Tausende VW-Aktionäre können bis September 2017 Geld für erlittene Kursverluste zurückfordern. Ihr finanzielles Risiko ist begrenzt. Bestätigt sich der Verdacht, dass VW zu spät an die Öffentlichkeit gegangen ist und Regeln verletzt hat, können Anleger Schadenersatz verlangen. Darüber entscheiden Gerichte.
VW-Aktie verlor dramatisch an Wert
Anleger mit VW-Aktien mussten im Herbst 2015 über Nacht immense Kursverluste hinnehmen. Der Autobauer räumte auf Druck US-amerikanischer Behörden ein, Dieselfahrzeuge über Jahre so manipuliert zu haben, dass sie auf dem Prüfstand die vorgegebenen Schadstoffwerte einhalten, auf der Straße jedoch weit mehr ausstoßen als erlaubt. Der Kurs der Aktien fiel ins Bodenlose. Die VW-Vorzugsaktien verloren binnen weniger Tage bis zu 40 Prozent ihres Kurswerts.
Tipp: Über die aktuellsten Entwicklungen in Sachen „Dieselgate“ informieren wir Sie laufend in unseren FAQ zum VW-Abgasskandal.
Das Zauberwort heißt Kursdifferenzschaden
VW-Aktionäre haben gute Aussichten auf Schadenersatz für Kursverluste, den Kursdifferenzschaden. Denn der Autokonzern hatte es versäumt, seine Aktionäre rechtzeitig über die Ermittlungen von US-Behörden gegen VW wegen Tricksereien bei der Abgasreinigung von Fahrzeugen mit bestimmten Dieselmotoren zu informieren. Laut Gesetz müssen Aktiengesellschaften ihre Anteilseigner über derart kursrelevante Ereignisse unverzüglich informieren. Bestätigt sich der Verdacht, dass VW zu spät an die Öffentlichkeit gegangen ist und Regeln verletzt hat, können Anleger Schadenersatz fordern. Das entscheiden Gerichte.
So berechnen Aktionäre den Schaden
Der Aktionär kann zwei Arten von Schäden geltend machen, die sich in der Schadenhöhe unterscheiden. Die einfachere Variante für den Anleger ist, den Kursdifferenzschaden für jede von ihm am 20. September 2015 gehaltene VW-Aktie einzufordern. Diesen gewährt das Gesetz dem Anleger unabhängig von der tatsächlichen Schadenhöhe und unabhängig davon, ob der Anleger die Papiere nach dem 20. September verkauft hat oder in seinem Depot hält. Pro VW-Vorzugsaktie liegt dieser Schaden bei rund 60 Euro und pro Stammaktie – mit Rede- und Stimmrecht auf der jährlichen Hauptversammlung – bei rund 56 Euro. Die genaue Schadenhöhe wird das Oberlandesgericht Braunschweig in einem Kapital-Musterverfahren klären.
So viel kostet das Musterverfahren
So viel zahlen Anleger mit VW-Vorzugsaktien für die Beteiligung am Musterverfahren.
Anzahl der VW-Aktien1 |
Schaden bis ...2 (Euro) |
Kosten (Euro) |
8 |
500 |
69 |
16 |
1 000 |
118 |
33 |
2 000 |
211 |
50 |
3 000 |
269 |
66 |
4 000 |
327 |
83 |
5 000 |
385 |
100 |
6 000 |
443 |
116 |
7 000 |
501 |
133 |
8 000 |
559 |
150 |
9 000 |
617 |
166 |
10 000 |
676 |
- 1
- VW-Vorzugsaktien, die am 20. September 2015 im Depot des Anlegers lagen. Die Mehrwertsteuer ist in den Kosten enthalten.
- 2
- Annahme: 60 Euro Schaden pro VW-Vorzugsaktie.
Wer kann Schadenersatz fordern?
Mario Poberzin, Rechtsanwalt von der Berliner Kanzlei für Bank- und Kapitalmarktrecht, Kälberer und Tittel, sagt: „Schadenersatz kann jeder fordern, der zum Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntgabe der Abgasmanipulationen am 20. September 2015 Vorzugs- oder Stammaktien von VW besaß.“
Was kann geltend gemacht werden?
