
Vergeben ist keine Schwäche - sondern vielmehr eine Kunst. © Getty Images
Nach erlittener Verletzung anderen zu vergeben, fällt nicht jedem leicht. Doch wer auf Dauer nachtragend ist, schadet seiner Gesundheit. Wer dagegen in der Lage ist, anderen zu verzeihen, erleichtert nicht nur die Seele, sondern hilft auch dem Körper. Das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichen Meta-Studie.
Vergeben fällt nicht leicht
Nicht nachtragend sein? Klingt vernünftig, ist aber eine große Herausforderung. Denn es bedeutet, jemandem zu vergeben, der einen vorher gekränkt oder verletzt hat. Das kostet viele Menschen große Überwindung, ist aber nicht nur für den eigenen Seelenfrieden wichtig, sondern auch für die körperliche Gesundheit, wie eine aktuelle Meta-Analyse zeigt.
Vergeben ist eine Herzensangelegenheit
Ein Forscherteam um den Südkoreaner Yu-Rim Lee und den US-Amerikaner Robert Enright hat dafür 128 Studien mit 58 000 Probanden ausgewertet. Es ist die erste derartige Untersuchung, die einen Zusammenhang zwischen der körperlichen Gesundheit und der Fähigkeit zur Vergebung herstellt. Berücksichtigt haben die Forscher Cholesterin, Stresshormone, Bluthochdruck, Autoimmunerkrankungen, Schmerzen und andere Variablen – und schließlich festgestellt: Vergebung und körperliche Gesundheit hängen zusammen. Ihr Fazit:
- Wer nachtragend ist, muss mit gesundheitlichen Folgen rechnen.
- Wer jedoch vergeben kann, lebt gesünder.
- Und wer gesund ist, hat sogar noch mehr Energie, um zu vergeben.
Diese Ergebnisse sind unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand oder Beschäftigungsstatus. Und sie zeigen: Es hilft vor allem einem selbst, anderen zu vergeben.
Vergebung in vier Schritten
Der Psychologe Robert Enright geht von vier Schritten des Vergebens aus:
- Wut aufdecken (herausfinden, wie bisher die Emotionen vermieden wurden).
- Sich zur Vergebung entscheiden (anerkennen, dass Ignorieren oder Bewältigung der Verletzung nicht funktioniert hat).
- Vergeben kultivieren (sich dem Schmerz stellen und Mitgefühl für den Täter entwickeln).
- Negative Gefühle überwinden (loslassen können).
Einen Sonderfall stellen Opfer von sexuellem Missbrauch dar. Für sie ist es laut Enright manchmal besser, wenn sie sich selbst gestatten, dem Täter nicht zu vergeben.
Tiefe Verletzungen aus unterschiedlichen Gründen
Erfahren wir Ungerechtigkeit und lassen zu, dass das Erlebte dauerhaft an uns nagt, gräbt es sich zuerst in unsere Gedanken ein und wandert von dort aus in den Körper. So entstehen buchstäblich: tiefe Verletzungen. Diese können letztlich nicht nur zu Schlafstörungen oder Bruststichen, sondern auch zu Herzproblemen, ja sogar zum plötzlichen Herztod führen. Denn schlechte Gefühle verursachen Stress.
Wie misst man Ungerechtigkeit?
Die Forscher werteten ein breites Spektrum an Studien aus. Als ungerecht galt, was subjektiv als große Ungerechtigkeit empfunden wurde – von der persönlichen Kränkung bis hin zu Reaktionen auf schwere Straftaten. All dies sind Umstände, auf die Menschen mit anhaltend großem Stress reagieren können. Negative Gefühle im Übermaß – wie Wut, Verbitterung, Angst oder Ärger – setzten vermehrt Adrenalin und Cortisol, also Stresshormone, frei. Diese körperlichen Biomarker ermöglichten einen Vergleich. Ergebnis: Sobald die negativen Gefühle durch „Verzeihungsmaßnahmen“ beseitigt wurden, senkte sich etwa das Risiko für Bluthochdruck oder Herzprobleme signifikant.
Die Kunst, zu vergeben
Die Kunst, vergeben zu können, ist es also wert, ernst genommen zu werden. Sie kostet aber Zeit. Und: Niemand sollte sich dazu zwingen. Denn, wer noch nicht soweit ist, gerät unter Stress. Die gute Nachricht ist: Jeder kann diese Kunst mit der Zeit erlernen. Gegebenenfalls mit therapeutischer Hilfe.
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