Allgemeines
Von einem Reizdarmsyndrom (Colon irritable) spricht man, wenn die schmerzhaften Verdauungsbeschwerden ohne erkennbare Ursache länger als drei Monate anhalten und die Lebensqualität beeinträchtigen. Frauen leiden häufiger daran als Männer. Die Beschwerden werden häufig chronisch.
Anzeichen und Beschwerden
Bei jedem Dritten, der an Reizdarmbeschwerden leidet, haben sich vormalige Beschwerden vom Oberbauch in die unteren Abschnitte des Verdauungstrakts verlagert, sodass aus einem Reizmagen ein Reizdarm geworden ist. Dabei kommt es in unregelmäßigen Abständen zu Völlegefühl, Blähungen, Bauchschmerzen sowie Durchfall und Verstopfung, mitunter auch im Wechsel. Häufig kommen mehrere Symptome gleichzeitig vor und bessern sich nach dem Stuhlgang. Oft entsteht aber zudem das Gefühl, den Darm nicht vollständig geleert zu haben.
Die Beschwerden des Reizdarms zeigen sich oft tagsüber (fast nie nachts) und schubweise, vorzugsweise in stressbelasteten Situationen.
Ursachen
Es gibt wohl nicht "die" Ursache für das Beschwerdebild eines Reizdarms. Vielmehr ist davon auszugehen, dass mehrere Faktoren zusammenkommen und dann die unterschiedlichen Symptome auslösen: beispielsweise eine gestörte Beweglichkeit der Darmmuskulatur, die Freisetzung von Botenstoffen, die das Nervensystem des Darms reizen oder hemmen sowie das Immunsystem aktivieren und somit Entzündungen auslösen.
Für den Reizdarm spielt offenbar auch das „Mikrobiom“ des Darms, d. h. die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Darm eine wichtige Rolle.
Häufig werden bestimmte Lebensmittel nicht gut vertragen oder lösen die Beschwerden aus (z. B. coffeinhaltige Getränke, Zwiebelgewächse, Kohl, Milch- oder Fruchtzucker sowie Zuckerersatzstoffe). Auch Alkohol, fettreiche Kost und Bewegungsmangel kommen als Auslöser infrage.
Stresssituationen, seelische Belastungen (Verlustängste, Trauer, unerfüllte Lebenswünsche), ständige Anspannung sowie Konflikte im Privat- oder Berufsleben können die Beschwerden eines Reizdarms verschlimmern.
Allgemeine Maßnahmen
Es gibt keine generellen Empfehlungen zu Ernährungs- oder Lebensstil. Versuchen Sie herauszufinden, welche Ernährungsform und welche Änderungen an Lebensgewohnheiten bei Ihnen persönlich die Symptome bessern.
Ob es eine Ernährungsform gibt, die bei den Beschwerden helfen kann, wird derzeit noch wissenschaftlich geklärt. Dabei werden verschiedene Ernährungsformen, z. B. glutenfreie Diät, Verzicht auf Speisen mit fermentierbaren Kohlenhydraten (FODMAP-arme Diäten) untersucht. Für keine dieser Kostformen ist bislang ein Nutzen zweifelsfrei nachgewiesen. Allerdings konnten Studien zeigen, dass eine FODMAP-arme Diät die Beschwerden bei Reizdarm in ähnlicher Weise lindern kann wie der Verzicht auf blähende oder fetthaltige Speisen. Da bei dieser Diät zahlreiche Lebensmittel vom Speiseplan gestrichen werden, sollte ein Diätversuch nicht über längere Zeit auf eigene Faust erfolgen. Es könnten sonst Mangelerscheinungen auftreten.
Manchmal kann es helfen, ein Tagebuch zu führen, um mögliche Auslöser zu identifizieren.
Entspannungsübungen wie autogenes Training, Yoga, Meditation oder Muskelentspannungstraining nach Jacobson, aber auch sportliche Betätigung wie Schwimmen, Wandern, Skilanglauf können für eine gelassenere Lebenseinstellung sorgen und dazu beitragen, Stresssituationen besser zu bewältigen. Wenn gleichzeitig zum Reizdarmsyndrom eine psychische Begleiterkrankung vermutet wird (z. B. eine Depression oder eine Angststörung), ist auch eine Psychotherapie zu erwägen.
