
Oberlandesgericht München: Hier haben Richter gerade ein Urteil gefällt, das sich als Meilenstein in der Aufarbeitung des Abgasskandals erweisen könnte.
Peinliche Panne für den VW-Konzern in einem Rechtsstreit um einen Skandaldiesel: Ein Händler lässt sich einen Vergleich im Berufungsverfahren viel Geld kosten und dann entscheidet das Oberlandesgericht München doch noch: Autos mit Motoren, die im Betrieb mehr Schadstoffe ausstoßen als auf dem Prüfstand, sind mangelhaft. Der Käufer kann zurücktreten. Der Händler muss den Kaufpreis abzüglich Nutzungsentschädigung erstatten. test.de erklärt den Hintergrund.
Abgasreinigung nur im Prüfstand
Im September 2015 gab VW zu: Bei rund 2,5 Millionen Dieselfahrzeugen in Deutschland funktioniert die Abgasreinigung nur im Prüfstand korrekt. Sobald das Auto sich im Straßenverkehr in Bewegung setzt, schaltet die Motorsteuerung die Abgasreinigung ab (alle Details in unseren umfangreichen FAQ Abgas-Skandal).
Tausende Rechtsstreitigkeiten
Tausende Skandal-Autobesitzer sind bereits vor Gericht gezogen, Zehntausende haben Rechtsanwälte oder Inkassofirmen wie my-right.de oder stichtingvolkswagencarclaim.com eingeschaltet, um Sachmangelhaftung oder Schadenersatz durchzusetzen. Einer der ersten Kläger war ein Mann, der im April 2015 bei einem Händler im Bezirk des Landgerichts Traunstein in Bayern einen VW Golf Blue Motion mit 1.6-Liter-TDI-Motor gebraucht gekauft hatte. Er hatte dem Händler nach Bekanntwerden des Skandals im September 2015 einige Wochen Zeit gegeben, den Wagen in Ordnung zu bringen und war dann im Dezember 2015 vom Kaufvertrag zurückgetreten. Als der Händler sich weigerte, den Wagen gegen Erstattung des Kaufpreises zurückzunehmen, zog er vor Gericht. In erster Instanz blitzte er ab: Die Frist für die Nachbesserung sei viel zu kurz gewesen, urteilte das Landgericht Traunstein im Oktober 2016; mindestens bis Dezember 2016 hat VW Zeit, den Wagen des Klägers nachzurüsten.
Viel Geld für den Kläger
Der Kläger legte über seine Anwältin Theresia Pösl Berufung ein. Nun kam Bewegung in die Sache: Der Händler machte dem VW-Kunden ein großzügiges Angebot: Gegen Rückgabe des Wagens werde er den Kaufpreis abzüglich 2 000 Euro Nutzungsentschädigung erstatten. Das ist mehr, als der Mann für den Wagen, der bereits mehr als 80 000 Kilometer auf dem Buckel hatte, überhaupt gefordert hatte. Offenbar wollten Händler und VW ein verbraucherfreundliches Urteil des Oberlandesgerichts München verhindern. Der VW-Kunde nahm das Angebot an. „Vergleich“ nennen Juristen eine solche Einigung im Gerichtsverfahren.
Wohl Pflicht zur Verschwiegenheit
Soweit so gut. Und wohl auch kein Einzelfall: Im Zuge der VW-Affäre haben verschiedene Oberlandesgerichte bereits Verhandlungstermine mit dem Hinweis auf außergerichtliche Einigungen kurzfristig abgesagt. Zu solchen „Deals“ gehört regelmäßig, dass Kläger und Anwalt sich zum Stillschweigen verpflichten. VW-Händler und Volkswagen-Konzern lassen es sich offenbar viel Geld kosten, Urteile zu verhindern, die ihnen schaden könnten. Ein verbraucherfreundliches Oberlandesgerichtsurteil hat nämlich Signalwirkung. Die in erster Instanz zuständige Landgerichte orientieren sich in der Regel an den Vorgaben der Oberlandesrichter, die in zweiter Instanz ohnehin zuständig sind. Ob der Vergleich vor dem Oberlandesgericht München eine solche Klausel wirklich enthält, ist unklar, aber sehr wahrscheinlich. Jedenfalls haben weder Rechtsanwältin Pösl noch ihr Mandant unsere Fragen zum Verfahren beantwortet.