Statt des Kursdifferenzschadens kann der Aktionär aber auch den tatsächlich Verlust geltend machen. Das ist der Verlust gegenüber dem Kurs, zu dem er vor dem 20. September 2015 gekauft hat. Dieser Erwerbsschaden ist oft höher als der Kursdifferenzschaden. „Kompliziert ist, dass der Anleger den Beweis erbringen muss, dass er bei rechtzeitiger Mitteilung durch die Volkswagen AG die Aktien gar nicht erst gekauft und damit keinen Schaden erlitten hätte“, sagt Rechtsanwalt Poberzin. Ob Aktionäre den Erwerbsschaden wirklich durchsetzen können, entscheiden Richter im Einzelfall nach Ende des Musterverfahrens.
Gericht eröffnet Musterverfahren
Damit nicht jeder Anleger alleine klagen muss, hat das Oberlandesgericht Braunschweig am 8. März 2017 ein Kapital-Musterverfahren eröffnet. Musterkläger ist die Sparkassen-Tochter Deka Investment. Sie steht exemplarisch für derzeit 1 502 Anlegerklagen, die insgesamt einen Schaden von knapp 2 Milliarden Euro reklamieren. Weitere Klagen werden folgen. Die Interessen der Kläger werden im Musterverfahren zusammengefasst. Geht das Verfahren zugunsten der Anleger aus, erhalten sie den Kursdifferenzschaden nahezu automatisch ersetzt.
Wann musste VW die Öffentlichkeit informieren?
Die Richter klären wesentliche Rechtsfragen im VW-Fall, etwa, zu welchem Zeitpunkt VW verpflichtet war, die Öffentlichkeit zu informieren: Bereits als die ersten systematischen Manipulationen bekannt wurden? Oder erst ab dem Augenblick, als die US-Behörden nachforschten?
Anleger können sich beteiligen
Jeder durch den Skandal geschädigte Anleger, der noch keine Klage eingereicht hat, kann sich beteiligen. Für die Anmeldung zum Verfahren läuft die Frist am 8. September 2017 ab. Bis dahin sollten Anleger ihre Ansprüche durch einen Anwalt schriftlich beim Gericht anmelden. Der Charme des Musterverfahrens: Es ist viel günstiger als eine Klage.
Beispiel Klage. Ein Anleger hat 83 VW-Vorzugsaktien im Depot. Sein Kursdifferenzschaden beträgt rund 60 Euro pro Aktie. Zusammen ergibt das einen Schaden von etwa 5 000 Euro. Eine Klage kostet den Anleger 925 Euro Vorschuss für den Anwalt und 440 Euro Gerichtsgebühren. Zusammen sind das 1 365 Euro. Unterliegt der Anleger wider Erwarten vor Gericht, zahlt er auch die Kosten für den gegnerischen Anwalt. Das sind noch einmal rund 925 Euro. Das Kostenrisiko einer Klage beträgt damit insgesamt 2 290 Euro. Handelt es sich um mehr Aktien, dann steigt der Streitwert und die Gebühren erhöhen sich.
Beispiel Musterverfahren. Für die Anmeldung zum Musterverfahren zahlt der VW-Anleger mit seinen 83 Vorzugsaktien und einem Schaden von rund 5 000 Euro nur 385 Euro (siehe Tabelle). Weitere Risiken im Fall des Unterliegens bestehen nicht. Verliert er vor Gericht, käme er 1 905 Euro billiger weg als mit der Klage. In der Tabelle haben wir die jeweiligen Kosten für die Beteiligung des Aktionärs aufgeführt, gestaffelt nach der Anzahl seiner VW-Vorzüge.
Wann verjähren die Ansprüche der Anleger?
Anleger, die sich am Musterverfahren beteiligen wollen, können allerdings nicht sicher sein, ob ihre Forderung nicht schon verjährt ist. Für unseren Beispielkläger bedeutet das, er könnte seine 385 Euro in den Wind geschossen haben. Denn, wann die Ansprüche der Anleger verjähren, ist umstritten. Viele Juristen sind der Meinung: Die Schadenersatzforderungen der Aktionäre verjähren zum Ende des Jahres 2018. So steht es im Wertpapierhandelsgesetz, das im Juli 2015 geändert wurde.
Vermutlich wird der Bundesgerichtshof entscheiden müssen
Mit der Änderung hat der Gesetzgeber die Verjährungsfristen von einem Jahr ab Kenntnis der Unterlassung von Informationspflichten auf drei Jahre zum Ende des Kalenderjahres verlängert. Ob nun im Fall des VW-Dieselskandals für Aktionäre, die vor dem 10. Juli 2015 die Aktien erworben haben, die alte oder die neue Frist gilt, wird wohl der Bundesgerichtshof entscheiden müssen.
