Kapital­anleger-Muster­verfahren Prozess um Schaden­ersatz für Wirecard-Anleger beginnt

Kapital­anleger-Muster­verfahren - Prozess um Schaden­ersatz für Wirecard-Anleger beginnt

Gemein­schafts­aktion. Mindestens zehn Kläger muss es für ein Muster­verfahren geben. © Getty Images / The Image Bank RF / Haag & Kropp (M)

Schlampige Wirt­schafts­prüfer, irreführende Werbung: Sind viele Anleger betroffen, können Muster­verfahren Klarheit bringen. Der Wirecard-Prozess hat nun begonnen.

8 500 Wirecard-Anleger wollen Schaden­ersatz*

Am Freitag, 22. November 2024, hat ein spektakuläres Gerichts­verfahren begonnen, das Tausende von Aktionären der Wirecard AG betrifft. In einem Muster­verfahren in München geht es um die Frage, ob Geschäfts­zahlen vorsätzlich falsch veröffent­licht wurden und der Wirt­schafts­prüfer nicht genau genug hingesehen hat. Dann könnte geschädigten Klägern Schaden­ersatz zustehen. Der Zahlungs­dienst­leister und Dax-Konzern Wirecard musste 2020 Insolvenz anmelden, nachdem sich heraus­gestellt hatte, dass ausgewiesene Bank­guthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro nicht existierten.

Bei Wirecard selbst wäre nichts mehr zu holen. Die Wirt­schafts­prüfungs­gesell­schaft EY jedoch hatte die Geschäfts­zahlen bis ins Geschäfts­jahr 2018 durch­gewinkt, also einen uneinge­schränkten Bestätigungs­vermerk gegeben. Die Prüfer hätten bemerken müssen, dass es fast zwei Milliarden Euro aus der Bilanz gar nicht gibt, argumentieren Anleger­anwälte. Die große und finanziell potente interna­tionale Wirt­schafts­prüfungs­gesell­schaft ist die wichtigste Beklagte in dem großen Muster­verfahren nach dem Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG). Es klagen 8 500 Anleger, Privat­investoren ebenso wie Investmentgesell­schaften, auf Schaden­ersatz von 750 Millionen Euro (siehe auch Der Fall Wirecard).* Weitere 19 000 Anleger haben Schaden­ersatz­ansprüche angemeldet.

Einer für alle – das ist die Idee

Ein Massenfall mit vielen Tausend Klägern veranlasste den Gesetz­geber im Jahr 2005, solche Muster­verfahren einzuführen. Das Gesetz sollte es ermöglichen, 12 000 Klagen gegen die Deutsche Telekom zu bündeln und ein schlagkräftiges Instru­ment des kollektiven Rechts­schutzes zu schaffen. Die Idee: Ein Kläger klärt für alle anderen die wichtigsten Sach- und Rechts­fragen vor Gericht. Voraus­setzung: Es gibt mindestens zehn Kapital­anleger mit gleich gelagerten Fällen, die ein solches Verfahren beantragen.

Die geschädigten Telekom-Anleger mussten allerdings mehr als 20 Jahre auf Schadens­ersatz warten. Erst Ende 2021 unterbreitete die Deutsche Telekom ihnen ein akzeptables Vergleichsangebot: Wer Anfang des Jahr­tausends Telekom-Aktien im Vertrauen auf ihren Wert gekauft hatte und dann schwere Kurs­verluste hinnehmen musste, bekam die Differenz zum Einstands­kurs erstattet, nebst üppiger Verzinsung.

Der Musterkläger im Telekom-Verfahren, ein schwäbischer Rentner, erlebte das Urteil allerdings nicht mehr, und auch nicht sein Anwalt. In diesem Punkt herrschte Einig­keit: Solche Verfahren müssen schneller gehen. Das Gesetz wurde daher mehr­fach reformiert, zuletzt im Juli 2024.

