
Ärger um die Abgase. Sie enthalten bei fast allen Autos mit Dieselmotor, die bis einschließlich nach Euro 6b zugelassen worden sind, viel mehr giftiges Stickoxid als erlaubt. © Getty Images / Herbert Kehrer
Autohersteller haben illegal getrickst. Der Bundesgerichtshof entschied: Dafür haften sie – auch ohne Vorsatz. Das Landgericht Frankenthal verurteilte jetzt BMW.
Autohersteller müssen alle Käufer von Autos entschädigen, bei denen die Motorsteuerung die Abgasreinigung häufiger als zulässig verringert oder abschaltet. So hat es der Bundesgerichtshof am 26. Juni 2023 entschieden. Damit müssen die Hersteller Käuferinnen und Käufer zahlreicher weiterer Autos mit Dieselmotoren entschädigen. Sie erhalten 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises zurück. Wie viele Kilometer sie mit dem Auto gefahren sind, spielt keine Rolle, so lange sie den Wagen noch haben und so lange der Wagen nicht inzwischen mehr Kilometer geschafft hat, als Sie als Besitzer beim Kauf des Wagens erwarten konnten.
Autohersteller im „unvermeidbaren Verbotsirrtum“?
Voraussetzung für Schadenersatzforderungen ist allerdings: Die Hersteller befanden sich nicht in einem so genannten „unvermeidbaren Verbotsirrtum“. Wenn sie ihre rechtswidrige Motorsteuerung bei Antrag auf Erteilung der Typgenehmigung für erlaubt halten durften, müssen sie keinen Schadenersatz zahlen. Das ist laut Bundesgerichtshof der Fall, wenn das Kraftfahrtbundesamt die Motorsteuerung in Kenntnis aller Einzelheiten ausdrücklich genehmigt hat oder feststeht, dass es die Motorsteuerung genehmigt hätte. Keine Rolle spielt, ob die Genehmigung rechtmäßig ist oder gewesen wäre. Der Hersteller muss in diesen Fällen keinen Schadenersatz zahlen, auch wenn die Beamten in Flensburg viel großzügiger waren, als es der Europäische Gerichtshof später für angemessen hielt. Insbesondere die von VW nach Bekanntwerden des Abgasskandals im September 2015 auf Geheiß des Kraftfahrtbundesamts neu entwickelten Motorsteuerungen waren rechtswidrig, urteilten die Verwaltungsrichter in Schleswig im März.
Die Rechtsexperten der Stiftung Warentest nahmen direkt nach dem Urteil an: Nur in Einzelfällen werden Autohersteller sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen können, weil bekannt war, dass die Genehmigungen des Kraftfahrtbundesamts am Ende wahrscheinlich als rechtswidrig beurteilt werden könnten. In den jetzt vorliegenden Urteilsbegründungen sagen die Bundesrichter jedoch ausdrücklich: Wenn das Kraftfahrtbundesamt die Motorsteuerung in Kenntnis aller Einzelheiten genehmigt hat oder hätte, durfte sich ein Autohersteller darauf verlassen. Dann muss er keinen Schadenersatz zahlen.
Einschränkung: Meist kannte das Kraftfahrtbundesamt keine Einzelheiten der Motorsteuerung. Oft enthielt der Antrag auf Typgenehmigung nur die Messwerte bei den Prüfstandversuchen zur Ermittlung des Schadstoffausstoßes an. Und: Die Beweislast dafür, dass das Kraftfahrtbundesamt die Motorsteuerung in allen Einzelheiten genehmigt hat oder hätte, trägt der Autohersteller. In wie vielen Fällen einem Hersteller der Beweis gelingt, lässt sich nicht abschätzen.
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@Balou65: Wegen desselben Autos können Skandalautobesitzer nicht erneut Schadenersatz bekommen. Etwaige Forderungen sind schon verjährt. Wahrscheinlich schließt darüber hinaus eine Regelung im Vergleich wie "...zur Abgeltung aller Forderungen..." weitere Forderungen aus. Das gilt, obwohl die von VW neu entwickelte Motorsteuerung ebenfalls rechtswidrig war. Insoweit dürfte nach der Genehmigung dieser Motorsteuerung durch das Kraftfahrtbundesamt ein nach den Kriterien des Bundesgerichtshofs unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliegen.
Hallo,
eine Frage an die Stiftung: Seinerzeit habe ich mich an der VW Musterfestellungsklage beteiligt und auch einen entsprechenden Betrag von VW bekommen. Gibt es jetzt (Bundesgerichtshof, Urteile vom 26.06.2023), eine neue Möglichkeit von VW weiteren Schadensersatz zu erhalten?
schönen abend
@floflo: Wir denken: Der bei Verstoß gegen die EU-Zulassungsregeln ersatzfähige Schaden der Abgasskandalopfer entsteht mit dem Beginn der Nutzung des Wagens, auf die der Vertragsschluss abgezielt, in aller Regel also mit Lieferung. Das kommt der durch die illegale Motorsteuerung vermittelte (theoretische) Mangel an Verfügbarkeit zum Tragen. So haben wir die gestern verkündeten Urteile verstanden. Abzuwarten bleibt, ob die ausführliche Urteilsbegründung noch genauer erkennen lässt, wie der Bundesgerichtshof sich den Abgasskandal 2.0-Schadenersatz genau vorstellt.
Der BGH hat die Frage der Fahrlässigkeit nicht entschieden, sondern lediglich Maßstäbe für die Beurteilung vorgegeben. Welche Folgen das haben wird, wird unterschiedlich gesehen. Für mich ist klar: Es wird immer eine Einzelfallentscheidung bleiben. Die Kläger müssen darlegen und beweisen, dass Abschalteinrichtungen vorhanden sind. Die Autohersteller müssen darlegen und beweisen, welchem Zweck die Abschalteinrichtungen dienten und tatsächlich erfüllten und wie sie sich auf das Schadstoffverhalten auswirken. Handelt es sich danach um Abschalteinrichtungen, die vor der sehr restriktiven Auslegung der maßgeblichen EU-Vorschrift durch den EuGH als zulässig angesehen werden konnten, wird man einen unvermeidbaren Verbotsirrtum annehmen müssen, da man an die Automobilindustrie keine höheren Anforderungen stellen kann als an die Gerichte, die sich nicht in der Lage sahen, die EU-Vorschriften verbindlich auszulegen.
Stiftung_Warentest hat recht. Die zehnjährige Verjährungsfrist endet nicht mit Ablauf des Kalenderjahres sondern genau 10 Jahre nach Entstehen des Anspruchs. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man den Entstehungszeitpunkt im Kauf des Fahrzeugs sehen kann. Zum einen ist ein Fahrzeug beim Neuwagenkauf zum Zeitpunkt des Kaufabschlusses meist noch gar nicht hergestellt, so dass auch kein Schaden entstanden und folglich auch kein Anspruch entstanden sein kann, zum anderen sieht der BGH den Schaden beim bloß fahrlässigen Thermofenster ja gerade nicht in der Eingehung einer Verbindlichkeit - dann hätte es den großen Schadensersatzanspruch bejahen müssen -, sondern in der Gefahr einer Rücknahme oder Aufhebung der Typgenehmigung mit der Folge, dass das Fahrzeug seine Zulassungsfähigkeit verliert. Dann müsste man beim Entstehungszeitpunkt m.E. entweder auf den Tag der Herstellung oder noch eher den Tag der ersten Zulassung abstellen, mit dem das Fahrzeug in den Verkehr gebracht wurde.