Richter machen Deal öffentlich
Trotzdem wurde der Deal öffentlich bekannt. Fataler Fehler der Anwälte des VW-Händlers: Sie erklärten das Verfahren vor dem Oberlandesgericht München genau wie der Kläger für erledigt, statt eine Rücknahme der Klage auszuhandeln. Die Folge: Das Gericht entscheidet in einem solchen Fall doch noch – zwar nur noch über die Kosten des Verfahrens, aber die hängen davon ab, wie das Verfahren ohne die Einigung der Parteien vermutlich ausgegangen wäre. Das Oberlandesgericht München nutzt die Gelegenheit und äußert sich deutlich: „Zum einen hat der Senat keinen Zweifel daran, dass ein „Blue-Motion“-Golf, der (...) auf dem Rollenprüfstand einen (...) niedrigeren Schadstoffausstoß generiert als er im Echtbetrieb zu erwarten wäre, mangelhaft (...) ist. Dies gilt (...) einfach deshalb, weil das Kraftfahrtbundesamt (...) prüfen muss, ob eine Entziehung der Betriebserlaubnis geboten ist, wenn der Hersteller innerhalb einer angemessenen Frist nicht für Abhilfe sorgt“, heißt es im Beschluss des Gerichts wörtlich.
Klare Ansagen von Bayern.Recht
Die Bayern.Recht-Redaktion der Staatskanzlei in München setzt noch einen drauf: „Ein „Blue-Motion“-Golf, der mit einer Software ausgestattet ist, die ausschließlich auf dem Rollenprüfstand einen (...) niedrigeren Schadstoffausstoß generiert als er im Echtbetrieb zu erwarten wäre, ist – schon aufgrund der drohenden Entziehung der Betriebserlaubnis durch das Kraftfahrtbundesamt – mangelhaft (...)“, textet sie als Leitsatz zu der Entscheidung und formuliert damit noch etwas deutlicher als das Gericht. Die Kosten des Verfahrens muss der Händler zahlen, nachdem der Wagen auch im März 2017 noch nicht nachgerüstet war. Doch das ist wohl das kleinste Übel für VW und Händler.
Streit um Bewertung des Urteils
VW selbst hält die Gerichtsentscheidung nicht für verallgemeinerungsfähig. „Es spricht einiges dafür, dass das Oberlandesgericht München bei seiner Ermessensentscheidung einen wesentlichen Gesichtspunkt des zugrunde liegenden Sachverhalts übersehen haben könnte“, kommentierte ein Sprecher des Konzerns die Entscheidung auf Anfrage von test.de. Ganz anders ordnen Verbraucheranwälte den Beschluss des Oberlandesgerichts München ein. „Die Entscheidung des OLG München ist ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Abgasskandals. Diesmal ist die Taktik der Volkswagen AG, obergerichtliche Entscheidungen zu verhindern, grandios gescheitert“, sagt Christof Lehnen, Rechtsanwalt aus Trier. Besondere Sprengkraft habe eine Randnotiz, wonach sich der Händler „das Verhalten des Herstellers zurechnen lassen muss“. Wenn sich diese Auffassung durchsetzt, so Lehnen, könnten Besitzer von Skandalautos selbst dann noch mit guter Aussicht auf Erfolg klagen, wenn sie den Wagen bereits 2009 gekauft haben.
Oberlandesgericht München, Beschluss vom 23.03.2017
Aktenzeichen: 3 U 4316/16
Klägervertreter: Mertl Pösl Rechtsanwälte, Rosenheim