Menschen mit Schwerbehin­derung

„Die Schwerbehin­derung kann kurz vor der Rente aberkannt werden“

Datum:
  • Text: Katharina Henrich, Dr. Bernd Brück­mann
Menschen mit Schwerbehin­derung - Einfach früher in Rente gehen

Daniel Over­diek. Der Sozial­rechts­experte kennt die Probleme von Menschen mit Schwerbehin­derung beim Über­gang in den Ruhe­stand. © Thorsten Jochim

Der gemeinnützige Sozial­verband VdK unterstützt bundes­weit 2,2 Millionen Mitglieder bei sozialrecht­lichen Streitig­keiten. Daniel Over­diek ist Leiter der Rechts­abteilung Bayern beim VdK.

Wir sprechen mit ihm über Besonderheiten, die es für Menschen mit Schwerbehin­derung beim Über­gang in die Alters­rente gibt. Nicht immer laufe dieser reibungs­los ab. Die eigentliche Bewil­ligung der Rente sei dabei aber eher selten das Problem, sagt Over­diek.

Bei welchen Problemen bitten Ihre Mitglieder den VdK oft um Unterstüt­zung?

Die meisten Nach­fragen gibt in den Bereichen Schwerbehindertenrecht und Rentenrecht. Im Rentenrecht kommen häufig Probleme vor, wenn ein Antrag auf Erwerbs­minderungs­rente von der Deutschen Renten­versicherung abge­lehnt wird und wir dann mit Wider­spruch, Klage oder auch Berufung reagieren müssen. Danach folgen oft längere Verwaltungs- und Gerichts­verfahren, in denen die Fälle noch mal genau begut­achtet werden.

Menschen mit Schwerbehin­derung können ihre Alters­rente früher beziehen. Wie sieht es hier aus? Ist die Bewil­ligung der Alters­rente im Vergleich zur Erwerbs­minderungs­rente eher unpro­blematisch?

Ja. Hier kommt es in der Regel nicht bei der Rentenbewil­ligung zu Problemen.

Obwohl die Voraus­setzung für den früheren Renten­start 35 Versicherungs­jahre sind? Das klingt viel, gerade für Menschen, die schwerbehindert sind.

Natürlich ist ein langes Arbeits­leben für schwerbehinderte Menschen eine große Heraus­forderung. Aber zu der Versicherungs­zeit zählt nicht nur reine Arbeits­zeit, es zählen auch Zeiten wie Kinder­erziehung oder bestimmte Schul-, Ausbildungs- und Studien­zeiten oder Zeiten des Krankengeld- oder Arbeits­losengeldbe­zugs. Auch werden viele Beschäftigte erst später im Berufs­leben mit zunehmendem Alter schwerbehindert, zum Beispiel nach einer schweren Erkrankung. Die 35 Jahre zu erreichen ist bei unseren Mitgliedern meist nicht das Haupt­problem.

Sondern?

Sie haben eher Probleme damit, dass Ihnen die Schwerbehin­derung nicht anerkannt oder kurz vor dem gewünschten Renten­beginn aberkannt wird.

Von wem und warum?

Um als schwerbehinderter Mensch früher in Rente gehen zu können, muss ich mindestens einen Grad der Behin­derung von 50 nach­weisen. Dieser GdB, der im Schwerbehinderten­ausweis vermerkt ist, ist aber nicht in Stein gemeißelt. Versorgungs­ämter können ihn unter Nach­prüfungs­vorbehalt fest­legen. Der GdB wird, wenn Aussicht auf Besserung besteht – etwa bei einer Krebs­erkrankung – nach mehreren Jahren neu beur­teilt. Ist er bei der Nach­prüfung nied­riger als 50, kommt die Alters­rente für schwerbehinderte Menschen nicht mehr infrage. Das erschwert Menschen mit Behin­derung die Rentenplanung.

Was raten Sie?

Nerven behalten. So lange kein neuer Bescheid mit nied­rigerem GdB vorliegt, ist alles in Ordnung – selbst dann, wenn die Befristung im Schwerbehinderten­ausweis über­schritten ist. Der kann einfach verlängert werden. Was zählt, ist ein neuer Bescheid.

Und wenn der neue Bescheid mit nied­rigerem GdB doch vor Renten­beginn kommt?

Menschen, die sich nicht in der Lage fühlen, bis zur Regel­alters­grenze zu arbeiten, sollten den neuen Bescheid anfechten. Sie haben nach Zustellung in der Regel einen Monat Zeit, Wider­spruch dagegen einzulegen.

Und wenn der Wider­spruch abge­lehnt wird?