Voraus­setzung für Schadens­ersatz: Falsch­informationen

Musterklagen auf Schadens­ersatz sind möglich, wenn ein Kapitalmarktanbieter falsche, irreführende oder unterlassene öffent­liche Informationen zum Wert­papier oder Anla­gepro­dukt macht. Dazu gehören etwa gefälschte Zahlen, ungerecht­fertigte Bestätigungs­vermerke der Prüfer, Fehler im Verkaufs­prospekt eines Fonds oder im „White Paper“ eines Krypto­produkts sowie irreführende Angaben in Werbe­mitteln wie Flyern.

„Kein Klagegrund nach dem KapMuG wären Beratungs­fehler, die mit den Kapitalmarkt­informationen zu einem Produkt nichts zu tun haben. Etwa wenn ein Bank­berater Kick­back-Zahlungen verschwiegen hat“, erläutert Martin Kühler von der Kanzlei Tilp. In diesem Fall müsste der Anleger gegen die Bank vorgehen.

Den Antrag muss ein Anwalt stellen

Liegen mindestens zehn gleich gerichtete Anträge vor, kann beim zuständigen Ober­landes­gericht (OLG) ein Muster­verfahren eröffnet werden. Das OLG formuliert dann auch die Fragen, die geklärt werden sollen. Es bestimmt einen Musterkläger.

Ist dieser bekannt, können weitere Anleger noch inner­halb von sechs Monaten aufspringen und ihre Ansprüche beim Land­gericht (Prozess­gericht) anmelden. Dabei müssen sie sich durch einen Rechts­anwalt vertreten lassen. Auf Kapitalmarkt­recht spezialisierte Kanzleien sind hier die erste Wahl.

Gut für Anleger, die klagen und beim Muster­verfahren mitmachen: Die Verjährung ihrer Ansprüche ruht ab dem Zeit­punkt der Antrag­stellung.

Auf Verjährung achten

Allerdings gilt hier: Bei Wert­papieren sind Ansprüche der Investoren schon drei Jahre ab Kennt­nis der zum Schaden­ersatz führenden Umstände verjährt. Die Frist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem die Forderung entstanden ist.

Die Bilanz­fälschungen bei Wirecard samt den Testaten wurden erst Mitte 2020 bekannt, auch wenn es vorher immer wieder kritische Berichte gab. Ansprüche aus Kurs­verlusten mussten also bis zum 31. Dezember 2023 vor Gericht geltend gemacht sein. Wer sich jetzt noch anschließen will, kommt zu spät.

Klage wegen eines Ratings möglich

Die Klage­möglich­keiten gegen Wirt­schafts­prüfer und Rating­agenturen sind in der neuesten Gesetzes­fassung ausdrück­lich genannt. Ratings und Bestätigungs­vermerke zu Jahres­abschlüssen sind nach der Neufassung als „öffent­liche Kapitalmarkt­informationen“ fest verankert. Auch neue Finanzmarkt­produkte sind ausdrück­lich ins Gesetz aufgenommen. Schließ­lich sind auch Musterklagen wegen Falsch­informationen zu Crowdfunding-Projekten oder Krypto­anlagen als möglich.

Gesetz nennt nun auch Crowdfundings

Das erste Musterverfahren für Crowd-Anleger nach neuem Recht hat der Rechts­anwalt Tobias Piel­sticker von Witt Rechts­anwälte beim Land­gericht Berlin ­beantragt. Weitere Muster­verfahrens­anträge hatte er schon zuvor einge­reicht. Piel­sticker sieht gute Chancen: „Oft sind die Schadensummen gering und recht­liche Schritte sonst unver­hält­nismäßig teuer.“

Rechts­anwalt Lutz Tiedemann von GTG Rechts­anwälte in Hamburg, der auch Crowdfunding-Fälle betreut, befürchtet aber: „Muster­verfahren werden sich nicht für alle recht­lichen Fragen zum Crowdfunding eignen.“ Ohnehin konnten sich schon zuvor Anleger, die in geschlossene Fonds, Deri­vate oder Schuld­verschreibungen investiert haben, über eine Musterklage zusam­menschließen.