Was müssen Anleger tun, die bereits Klage eingereicht haben?
Aktionäre, die bereits Klage eingereicht und so dem Verjährungsrisiko vorgebeugt haben, brauchen einstweilen nichts zu unternehmen. Ihre Verfahren gehen weiter, wenn das Musterverfahren geklärt ist.
Diese Meldung ist erstmals am 3. November 2015 auf test.de erschienen. Wir haben sie seitdem mehrfach aktualisiert, zuletzt am 16. Mai 2017. Ältere Nutzerkommentare beziehen sich auf frühere Fassungen des Artikels.
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- Autohersteller haben illegal getrickst. Der EuGH urteilte verbraucherfreundlich. Jetzt ist der Bundesgerichtshof dran. Der verhandelte stundenlang und urteilt im Juni.
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- Umweltschützer erzwingen Fahrverbote für Dieselautos. Die Luft soll dadurch sauberer werden. Aktuell: In München gilt jetzt ein Fahrverbot, in Berlin nicht mehr.
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- Der Rechtsdienstleister Myright.de will europäischen Käufern von VW-Skandalautos zu Schadenersatz verhelfen. Myright.de hat wegen der Forderungen von 40 000...
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@martinw: Nach den uns bisher vorliegenden Informationen sind Fondsgesellschaften nicht verpflichtet, eine Aktionärsklage zu erheben. Sie haben einen Ermessensspielraum, was die Entscheidung für oder gegen eine Klage angeht. Von geplanten Sammelklagen gegen Fondsgesellschaften in dieser Sache ist uns nichts bekannt. Wenn Sie wissen möchten, wozu sich Ihr Fondsmanagement entschieden hat, bitten wir Sie, sich selbst an die Fondsgesellschaft zu wenden. (maa)
Ich besitze (nicht zuletzt auf Anraten von Finanztest) mehrere Fonds und ETFs u.a. auf den DAX. Somit besitze ich mittelbar auch VW-Aktien.
Woher weiß ich (Informationspflicht?), ob die Fondsgesellschafft Forderungen an VW gestellt bzw. Klage eingereicht hat? Nach meinem Vetständnis müsste sie dies tun, allein schon weil sie dem sorgsamen (d.h. Reditevermehrenden) Umgang mit den Anlegergeldern verpflichtet ist. Kann ich ggf. gegen eine Fondsgesellschaft klagen (gibt es eine Sammelklage?), die das nicht tut?
@kaefer71: Sollte das Musterverfahren den Verdacht bestätigen, dass VW die Aktionäre zu spät über drohende Strafzahlungen in den USA informiert hat, dann kommt ein Verstoß des Konzerns gegen die gesetzliche Informationspflicht nach Paragraph 15 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) in Betracht. Aktionären steht gemäß § 37b WpHG dann ein Schadenersatzanspruch zu, wenn Volkswagen „Insiderinformationen“ nicht unverzüglich veröffentlicht hat. Im Musterverfahren soll nun geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt VW verpflichtet war, die Öffentlichkeit zu informieren. (maa)
Auf welche gesetzliche Regelung stützen Sie Ihre Ansicht, dass Schadenersatz kann jeder fordern, der zum Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntgabe der Abgasmanipulationen am 20. September 2015 Vorzugs- oder Stammaktien von VW besaß.“
Aus dem WPhG lese ich das nicht so: siehe Paragraph 37b
(1) Unterlässt es der Emittent von Finanzinstrumenten, die zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen sind, unverzüglich eine Insiderinformation zu veröffentlichen, die ihn unmittelbar betrifft, ist er einem Dritten zum Ersatz des durch die Unterlassung entstandenen Schadens verpflichtet, wenn der Dritte
1.die Finanzinstrumente nach der Unterlassung erwirbt und er bei Bekanntwerden der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente.
die Finanzinstrumente nach der Unterlassung erwirbt und er bei Bekanntwerden der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente ist oder
2.
die Finanzinstrumente vor dem Entstehen der Insiderinformation erwirbt und nach der Unterlassung veräuße
Ich verstehe die Klage nicht ganz - als Aktionär gehört mir doch das Unternehmen.
Wenn also "die Aktionäre" von "dem Unternehmen" für irgendwas entschädigt werden, dann kommt diese Entschädigung doch aus dem eigenen Unternehmen, und das ist dann hinterher weniger wert, und die eigenen Aktien genauso. Ein Nullsummenspiel?