
Kein Land spielt erfolgreicher Fußball als Brasilien – auch wenn es dieser Tage anders aussah. Fünfmal Weltmeister, das hat keiner sonst geschafft. Trotzdem: Die Brasilianer sind untröstlich. Nun unken auch schon Analysten, dass sich das Scheitern der Seleção im Halbfinale negativ auf die Wirtschaft auswirken könnte. Und das, wo es ohnehin schon abwärts geht. test.de zeigt jeden Tag einen WM-Teilnehmer von seiner wirtschaftlichen Seite.
Brasilien in Zahlen*
- Einwohner: 203 Millionen
- Hauptstadt: Brasilia
- Währung: brasilianischer Real, 1 Euro = 3,02 Reais (Stand 8. Juli 2014)
Böses Erwachen
Der Traum vom sechsten Weltmeistertitel hat die soziale Misere im Land kurzzeitig vergessen lassen. Nach Angaben der brasilianischen Tageszeitung La Folha de São Paulo hat die Regierung für die WM elf Milliarden US-Dollar ausgegeben, „in einem Land, in dem 7,2 Millionen Menschen mit 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen – oder weniger“. Mehr als eine Million Menschen hatten im Vorfeld der WM gegen die horrenden Ausgaben sowie die grassierende Korruption protestiert. Jetzt, nach dem bösen Erwachen, treten die Missstände deutlicher zutage als zuvor. Nicht nur die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind ein Problem – es hapert auch an der Infrastruktur. Die Schulen sind in schlechtem Zustand, öffentliche Verkehrsmittel teuer, die Straßen in den großen Städten verstopft, Überlandstraßen desolat. Anfang Juli ist eine noch in Bau befindliche Brücke in Belo Horizonte eingestürzt, die zum WM-Beginn eigentlich hätte fertig sein sollen.
Ausblick verdüstert sich
Zurzeit ist Brasilien nach Angaben des World Factbook (CIA) die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt (Stand 2013), kurz hinter Russland und dicht gefolgt von Großbritannien. Die hohen Wachstumsraten in den Nullerjahren wurden durch die Finanzkrise unterbrochen, doch die Wirtschaft erholte sich schnell. 2010 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder um 7,5 Prozent. 2011 waren es allerdings nur noch 2,7 Prozent plus, und ein weiteres Jahr später gerade mal 0,9 Prozent. Für dieses Jahr haben Experten ihre Prognosen bereits gesenkt: 1,5 oder sogar bloß 1 Prozent Wachstum sehen sie voraus. Die Boomjahre fußten unter anderem auf dem Rohstoffhunger der Welt. Brasilien ist reich an Bodenschätzen, unter anderem Bauxit, Gold, Nickel und seltene Erden. Auch landwirtschaftliche Erzeugnisse sind Exportschlager, allen voran Fleisch, Zucker und Getreideprodukte. Nach Deutschland exportiert das Land laut Auswärtigem Amt hauptsächlich Eisenerz, Soja, Kaffee, Kupfer, Rohöl – und Zivilflugzeuge, hergestellt von der Firma Embraer. Treibstoff für die brasilianische Konjunktur war außerdem der inländische Konsum, doch diese Quelle könnte jetzt versiegen. Das fürchtet zumindest die Großbank UBS, die annimmt, dass die Brasilianer nach dem K.O. endgültig in Niedergeschlagenheit versinken. Nicht nur die Wirtschaft kaputt, der Fußball jetzt auch.
Krise als Chance
Andere sehen in der fußballerischen Schmach die Chance auf wirtschaftlichen Aufschwung. Die glücklose Präsidentin Dilma Rousseff steht im Herbst zur Wiederwahl. Trotz zahlreicher Ausgaben und Steuererleichterungen waren ihre Umfragewerte in den vergangenen Monaten spürbar gesunken. „Bis Oktober wird es Rousseff nicht gelingen, das Ruder in der Wirtschaft herumzureißen“, analysiert Marten-Jan Bakkum von ING Investment Management. „Ihre Hoffnungen auf eine Wiederwahl stützen sich vor allem darauf, dass ihr die niedrigsten Einkommensschichten die Treue halten - und darauf, dass die Fußballweltmeisterschaft günstig verläuft.“ Ein Wahlsieg der Opposition hingegen „wäre eine gute Nachricht für das potenzielle BIP-Wachstum und die Unternehmensgewinne“.
Verhalten optimistisch
Von Mitte 2002 bis Mitte 2008 ist der brasilianische Leitindex Bovespa von rund 10 000 Punkten auf rund 73 500 Punkte gestiegen. Infolge der Finanzkrise stürzte er auf 30 000 Punkte ab, kletterte aber schnell wieder über die 70 000er-Marke. Seit etwas mehr als drei Jahren geht es mit größeren Schwankungen tendenziell abwärts. Zuletzt stand der Index bei rund 53 500 Punkten. Am Tag nach der Niederlage stiegen die an der New Yorker Börse notierten brasilianischen Aktienzertifikate leicht an. Offenbar waren die Investoren, die auf einen Regierungswechsel spekulieren, in der Mehrheit. Die brasilianische Börse selbst war wegen eines Feiertags in São Paulo geschlossen.
Banken, Öl und Eisenerz
Hiesige Anleger, die die trübe Stimmung nicht schreckt, können zum Beispiel über gemanagte Aktienfonds in den brasilianischen Markt einsteigen. Die Finanztest-Bestbewertung von fünf Punkten haben der HSBC GIF Brazil Equity und BNY Mellon Brazil Equity. Außerdem haben Anleger die Möglichkeit, mit einem börsengehandelten Indexfonds (ETF), auf den Aktienindex MSCI Brazil zu setzen. Sie gibt es zum Beispiel von iShares und db x-trackers. Im Index ist die Finanzbranche mit den Instituten Itaú Unibanco, Banco Bradesco und Itaúsa am stärksten vertreten. Sie kommt auf einen Anteil von rund 30 Prozent. Der Energieriese Petrobras bringt es auf ein Gewicht von rund 12 Prozent, der Bergbaukonzern Vale auf etwa 9 Prozent.
Des Fußballs wahre Größe
Ob es eine Beziehung zwischen Fußball und Wirtschaft gibt, darüber streiten dieser Tage die Experten. Die einen meinen, nein – wie zum Beispiel Brasiliens Präsidialamtsminister Gilberto Carvalho: Jetzt seien alle traurig, sagt er, aber im August sehe die Sache wieder anders aus. Andere meinen, ja, wie zum Beispiel Mohamed A. El-Erian, der frühere Chef der Fondsgesellschaft Pimco, der sich bei Bloomberg äußert: „Brasilien wird der Welt zeigen, wie der Sport sowohl das nationale Befinden als auch die Politik und die Märkte beeinflussen kann.“ Und die Zeitung La Folha schreibt: Die Fußballleidenschaft wird den Alptraum des 1:7 überwinden, „aber vielleicht ist es das Ende einer Ära, in der das Land und seine Stadien, die Menschen und die Fans, die Politiker und die Trainer, die Nation und die Nationalmannschaft als ein und dasselbe angesehen wurden.“
* Quellen: The World Factbook, Thomson Reuters