Ein Wider­spruchs­verfahren kann schnell drei bis vier Monate oder länger dauern. Danach kommt unter Umständen noch eine Klage vor dem Sozialge­richt infrage. Bis zur endgültigen Entscheidung können auch Jahre vergehen. Bis dahin ist der neue Bescheid nicht bestands­kräftig. Das heißt, es gilt weiterhin der alte Bescheid mit dem alten GdB.

Man geht also mit dem alten Bescheid in Rente?

Wenn man die Alters­grenze vor Ende des Verfahrens erreicht – ja.

Und wenn am Ende der Prozess verloren geht? Muss der Kläger dann wieder arbeiten?

Nein. Ist man einmal in Rente, bleibt es dabei, auch wenn die Klage nach Renten­eintritt verloren geht.

Aber kann so ein Gerichts­prozess nicht sehr teuer werden?

Bei Verfahren vor dem Sozialge­richt hält sich das Kostenrisiko in Grenzen. Es werden keine Gerichts­gebühren oder Auslagen erhoben. Auch Kosten, die der Behörde während des Prozesses entstehen, muss der Kläger nicht tragen. Ausgaben für ein Gegen­gut­achten, das man selbst bei Gericht beantragt hat, sind dagegen meist nicht erstattungs­fähig. Lässt man sich von einem Sozial­verband vertreten, fallen auch Gebühren an, die von der Gegen­seite nur erstattet werden, wenn der Kläger den Rechts­streit gewinnt. Die halten sich aber in Grenzen.

Nachgewiesen wird die Schwerbehin­derung anhand des Schwerbehinderten­ausweises. Kann ich diesen auch erst gezielt kurz vor der Rente beantragen?

Ja, das kommt immer wieder vor, dauert aber oft seine Zeit. Besser ist es, sobald entsprechende Erkrankungen bestehen, Berichte der behandelnden Ärzte zu sammeln und einen Antrag auf Schwerbehinderten­ausweis beim zuständigen Versorgungs­amt zu stellen.

Muss für den Renten­antrag der Schwerbehinderten­ausweis vorliegen? Oder können Versicherte ihn auch nach­reichen?

Die Alters­rente für schwerbehinderte Menschen kann auch schon beantragt werden, wenn der Schwerbehinderten­status noch nicht vorliegt. Sobald die Entscheidung des Versorgungs­amts getroffen wurde, kann der Schwerbehinderten­ausweis nachgereicht werden. Wichtig ist, dass der Schwerbehinderten­status am Tag des Renten­beginns vorliegt.

Wie lange dauert es, bis das Versorgungs­amt oder die Kommune einen Schwerbehinderten­ausweis ausstellt?

Das kann mehrere Monate dauern, je nachdem, wie viele Erkrankungen vorliegen und wie schnell das jeweilige Versorgungs­amt arbeitet. In Bayern benötigt das dafür zuständige Zentrum Bayern Familie und Soziales im Schnitt rund drei Monate. Darauf kann man sich aber nicht unbe­dingt verlassen, es kann auch länger dauern.

Warum dauert es so lange und was kann ich tun, damit die Bewil­ligung möglichst problemlos abläuft?

Entscheidend sind die Befundbe­richte und Aussagen der behandelnden Ärzte. Es ist wichtig, mit ihnen vorher zu sprechen, damit sie diese auch plausibel formulieren. Versicherte sollten auch darauf achten, alle bestehenden Erkrankungen anzu­geben und sich auch nicht nur auf medizi­nische Aspekte beziehen.

Auch soziale Auswirkungen darlegen, etwa wie stark Schmerzen den Alltag konkret einschränken. Einreichen sollten Versicherte auch andere Unterlagen, die ihre Beein­trächtigungen belegen, wie Reha-Entlassungs­berichte oder Gutachten der Kranken- oder Pflegekassen. Reichen Versicherte bei der Antrag­stellung keine ärzt­lichen Berichte ein, schreibt das Versorgungs­amt die Ärzte, die sie im Schwerbehinderten­antrag angegeben haben, mit konkreten Fragen an. Das kann den Prozess in die Länge ziehen.

Viele Menschen mit Behin­derungen sind mehr­fach beein­trächtigt. Sie leiden etwa unter Herz-Kreis­lauf- und Rücken-Problemen. Worauf müssen sie achten?

Für einen Anspruch auf die Alters­rente für schwerbehinderte Menschen ist ein Grad der Behin­derung von 50 Voraus­setzung. Wichtig ist deshalb immer, dass alle Ärzte und Erkrankungen im Antrag angegeben werden. Liegen mehrere Erkrankungen vor, wird ein sogenannter Gesamt-GdB gebildet, das heißt, die Behin­derungen werden erst einzeln bewertet und anschließend spielt es noch eine Rolle, ob sich die einzelnen Behin­derungen stark oder weniger stark aufeinander auswirken.

