
Chemie versus Natur. In Obst sind Vitamine natürlich, in Pillen fast nie. © Stiftung Warentest, iStockphoto (M)
Eine Extraportion Vitamine kann schaden, wenn sie aus Kapseln oder Tabletten kommt. Unsere Stichprobe zeigt: So manches Mittel ist enorm hoch dosiert.
Groß ist die Zahl der Menschen, die Packungsangaben genau lesen, weil sie Lebensmittel ohne „künstliche“ Zutaten bevorzugen. Zusatzstoffe sind vielen suspekt. Es sei denn, der Hersteller wirbt mit Vitaminen. Die verleihen sogar gezuckerten Bonbons einen gesunden Anstrich, obwohl die Extraportion Vitamine üblicherweise aus chemischer oder biotechnologischer Produktion stammt, genau wie die in Pillen, Kapseln, Dragees.
Etwa 30 Prozent der Deutschen schlucken Vitaminpräparate und andere Nahrungsergänzungsmittel, ergab 2016 eine Umfrage der Verbraucherzentralen. Ohne Zweifel war die Erfindung der Vitamintablette ein Segen für die Menschheit. In bestimmten Lebenssituationen und bei verschiedenen Krankheiten sind die Mittel hilfreich oder gar medizinisch geboten.
Unterschätzte Nebenwirkungen
Wie bei fast allem gibt es ein Zuviel des Guten. Bei mehreren der Nährstoffe kann eine Überdosis Nebenwirkungen haben oder gar krank machen. Das gilt vor allem für die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K, die sich im Körper anreichern können.
Viele frei verkaufte Vitaminpräparate sind laut Deklaration höher dosiert, als das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt. Das zeigt ein Markt-Check der Stiftung Warentest in Apotheken, Drogerien, Reformhäusern, Supermärkten und bei Amazon: Von 35 Mitteln, die wir im Juli 2017 exemplarisch einkauften, überschreiten 26 die laut BfR sicheren Höchstmengen für Nahrungsergänzungsmittel je Tagesdosis. 10 liegen sogar drastisch darüber (Vitamin A, Vitamin C, Vitamin D, Vitamin E, Vitamin K und Vitamin B-Komplex. Besonders hoch dosiert sind einige der Präparate, die wir im Internet erstanden. Bei zwei von ihnen etwa liefern die Kapseln mehr als das 17-Fache der BfR-Empfehlung zu Vitamin E. Teils noch höher dosiert sind fünf Arzneien, die wir in Drogerien und Reformhäusern kauften. Für sie gelten die Höchstwerte des BfR zwar nicht, aber sie stehen im Regal ganz legal neben Nahrungsergänzungsmitteln und können deshalb leicht mit ihnen verwechselt werden.
Mittel nur wenig kontrolliert
Der Handel mit Nahrungsergänzungsmitteln ist viel weniger reguliert als der mit Arzneimitteln, auch wenn sie sich äußerlich sehr ähneln. Nahrungsergänzungsmittel werden nicht behördlich auf Basis von Studien zugelassen und nur stichprobenartig von Landesbehörden geprüft. „Kontrolllücken gibt es vor allem bei Produkten, die im Netz vertrieben werden und oft aus dem Ausland stammen“, sagt Christa Bergmann. Sie leitet den Bereich Lebensmittel der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt und ist einer der Köpfe hinter dem Internetportal klartext-nahrungsergaenzung.de.
Bisher begrenzt hierzulande kein Gesetz die Vitamindosis in Nahrungsergänzungsmitteln. „Eine Regelung auf EU-Ebene steht seit 15 Jahren aus und ist nicht in Sicht; hier muss endlich der deutsche Gesetzgeber tätig werden“, fordert Bergmann. Denn Vitamine gelangten nicht nur per Pille in den Körper, sondern auch übers Essen, diverse Lebensmittel seien obendrein mit Vitaminen angereichert. „Da kann sich ganz schön was anhäufen.“ Zumal viele sorglos zugriffen, weil ihnen nicht klar sei, dass Vitaminpräparate auch schaden können.

Vitaminzusätze geben Lebensmitteln ein gesundes Image. Das nutzen viele Hersteller, sogar für Süßigkeiten. Knapp 22 Milligramm Vitamin E enthält allein die abgebildete Mahlzeit mit vier künstlich angereicherten Produkten. Damit liegt sie bereits etwa 50 Prozent über dem Tagesbedarf eines Erwachsenen. © Stiftung Warentest

Verführung für einen Milliardenmarkt
Die Industrie befeuert das gute Image von Vitaminen nach Kräften – mit Botschaften von Angst und Hoffnung. Teils geht sie verdeckt vor, wenn beispielsweise firmennahe Arbeitskreise oder Websites behaupten, in Europa herrsche ein Vitalstoffmangel. Ganz offen verführen Hersteller auf den Packungen, etwa wenn dort steht: „Vitamine des B-Komplexes tragen maßgeblich zum geistigen und körperlichen Wohlbefinden bei.“ Oder: Vitamin D sei „ein wahres Multitalent für die Gesundheit“.