Vorlage von Beweis­mitteln verlangen

Neu ist auch: Kläger und Beklagte können verlangen, dass die andere Seite Dokumente und Beweis­mittel vorlegt, wie etwa E-Mail­verkehr oder interne Absprachen (Paragraph 17 KapMuG). Leider haben die Kläger gegen EY im Fall Wirecard diese Möglich­keit nicht. Maßgeblich für diese Klage ist die Vorgänger­version des KapMuG. Es gilt stets die Gesetzes­fassung, die in Kraft war, als die Klage erhoben wurde.

So sollen die Verfahren beschleunigt werden

Strafferer Ablauf. Das jetzt gültige, reformierte KapMuG soll für mehr Tempo im Verfahren sorgen. Das Prozess­gericht, also das zuständige Land­gericht, soll einen Muster­verfahrens­antrag schon nach drei statt zuvor sechs Monaten bekannt machen. Es erstellt auch eine Vorlage mit den Fest­stellungs­zielen. Die kann das Ober­landes­gericht nun neu formulieren und so das Muster­verfahren straffen.

Parallele Verfahren. Um zu verhindern, dass das Verfahren unüber­sicht­lich wird und allzu viele Anwälte mitmischen, soll es künftig möglich sein, dass individuelle Klagen und Muster­verfahren parallel laufen. Bislang wurden alle ähnlich gelagerten Verfahren auto­matisch ausgesetzt, sobald das Muster­verfahren eröffnet war. Kläger haben also die Möglich­keit, auf eigene Faust parallel zu einem Muster­verfahren ihre Ansprüche durch­zusetzen. Sie müssen jetzt eine Aussetzung ihrer eigenen Verfahren und die Teil­nahme am Muster­verfahren ausdrück­lich beantragen („Opt-in“).

Anwälte befürchten uneinheitliche Recht­sprechung

Diese Möglich­keit, neben dem Muster­verfahren auch individuelle Klage­verfahren zu führen, sehen Anwälte beider Seiten allerdings kritisch. „Eine uneinheitliche Recht­sprechung könnte die Folge sein“, fürchtet Anwalt Paul Kintrup von der Kanzlei CMS, die häufig Anbieter von geschlossenen Fonds vertritt. Die Gefahr, dass eine Schar von Vertretern unterschiedlicher Kläger das Verfahren unnötig aufhält, besteht nach seiner Erfahrung kaum.

Auf der Seite der Anleger klingt es ähnlich. Katja Fohrer von der Kanzlei Mattil in München wundert sich: „Ziel war doch eine Entlastung der Gerichte. Nun besteht die Gefahr, dass sich die unterschiedlichsten Richter mit dem gleichen Sach­verhalt befassen müssen.“

Gerichte haben inzwischen mehr Erfahrung

Rechts­anwalt Kühler hält es ohnehin für ausgeschlossen, dass sich Muster­verfahren so in die Länge ziehen wie seiner­zeit im Fall Deutsche Telekom. „Inzwischen sind die Ober­landes­gerichte sehr erfahren“, meint er. Nach rund fünf Jahren könne man bei mittel­großen Verfahren mit einem Spruch rechnen.

Muster­verfahren kostengüns­tiger für Geschädigte

Größter Vorteil einer kollektiven Klage nach dem KapMuG: Die Kosten sind für geschädigte Anleger über­schaubar und deutlich geringer als bei einer individuellen Klage. Der auf Kapitalmarkt­recht spezialisierte Anwalt Wolfgang Schirp verdeutlicht das an einem Beispiel:

Hat eine Investorin im Fall Wirecard 10 000 Euro verloren und verliert ihre individuell einge­reichte Klage, muss sie mit knapp 4 500 Euro Gerichts- und Anwalts­kosten rechnen. Als Teilnehmerin eines Muster­verfahrens nach KapMuG riskiert sie mit 2 180 Euro nicht einmal halb so viel. Geschädigte, die zunächst nur ihre Ansprüche anmelden – ohne zu klagen – bezahlen 608 Euro.

*Korrigiert am 26.11.2024

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