Da Bewegung dem Darm gut tut, kann ein täglicher Spaziergang hilfreich sein.
Kauen Sie die Speisen beim Essen gründlich und lassen Sie sich Zeit für die Mahlzeit. Blähende Lebensmittel wie Kohl und Hülsenfrüchte sollten Sie meiden.
Wenn sich das Reizdarmsyndrom vor allem mit Durchfall oder Blähungen äußert, sollten Sie auf bestimmte Süßstoffe wie Sorbit verzichten. Sorbit ist als Süßungsmittel in verschiedenen Softdrinks, Kaugummi und anderen zuckerfreien Produkten enthalten.
Wenn eine Verstopfung das Hauptproblem ist, können Sie versuchen, ob es Ihnen hilft, wenn Sie mehr Ballaststoffe essen (Vollkornprodukte, Flohsamen). Lösliche Ballaststoffe wie Flohsamen können bei Reizdarmpatienten die Beschwerden besser lindern als unlösliche Quellstoffe wie Kleie. Flohsamen gibt es lose oder als Arzneimittel in Form von wasserlöslichen Granulaten. Es kann auch sinnvoll sein, regelmäßig nicht-wärmebehandelte Sauermilchprodukte mit lebenden Milchsäurebakterien zu essen, um die Darmflora positiv zu beeinflussen.
Manchmal hilft es, über den Tag verteilt mehrere kleine Mahlzeiten zu essen anstelle der üblichen drei großen (Frühstück, Mittag- und Abendessen).
Krampfartige Beschwerden bei einem Reizdarm können Sie zusätzlich mit feucht-warmen Umschlägen lindern.
Bei ausgeprägten Beschwerden oder wenn Medikamente keine ausreichende Linderung verschaffen, kommen auch psychotherapeutische Verfahren infrage. Für eine kognitive Verhaltenstherapie sowie für eine Hypnosebehandlung gibt es Hinweise, dass sie bei Reizdarm den Umgang mit dem Beschwerdebild verbessern können.
Wann zum Arzt?
Wenn Beschwerden wie Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfall oder Verstopfung periodisch immer wiederkehren oder sich über einen längeren Zeitraum hinweg immer mehr verstärken, sollten Sie einen Arzt aufsuchen.
Bei heftigem Durchfall sollten Sie schon nach zwei Tagen zum Arzt gehen, vor allem wenn dieser mit Fieber einhergeht. Auch wenn Blutauflagen auf dem Stuhl erkennbar sind, wenn Sie plötzlich und grundlos stark abnehmen, blass und blutarm sind oder in Ihrer Familie bereits schwere Darmerkrankungen aufgetreten sind, sollten Sie die Beschwerden möglichst bald von einem Arzt abklären lassen.
Behandlung mit Medikamenten
Mit Medikamenten lassen sich nur die Symptome eines Reizdarms lindern, nicht aber seine Ursachen bekämpfen. Abhängig davon, welche Symptome im Vordergrund stehen, kommen daher unterschiedliche Mittel in Frage.
Klinische Studien zeigen, dass sich bei 40 bis 70 Prozent der Betroffenen die Reizdarmbeschwerden auch mit einem Scheinmedikament (Placebo) bessern lassen. Deshalb ist es schwierig, die therapeutische Wirksamkeit eines Arzneimittels für diese Indikation stichhaltig nachzuweisen. Oft kommen Medikamente zum Einsatz, bei denen die Zulassung für die Behandlung eines Reizdarms fehlt. Wenn sich die Beschwerden damit nicht innerhalb von sechs bis acht Wochen deutlich bessern, sollten Sie die Behandlung abbrechen.
Rezeptfreie Mittel
Die Behandlung mit Medikamenten orientiert sich vorwiegend an den individuellen Beschwerden. Wenn Durchfall im Vordergrund steht, kann Loperamid – kurzfristig angewendet – die Darmbewegungen hemmen und somit die Stuhlfrequenz reduzieren. Auch Flohsamen können hilfreich sein, da sie viel Wasser binden. Ist eher Verstopfung das Problem, können Abführmittel wie Macrogol oder nicht blähende Quellmittel wie Flohsamen eingesetzt werden.