Am Vitamin D lässt sich studieren, wie das Geschäft funktioniert. Helmut Heseker, Professor für Ernährungswissenschaft an der Uni Paderborn, nennt den Nährstoff den aktuellen „Leuchtturm“ der Industrie. Nach einem „altbekannten Muster beim Marketing“ würden Ängste vor Mangel geschürt und umgekehrt Wunderwirkungen des Vitamins herausgestellt, sagt das Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), etwa gegen Krebs, Diabetes, Depressionen. „Als Beleg dienen oft kleine Studien – bis dann große und aussagekräftige Ernüchterung bringen.“
Die vorhandenen Übersichtsanalysen von Studien sprechen dafür, dass Vitamin D kein Supernährstoff ist. Unbestritten sind seine günstigen Effekte für die Knochen und zur Vorbeugung gegen Stürze. Doch was den Nutzen von künstlich zugeführtem Vitamin D bei weiteren Krankheiten betrifft, fehlen überzeugende Belege.
Eher Schlechtes durch A, C, E
Sogar verheerend sieht die Bilanz für die antioxidativen Vitamine A, C und E aus. Lange hieß es, sie schützten vor Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil sie aggressive Sauerstoffmoleküle, freie Radikale, unschädlich machen. Ein wissenschaftlicher Paukenschlag war 1994 die erste große Studie, die den Effekt an 29 133 finnischen Rauchern überprüfte: Von den Teilnehmern, die Mittel mit Betakarotin genommen hatten, einer Vorstufe von Vitamin A, erkrankten 18 Prozent mehr an Lungenkrebs als in der Kontrollgruppe.
Weitere Studien stützen die Skepsis gegenüber Anitoxidantien. Das unabhängige Wissenschaftlernetzwerk Cochrane Collaboration kommt in seiner zuletzt 2012 aktualisierten Auswertung zu dem Schluss, dass Vitamin-C-Präparate keinen gesundheitlichen Nutzen haben. Mittel mit Betakarotin, Vitamin A und E können die Lebenserwartung sogar verkürzen. „Offenbar“, sagt Ernährungsforscher Heseker, „üben freie Radikale auch positive Signalwirkungen im Körper aus. Wird all das massiv ausgebremst, ist das ungünstig.“
Vitaminpillen für alle sind also keine gute Idee. Wer sich vielseitig ernährt, bekommt alles, was er braucht. Und mit Obst und Gemüse, Vollkornprodukten, Speiseöl, Fisch und Fleisch kann sich niemand an Vitaminen überdosieren. Die meisten Menschen im Lande sind mit den meisten Vitaminen gut versorgt. Das zeigt die Nationale Verzehrsstudie.
Ausnahmen für Babys und Frauen
Die Bevölkerungsgruppen, denen DGE und ärztliche Fachgesellschaften routinemäßig Vitaminpräparate empfehlen, sind schnell aufgezählt: Neugeborene sollten Vitamin K bekommen und Babys im ersten Lebensjahr Vitamin D. Frauen, die schwanger werden möchten oder sind, sollten Folsäure zuführen. „Mehr allgemeine Empfehlungen gibt es nicht“, sagt Heseker.
Ferner könnten Präparate individuell nötig sein, etwa für Senioren mit wenig Sonnenkontakt oder Menschen, die sich vegan ernähren. Auch wer an bestimmten Krankheiten oder gestörter Verdauung leidet, brauche vielleicht eine künstliche Zufuhr. Das solle aber ein Arzt abklären, empfiehlt Heseker. „Von einer Eigentherapie ohne festgestellten Mangel und ohne regelmäßige Kontrolle der Blutwerte raten wir ab.“
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test? fehlanzeige!
Ich war auf der Suche nach Empfehlungen, welche Präparate empfehlenswert sind. Leider besteht der Artikel nur aus allgemeinen Aussagen, die jeder, der sich im Thema befindet, schon kennt. 50 Cent, die ich mir lieber gespart hätte.
Selbst für 50 Cent ist dieses Test-Geschwafel eine Frechheit und Geldabzocke!
Für mich ist Stiftung Warentest abgehakt! Ein richtiger Luschenverein!
@helenhiegi: Unter dem Suchbegriff „Juice Plus“ finden Sie auf unserer Internetseite einen Schnelltest aus dem Jahr 2009. Außerdem finden Sie Hinweise, speziell zu Gemüse- und Obstextrakten von Juice Plus, auf der Website der Verbraucherzentralen unter:
www.klartext-nahrungsergaenzung.de/faq/projekt-klartext-nem/gemuese-und-obstextrakte-von-juice-plus-23563
Bitte wenden Sie sich wegen Ihres individuellen Bedarfs an Vitaminen und Mineralstoffen auch direkt an Ihren betreuenden Gynäkologen. (cr/bp)
Ich hätte hier gerne etwas über Juce Plus erfahren. Da diese Pillen gerade extrem über Facebook und Insta gram vertrieben werden. Ich wurde auch angeschrieben und da ich gerade Schwanger bin, hörten sich die Versprechungen dieser Produkte sehr gut an. Ich finde aber immer widersprüchlichere Artikel über die viel zu hoch dosierten Nahrungsergänzungsmittel. Ich befürchte fast, meinen Zwillingen zu schaden.
Ich versprach mir von diesem Artikel eine Aufklärung, da Juce Plus schon seit ca. 28 Jahren vertrieben wird. Echt schade.
LG H. H.