Vergibt das Versorgungs­amt dann zwei unterschiedliche GdBs, also Grade der Behin­derung?

Ja. Zum Beispiel GdB 30 für das Rückenleiden und GdB 20 für die Herz-Kreis­lauf-Erkrankung. Die GdBs werden aber nicht einfach addiert, sondern die Bewertung des Gesamt-GdB ist ziemlich kompliziert und für die Betroffenen oft schwer durch­schaubar. Die Versorgungs­ämter gehen vom größten Einzel-GdB aus und schauen dann, ob und wie sich durch die zweite Beein­trächtigung das Ausmaß der Behin­derung vergrößert, also der GdB steigt. Es gibt auch Fälle, in denen es beim größten Einzel-GdB bleibt und die zweite Beein­trächtigung für die Einstufung keine Rolle spielt.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wenn mehrere Sinnes­organe, zum Beispiel Hörsinn und Sehsinn, beein­trächtigt sind, wirkt sich das sehr ungünstig aufeinander aus und die Bewertung des Gesamt-GdB wird tendenziell höher sein als in Fällen, in denen zum Beispiel Herz­kreis­lauf- und Rücken­probleme eher unabhängig neben­einander­stehen.

Das hört sich kompliziert an. Und dann fällt die Rente – weil man ja nicht so lange arbeitet – auch noch nied­riger aus als die Regel­alters­rente. Schreckt das Versicherte nicht ab?

Nein. Unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen mit Schwerbehin­derung den früheren Renten­start gerne in Anspruch nehmen. Aufgrund ihrer Behin­derung fühlen sie sich meist nicht mehr so leistungs­fähig.

Es gibt vielleicht schwerbehinderte Menschen, denen es nach einiger Zeit im Ruhe­stand wieder besser geht. Seit 2023 können Frührentne­rinnen und -rentner so viel verdienen, wie sie möchten, ohne dass dieser Verdienst auf ihre Rente ange­rechnet wird. Gilt das auch für Rentner, die eine vorgezogene Alters­rente für schwerbehinderte Menschen beziehen?

Ja. Die Regelung gilt auch für sie. Sie bleibt für die meisten Menschen mit Schwerbehin­derung aber eher theoretisch. Viele gehen früher in Rente, weil sie tatsäch­lich nicht mehr länger arbeiten können.

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Kommentarliste

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  • Profilbild Stiftung_Warentest am 15.07.2024 um 11:03 Uhr
    Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen

    @Schrenk: Vielen Dank für Ihre Nachfrage, die wir gern als Anregung für eine ergänzende Berichterstattung entgegennehmen. Die rentenrechtlichen Besonderheiten von Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen ihren Lohn beziehen, hat der Artikel nicht berücksichtigt.

  • Schrenk am 14.07.2024 um 07:24 Uhr
    Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen

    Leider haben Sie die Konditionen für eine Rente für Menschen in WfbM vergessen. Sind das die gleichen wie die von Ihnen aufgeführten?
    Vielen Dank für Ihre Antwort

  • Profilbild Stiftung_Warentest am 01.07.2024 um 12:59 Uhr
    Rentenbescheid prüfen

    @alle: Vermuten Sie einen Fehler im Rentenbescheid, dann haben Sie nur einen Monat nach Erhalt des Bescheides Zeit, um einen Widerspruch gegen den Rentenbescheid einzulegen. Dafür genügt ein formloses Schreiben.
    Bei der Überprüfung des Rentenbescheides können Sie sich von Rentenexperten unterstützen lassen. Diese finden Sie über den Bundesverband der Rentenberater oder einen Sozialverband:
    www.rentenberater.de (gegen Honorar)
    www.sovd.org (Mitgliedschaft erforderlich)
    www.vdk.de (Mitgliedschaft erforderlich)

  • RL-Sigi am 29.06.2024 um 17:55 Uhr
    Rentenbeginn 01.03.2019 mit 60% Schwerbehinderung

    Ich bin am 28.02.1957 geboren und am 01.03.2019 startete meine Rente als Schwerbehinderte mit 60%. Mir wurden für 25 Monate Rentenpunkte abgezogen.
    Ich denke, das hier ein Berechnungsfehler vorliegt und man mir zuviel abgezogen hat. Wer kann mir bei diesem Problem helfen?

  • Profilbild Stiftung_Warentest am 27.07.2023 um 11:40 Uhr
    Teilrente

    @Fischiman: Eine Teilaltersrente ist auch mit einer Schwerbehinderung möglich, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Einschränkungen gibt es beim Hinzuverdienst lediglich beim Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Bitte lassen Sie sich vorab bei der Rentenversicherung beraten. www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Muttertexte/service/beratung/beratungsstellen_in_ihrer_naehe.html