Butylscopolamin (Buscopan) kann die Darmmuskulatur entspannen. Daher kommt es häufig auch bei Reizdarmbeschwerden zum Einsatz. Das Mittel gilt als mit Einschränkung geeignet. Die bisher vorliegenden Daten zeigen, dass krampflösende Mittel im Allgemeinen bei Reizdarm nützen. Auch für Butylscopolamin geben einige Studien Hinweise, dass Beschwerden gelindert werden können. Ob dies auch für Schmerzen gilt, ist dagegen unklar. Weitere Studien sollten die therapeutische Wirksamkeit dieser Substanz – auch zu den langfristigen Effekten – noch besser belegen.
Pfefferminzöl wird in magensaftresistenten Kapseln zur Behandlung von Reizdarmbeschwerden angeboten. Das pflanzliche Öl wirkt entspannend auf die glatte Muskulatur und soll dadurch im Magen-Darm-Trakt Krämpfe lösen und Schmerzen lindern. Auch Gärprozesse im Darm sollen verhindert werden. Dies wirkt Blähungen entgegen. Es liegen einige Studien mit diesen Mitteln vor, nicht alle kommen zu einem eindeutig positiven Ergebnis. In Übersichten aller Untersuchungsdaten von Pfefferminzölkapseln bei Reizdarm lässt sich aber erkennen, dass sie kurzzeitig Schmerzen und das Gesamtbild der Erkrankung bessern können. Ob dies aber auch für eine wiederholte oder langfristige Behandlung zutrifft, wie sie bei Reizdarm oft erforderlich ist, ist nicht ausreichend untersucht. Die Mittel werden daher als mit Einschränkung geeignet bewertet.
Zur Behandlung von Reizdarmbeschwerden wird auch eine Vielzahl von sogenannten Probiotika angeboten. Das sind Mittel mit unterschiedlichen Bakterienstämmen. Sie werden in der Hoffnung gegeben, dass sie die Darmflora bei Patienten mit Reizdarm unterstützen können und sich damit Stuhlunregelmäßigkeiten oder andere Reizdarmbeschwerden verbessern. Da ganz unterschiedliche Bakterienstämme angeboten werden und unklar ist, ob und in welchem Ausmaß diese auf das komplexe Verdauungsgeschehen im Darm Einfluss nehmen, muss jeder einzelne Bakterienstamm seine Wirksamkeit durch Studien nachweisen.
Für den hitzeinaktivierten Bifidobakterienstamm HI-MIMBb75 (Kijimea Reizdarm PRO) liegt bislang eine qualitativ hochwertige Studie an 400 Personen vor. Im Vergleich zu einem Scheinmedikament gehen bei einigen Menschen die Reizdarmbeschwerden zurück, dass das für die Betroffenen auch eine bedeutsame Besserung darstellt, bleibt aufgrund dieser Einzelstudie aber unsicher. Kijimea Reizdarm PRO ist daher bei Reizdarmbeschwerden mit Einschränkung geeignet. Andere unabhängige Studien sollten seine therapeutische Wirksamkeit noch weiter bestätigen.
Für ein Präparat mit lebensfähigen Escherichia coli-Bakterien fehlen ausreichende Belege, dass Reizdarmbeschwerden damit spürbar verbessert werden können. Das Mittel ist daher wenig geeignet. Auch für ein Mittel mit einem anderen lebensfähigen Bifidobakterienstamm MIMBb75 liegt nur eine Studie vor, in der das Mittel wenigen Patienten kurzzeitig verabreicht wurde. Es bleiben methodische und inhaltliche Fragen offen, die therapeutische Wirksamkeit des Mittels mit MiMBb75 ist daher nicht ausreichend nachgewiesen.
