit sie die Versicherung ändern, um für die Betroffenen Rechtsschutz zu erhalten. Was uns natürlich auch nicht geholfen hat, andere aber hoffentlich vor diesem Schaden bewahrt (und daneben dem Versicherungsvertreter wahrscheinlich noch ein gewisses Sümmchen eingebracht hat).
Unsere private Unfallversicherung will auch nicht zahlen, da sie nur für organische Schäden haften würde, nicht aber für psychische Folgen, auch wenn sie infolge eines Unfalls auftreten würden. Sie erkennt die Leiden meines Sohnes nicht als Folgen des Schädel-Hirn- und Schleudertraumas an, sondern meint, mein Sohn hätte „nur“ psychische Folgen durch den Unfall erlitten.
Dafür wurden drei Gutachten gemacht, die wohl Gefälligkeitsgutachten sind, da keine wirklichen Schäden festgestellt wurden, die auf den Unfall zurückzuführen wären. Durch andere Ärzte und Radiologen etwa im Beweissicherungsverfahren und im Reha-Bericht sind die Verletzungen aber sehr wohl belegt. Die Gutachten für die Private Unfallversicherung wurden allerdings schlampig und fehlerhaft durchgeführt. Ich war bei den Untersuchungen anwesend. So hat z. B. der untersuchende Orthopäde keine Messungen der Beweglichkeit vorgenommen. Trotzdem tauchten im Gutachten erstaunlicherweise Zentimeterangaben auf. Auch behauptete der Orthopäde in seinem Gutachten, dass mein Sohn mit seinen Händen bei durchgedrückten Knien den Boden berühren könne. Das konnte er sogar VOR dem Unfall nicht!
Der untersuchende Psychologe hat die Fragebögen meinem Sohn zum Mittagessen mitgegeben, anstatt sie unter Aufsicht ausfüllen zu lassen. Die Fettflecke von Pommes und Hamburger müssten noch auf den Bögen sein. Interessiert aber nicht. Die Polizei hat nur mal müde abgewinkt, als ich Strafanzeige erstatten wollte...
Einzig eine private Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt pro Monat etwas für meinen Sohn. Da die Einkommensgrenze für eine Familienkrankenversicherung aber bei 400 Euro liegt, muss er sich nun freiwillig pflichtversichern und dies kostet 145 Euro im Monat – und somit etwa ein Drittel seiner Berufsunfähigkeitsrente. Diesen Betrag muss er auch noch rückwirkend für zwei Jahre in Raten nachzahlen, da er die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente ja auch rückwirkend bekommen hat. Wir sind natürlich froh, dass er überhaupt etwas bekommt, aber bis zur Altersrente von den Versicherungszahlungen leben zu müssen, ist schon hart. Das Geld reicht bei weitem nicht, um Anwaltskosten, Therapien usw. zu bezahlen, geschweige denn, für ein eigenständiges Leben aufzukommen. Als ich für ihn eine Grundsicherung beantragen wollte, erfuhr ich auf dem Sozialamt: Sein „Einkommen“ sei zu hoch!
Ich weiß nicht, wie es für ihn weitergehen könnte. Ich habe schon Kredite aufgenommen, um die nötigen Behandlungs-, Fahrt- und Arzneikosten zu decken, sowie auch den Anwalt und private Gutachter zu bezahlen.
Mein Sohn wird immer depressiver, da ihm jede Zukunftsperspektive – auch auf einen Beruf – fehlt. Freundschaften werden durch die Einschränkungen der Unfallfolgen immer weniger, seine Freundin, mit der er zwei Jahre zusammen war, hat Schluss gemacht, weil sie der Belastung nicht gewachsen war.
Und die Schmerzen, bei allem, was er gern tun möchte, schränken ihn permanent ein.. Auch das verletzte Knie macht mehr und mehr Beschwerden. Da es immer öfters blockiert, hat mein Sohn schon einige Stürze hinter sich, da er sich gerade auch durch den Schwindel nicht so effektiv abfangen kann, wie es nötig wäre.
Er versuchte mit Hilfe der Arbeitsagentur eine Teilzeitausbildung, was ihm erst viel Auftrieb gab. Dies war – in Absprache mit der Reha-Beraterin vom Arbeitsamt – so gedacht, dass er 20 Stunden die Woche „arbeiten“ sollte: Die Schule besuchen, vier Stunden beim Berufsbildungswerk lernen, was er für die Ausbildung braucht, und zwei Tage Praktikum, insgesamt 20 Stunden/Woche.
Allerdings verlangte der Lehrer beim Berufsbildungswerk mehr, als mein Sohn schaffen konnte. Er versuchte, sein Pensum in seiner Freizeit und am Wochenende zu lernen. Aber das führte vermehrt zu Schmerzen, und er landete schließlich in einem ähnlichen Zustand wie in einem Burnout.
Das Arbeitsamt hatte technische Hilfsmittel zugesagt. Die kamen aber erst nach Monaten. Da war mein Sohn schon fix und fertig. Außerdem hatte er – wahrscheinlich von dem vielen „Nach- unten-Schauen“, was ihm mit seiner kaputten Halswirbelsäule nicht gut tat – zusätzlich noch einen Bandscheibenvorfall an der Brustwirbelsäule erlitten.
Das Arbeitsamt weigerte sich, das Programm so zu ändern, dass das Pensum auf das für meinen Sohn erträgliche Maß sinkt. Seine Schmerzen und die Erschöpfung wurden so schlimm, dass er die Ausbildung schließlich abbrach.
Ich wäre so froh, wenn ihm geholfen werden könnte, auch im Bürokratendschungel, um den hauptsächlich ich mich kümmern muss wegen seiner Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Es gilt, Schreiben mit dem Anwalt, den Versicherungen, dem Arbeitsamt, dem Versorgungsamt, der Krankenkasse, der gesetzlichen Unfallkasse usw. aufzusetzen, zu beantworten, zu widersprechen usw.
Die ganze Familie leidet mit. Durch die ganze Aufregung hatte ich zwei Hörstürze und einen Tinnitus, der wohl bleibend ist. Mein anderer Sohn hat seit letztem Jahr immer wieder Bauchschmerzen und hat deshalb schon viel abgenommen. Das kommt sicher auch mit von der psychischen Belastung.
Es bleibt dabei, dass die Verletzungen meines Sohnes von vielen Ärzten nicht ernst genommen werden und dass auch von der Krankenkasse wichtige Therapien bzw. Untersuchungen nicht übernommen werden. International anerkannte Methoden zur Behandlung von Verletzungen der Halswirbelsäule sind in Deutschland nicht sehr bekannt. Behandlungen im Ausland können wir uns aber leider nicht leisten.
Das Ganze wünsche ich keinem und hoffe darauf, dass es in Deutschland bald bessere und gründlichere Ärzte und Therapieansätze geben wird und dass vor allen Dingen eine kompetente Erstdiagnose durchgeführt wird!
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- Bei der Berufsunfähigkeitsrente geht es meist um sehr viel Geld. Nicht überraschend, dass Versicherer hier genau prüfen. Finanztest sagt, was beim Antrag zu beachten ist.
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- Der Europäische Gerichtshof macht deutschen Gerichten Dampf: Käufer von Autos mit illegaler Motorsteuerung müssen viel häufiger Entschädigung bekommen, urteilte er.
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- Zahlt der Versicherer nicht oder kürzt die Leistung, können Kunden die Schlichtungsstelle einschalten. Rund 50 Prozent der Beschwerden sind erfolgreich.
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