
Herd aus oder nicht? Zwänge beeinträchtigen den Alltag sehr. © allesalltag
Den Herd prüfen. Die Hände waschen. Und das stundenlang. Eine Zwangserkrankung lähmt. Aber es gibt wirksame Therapien. Je früher sie greifen, umso besser. Mit unserem Selbsttest können Sie herausfinden, ob Sie betroffen sind.
Wenn aus einem natürlichen Bedürfnis Zwang wird
Habe ich den Herd ausgeschaltet? Ist die Tür ins Schloss gefallen? Sind meine Hände wirklich sauber? Bei solchen Gedanken erwischt sich jeder mal. Die meisten prüfen den Herd dann ein zweites Mal, zuppeln am Türknauf, waschen sich die Hände. Doch was, wenn jemand zehnmal abschließt, minutenlang prüft, zigfach Hände schrubbt – das Gefühl der Unsicherheit aber bleibt? Wenn man den Zwang verspürt, noch mal nachzusehen, zu schließen, die Hände zu waschen? Und noch mal und noch mal ...?
Drei Prozent der Bevölkerung haben eine Zwangsstörung
Wie viel Kontrolle ist noch in Ordnung, wie viel ist zu viel? Hinweise darauf gibt der Selbsttest (siehe Foto unten). Etwa drei Prozent der Bundesbürger leiden an einer Zwangsstörung. Sie haben den Drang, Sachen auf ihre Sicherheit zu überprüfen, besonders reinlich zu sein, Dinge übergenau zu sortieren oder zu sammeln. Meist steckt dahinter der Gedanke, ihnen oder ihren Liebsten könnte Schlimmes geschehen, wenn sie es nicht tun.
Der Wahrnehmung nicht trauen
Selbst nach ihrem penibel eingehaltenen Ritual legt sich die Sorge meist nicht. Die Betroffenen müssen immer und immer neu kontrollieren, reinigen, sortieren – und erlangen doch oft kein Gefühl der Sicherheit. Sie trauen ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Können sie dem Drang nicht nachgeben oder versuchen sie, ihn zu unterbinden, erleben sie eine unerträglich große Anspannung, sind extrem unruhig.
Mit den Jahren schlimmer
Ohne Behandlung verlaufen Zwangsstörungen chronisch, werden mit den Jahren schlimmer. Die Ursachen sind noch nicht gänzlich geklärt. Forscher gehen davon aus, dass Betroffene eine genetische Veranlagung haben. Großer Stress kann ein Auslöser der Handlungen sein. Bei vielen fängt es mit einer scheinbar harmlosen Eigenheit an. Mit der Zeit kommen mehr Zwänge hinzu, werden die Befürchtungen unerträglicher; vermeintlich schützende Prozeduren dauern immer länger.
Zwangshandlungen bestimmen den Alltag
Mitunter verbringen Betroffene drei, vier oder mehr Stunden damit, Herd, Fenster, Türen, irgendwann auch Heizkörper und Lichtschalter zu prüfen, bevor sie aus dem Haus gehen können. Die Zwangshandlungen greifen so viel Raum, dass der Alltag stark beeinträchtigt wird.
Oft bleiben Zwangsstörungen unbehandelt
Nicht selten leidet irgendwann die ganze Familie unter dem Zwang. „Partner müssen bei den Kontrollen von Herd, Fenster, Tür mithelfen, Kinder sich nach Betreten der Wohnung entkleiden und einer langwierigen Waschprozedur unterziehen“, berichtet Katarina Stengler, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios-Parkklinikum Leipzig. Und doch blieben Zwangsstörungen zumeist lange Zeit unbehandelt.
Meist schon früh erste Anzeichen
Im Schnitt dauere es sieben bis zehn Jahre, bis Betroffene in Therapie kommen, mahnte kürzlich auch eine 25-köpfige internationale Expertengruppe in einem Fachartikel: so lange wie bei kaum einer anderen psychiatrischen Erkrankung. Eine dauerhaft unerkannte Erkrankung könne umso größeren Schaden im Leben der Betroffenen anrichten. Die Expertengruppe fordert mehr Früherkennung und vorbeugende Maßnahmen: So setzten erste Anzeichen bei vielen schon in Kindheit oder Jugend ein, bei Frauen vor allem während der Schwangerschaft oder nach einer Geburt.