Heilerde (Löss), die als Medizinprodukt zur unterstützenden Behandlung von Reizdarmbeschwerden zugelassen ist, wird ein hohes Bindungsvermögen für Flüssigkeiten und schädliche Substanzen zugeschrieben. Sie soll dadurch die Beschwerden des Reizdarms verbessern. Dass dies tatsächlich gelingt, ist aber nicht ausreichend nachgewiesen. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass Arzneimittel, die gleichzeitig eingenommen werden, nicht mehr in ausreichender Menge in den Körper gelangen. Dies könnte negative gesundheitliche Auswirkungen haben. Mittel mit Heilerde zur Reizdarmbehandlung gelten als wenig geeignet.
Mit dem altbekannten Iberogast (Classic) und dem erst seit 2020 verfügbaren Iberogast Advance werden zwei pflanzliche Kombinationspräparate zur Behandlung von Reizdarmbeschwerden angeboten. Beide werden als wenig geeignet bewertet: die Kombinationen sind nicht sinnvoll zusammengesetzt und bei Iberogast (Classic) besteht das zusätzliche Risiko, dass das enthaltene Schöllkraut – für dessen Notwendigkeit in der festgelegten Kombination kein Beleg vorhanden ist - die Leberfunktion beeinträchtigen kann.
Daneben werden zahlreiche Kombinationsmittel angeboten, die nicht als Arzneimittel, sondern als Medizinprodukte in arzneimitteltypischer Form im Handel sind. Der Unterschied zu den Arzneimitteln besteht in erster Linie darin, dass die Mittel rein physikalisch wirken sollen. Mit dieser Festlegung ist es möglich, solche Mittel auf einem anderen – im Vergleich zu Arzneimitteln erleichterten – Weg in den Markt einzuführen. Für die Zulassung eines Medizinproduktes genügt eine Darstellung der Wirkweise der einzelnen Inhaltstoffe zusammen mit einer plausiblen Begründung für deren Verwendung in der beanspruchten Anwendungsweise sowie einer Einschätzung zu den damit verbundenen Risiken. Der Hersteller ist nicht verpflichtet, eigene hochwertige klinische Studien, wie sie für zugelassene Arzneimittel in der Regel erforderlich sind, vorzulegen. Genaues zu diesem Thema lesen Sie unter: Medizinprodukte sind keine Arzneimittel. Wenn die von uns geforderten klinischen Untersuchungen fehlen, gilt die therapeutische Wirksamkeit der Produkte als nicht ausreichend nachgewiesen. Das ist besonders häufig der Fall, wenn verschiedene Wirkstoffe miteinander kombiniert werden. Kombinationspräparate aus verschiedenen Pflanzenextrakten mit und ohne Beimischung von Heilerde oder Simeticon (wie Doppelherz aktiv bei Reizdarm oder Liadin) sowie eine Kombination aus Bentonit und Simeticon ) sind daher zur Behandlung von Reizdarmbeschwerden wenig geeignet. *
Rezeptpflichtige Mittel
Überwiegen bei Patienten mit Reizdarm krampfartige Beschwerden, werden häufig krampflösende Mittel verordnet. Neben dem rezeptfrei erhältlichen Butylscopolamin zählt auch der verschreibungspflichtige Wirkstoff Mebeverin dazu. Jedoch ist für dieses Mittel die therapeutische Wirksamkeit in klinischen Studien nicht ausreichend nachgewiesen. Es ist deshalb zur Behandlung eines Reizdarms wenig geeignet.
Wenn sowohl Mittel gegen Verstopfung als auch Abführmittel, entkrampfende Mittel oder ein Probiotikum nicht ausreichend helfen oder nicht eingenommen werden können, kann auch ein Therapieversuch mit einem Antidepressivum unternommen werden – insbesondere wenn neben den Darmbeschwerden noch eine depressive Stimmungslage oder Ängste vorliegen. Klinische Studien mit einer geringen Anzahl an Teilnehmern haben eine Beschwerdebesserung bei Patienten mit Reizdarmsyndrom feststellen können. Als Medikamente wurden dabei trizyklische Antidepressiva und Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) wie Citalopram eingesetzt. Die Untersuchungen sind aber nur bedingt aussagekräftig. Ob Antidepressiva tatsächlich bei einem Reizdarm wirken, ist daher bislang umstritten. Wenn solche Medikamente eingesetzt werden, sollten bei der Auswahl des passenden Wirkstoffs die jeweiligen Nebenwirkungen beachtet werden.