Ärzte besser schulen
Deshalb seien Schulungen von Kinder- und Hausärzten sowie Gynäkologen sinnvoll. Zudem sollten sie ihre Patienten öfter vorsorglich befragen. Erhärtet sich in solchen Screenings ein Verdacht, könnten Psychotherapeuten frühzeitig mit Gesprächen, Übungen und Beratung helfen.
Viele erkennen ihre Krankheit nicht

Sind die Hände wirklich sauber? Waschzwang ist eine Spielart der Erkrankung, aber gut behandelbar. © Getty Images; Vario Images
Es braucht auch mehr Aufklärung in der Bevölkerung, meint Georg Juckel, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin am LWL-Universitätsklinikum Bochum. In einer Untersuchung mit 42 Erkrankten stellte er fest: Die Hälfte hatte über Jahre keine professionelle Hilfe in Anspruch genommen, weil sie nicht dachten, krank zu sein. Oder weil sie davon ausgingen, dass die Probleme sich von allein bessern würden. „Die Betroffenen erkennen oft, dass etwas nicht stimmt, aber sie erkennen nicht, dass es sich um eine Erkrankung handelt“, sagt Juckel.
Oft mündet die Belastung in einer Depression
Viele verheimlichen ihre Leiden. Manche verschweigen sie gar gegenüber Psychologen und Psychiatern, bei denen sie Hilfe suchen. Die Scham, darüber zu sprechen, ist oft zu groß, ebenso die Angst, für verrückt gehalten zu werden. Sie berichten in der Sprechstunde von „großer Anspannung“ oder „Schwermut“. Etwa 50 Prozent der Zwangserkrankten entwickeln mit den Jahren durch die Belastung eine Depression. Die wird dann behandelt. Das eigentliche Problem bleibt verborgen.
Angehörige banalisieren Symptome
Auch Angehörige, die die Zwangshandlungen miterleben, können zum Bagatellisieren neigen. „ ‚So einen Tick hat doch jeder. Du bist eben genau. Deine Mutter ist auch so penibel.‘ Das sind Sätze, die oft in Familien fallen und die Zwangssymptome banalisieren“, sagt Psychiaterin Stengler. Sie rät, lieber einmal zu oft einen Verdacht untersuchen zu lassen, als abzuwarten.
Viele profitieren von der Therapie
Der Gang zum Arzt oder Psychologen lohnt sich. Zwangserkrankungen sind gut behandelbar. „Bis zu drei Viertel aller Patienten profitieren von einer leitliniengerechten Behandlung“, betont Stengler. Dazu zähle zuallererst Psychotherapie, speziell die kognitive Verhaltenstherapie. Darin lernen Patienten, sich ihren Ängsten zu stellen, die Gefühle von Unsicherheit auszuhalten und wieder Kontrolle über ihre Handlungen zu erlangen. Menschen mit Waschzwang etwa berühren Klinken in öffentlichen Gebäuden, ohne anschließend eine Stunde lang die Hände zu reinigen. Sie lernen, dass ihre Befürchtungen nicht Realität werden.
Psychopharmaka allein helfen nicht
Unterstützend können Ärzte ein Antidepressivum verordnen. Es sollte aber nicht das einzige Hilfsmittel sein – ohne Psychotherapie kehren nach dem Absetzen die Zwangssymptome oft wieder. Die Leipziger Psychiaterin Stengler rät Betroffenen, sich mit ihrem Problem an einen Profi ihres Vertrauens zu wenden, das könne auch der Hautarzt oder die vertraute Gynäkologin sein. „Ein Zwang wird nicht von allein besser. Aber selbst wer erst nach Jahren eine Therapie beginnt, kann Erfolge verzeichnen“, sagt sie. Nicht jeder lebe nach der Behandlung ganz ohne Symptome, aber die meisten lernten, sie zu beherrschen.
Tipp: An vielen Unikliniken gibt es Spezialambulanzen. Krankenkassen bezahlen die Behandlung, auch beim Psychotherapeuten oder Psychiater. Weitere Informationen erhalten Sie unter zwaenge.de.
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