Es klingelt, pfeift, saust: Plötzlich auftretende Geräusche im Ohr sollten zeitnah behandelt werden. Andernfalls werden sie zum steten Begleiter – oft lebenslang.

Es pfeift im Ohr. Er wartete zu lange, bevor er zum Arzt ging: Seit 17 Jahren lebt Reinhard Heise mit Tinnitus.
Es ist 17 Jahre her, als es im Leben von Reinhard Heise drunter und drüber ging. Er arbeitete täglich mehr als 13 Stunden, steckte mitten in seiner Scheidung und hatte auch noch einen Auffahrunfall mit dem Auto. Inzwischen ist sein Alltag wieder ruhiger geworden. Die Folgen dieser turbulenten Zeit prägen das Leben des 66-Jährigen aber bis heute: Ein Pfeifton in seinem Ohr ist seit jenen Tagen sein ständiger Begleiter. Heise hat einen Tinnitus.
Jeder vierte Deutsche hatte schon mal ein solches Fiepen oder Klingeln im Ohr. Bei den meisten Patienten verschwinden die Geräusche nach kurzer Zeit wieder. Rund 250 000 Menschen müssen allerdings damit leben, dass der Ton, den nur sie selbst wahrnehmen können, bleibt. Wie Heise hören sie tagaus, tagein ohne Pause ein Geräusch, das es gar nicht gibt. Manche gewöhnen sich daran. Andere hingegen leiden massiv. Besonders tragisch: Etlichen Betroffenen könnte dieses Schicksal erspart bleiben, denn wird Tinnitus früh behandelt, lässt er sich meist beheben.
Das Gehirn füllt die Stille aus
Tinnitus ist keine Erkrankung. Grundsätzlich hat jeder Mensch eine Neigung zu Ohrgeräuschen. Nach wenigen Minuten in absoluter Stille saust, piept oder klingelt es in 90 Prozent aller Gehörgänge. Dabei produziert nicht das Sinnesorgan selbst die Geräusche, sondern das Gehirn. Es versucht die Lautlosigkeit zu füllen. Das ist normal.
Besondere Ruhe, aber auch übermäßiger Lärm führen mitunter zu einem (vorübergehenden) Tinnitus. Nach einem Diskothekenbesuch oder einem lauten Konzert fiept und pfeift es oft im Gehör. Auch Silvesterknaller oder der Krach bei einem Autounfall hinterlassen häufig einen schrillen Piepton im Ohr. Ebenso können eine Mittelohrentzündung oder andere Infektionen die Sinneszellen schädigen und den Dauerton auslösen. Durch den Lärm oder die Erkrankung haben die feinen Sinneshärchen im Ohr einen Schaden erlitten. Die Folge: Im Gehör kommen nicht mehr alle Töne von außen an. Das Gehirn versucht den akustischen Mangel mit eigenen Geräuschen auszugleichen – wie in der absoluten Stille. Der Tinnitus ist also ein Symptom für andere Beschwerden.
Zeitnah zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt
In den meisten Fällen regenerieren sich die Hörsinneszellen nach einiger Zeit wieder und der lästige Ton verschwindet. „Hält das Ohrengeräusch – etwa nach einem lauten Knall – länger als zwei Tage an, sollten Betroffene sofort zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen und sich auf einen Tinnitus untersuchen lassen“, rät Gerhard Goebel, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO). Der Mediziner hat sich auf Ohrengeräusche spezialisiert und weiß: Wer Tinnitus früh genug behandeln lässt, wird ihn höchstwahrscheinlich wieder los (siehe Wann Sie zum Arzt müssen). Wer indes zu lange wartet, riskiert, mit dem Fiepen leben zu müssen.
Chronischer Tinnitus ist nicht heilbar

Die Stille ist laut. Das Pfeifen in Heises Ohr wirkt besonders störend, wenn es still ist. Deshalb hört er zuhause meist Musik oder lässt den Fernseher laufen.
Ob der lästige Ton wieder verschwindet, hängt auch davon ab, wie Betroffene mit dem Ton im Ohr umgehen. Wer den Tinnitus als besonders störend und beängstigend empfindet, dessen Gehirn interpretiert das Fiepen als Alarmsignal und ordnet an, noch genauer hinzuhören. Das Geräusch wirkt dadurch lauter und bedrohlicher. Ein Teufelskreis setzt ein, den es möglichst schnell zu unterbrechen gilt.
Tönt es erst seit drei bis sechs Tagen im Ohr, geben Mediziner heutzutage Kortison gegen den inneren Lärm. Was dies genau im Körper bewirkt, ist noch unklar. Doch nach zehn Tagen sind bei den meisten Patienten die Beschwerden weg.
Wenn die Depression folgt
Hält ein Tinnitus länger als sechs Monate an, gilt er als chronisch. Medikamente bringen dann nur noch sehr selten Linderung. Das musste auch Reinhard Heise erfahren. Erst nach einem Jahr mit dem Pfeifen im Ohr wandte er sich an einen Arzt. Der konnte jedoch nicht mehr viel helfen. „Das war für mich der schlimmste Moment. Zu hören: ,Da kann man nichts machen‘ “, sagt er. Stattdessen musste Heise nun lernen, mit dem Ton zu leben.
Eine umfangreiche Beratung durch den HNO-Arzt, die Behandlung des Hörschadens oder Psychotherapie sind bei einem chronischen Tinnitus die einzigen Möglichkeiten, die Wahrnehmung des Geräusches zu vermindern. Für viele ist das eine große Belastung. „Etwa 10 bis 20 Prozent der Betroffenen leiden massiv darunter“, sagt HNO-Experte Gerhard Goebel. Er hat jahrelang in der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee Tinnitus-Patienten behandelt. „Ich habe das Ausmaß der Qual gesehen: Menschen mit Depressionen, Angsterkrankungen und körperlichen Beschwerden, die vom Tinnitus herrührten“, sagt Professor Goebel, der sich im Vorstand der Deutschen Tinnitus-Liga engagiert.
Der Tinnitus wird nie zum Freund
Auch Reinhard Heise hat der Dauerton im Ohr belastet. Wie viele Betroffene hielt ihn das Pfeifen zunächst vom Schlafen ab, ließ ihn lange Zeit auf den Besuch von Konzerten oder Gaststätten verzichten – die Geräuschkulisse dort verstärkte seine Beschwerden. Noch heute fällt es ihm schwer, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren. Inzwischen aber hat er seinen Weg gefunden, mit dem ständigen Begleiter zurechtzukommen.
Wichtig waren insbesondere die Beratung und Aufklärung durch seinen Arzt. Zu wissen, was in seinem Kopf vorgeht, wie der Tinnitus entsteht, habe ihm sehr geholfen, sich an die Situation zu gewöhnen, erzählt Heise. „Der Tinnitus wird nie dein Freund sein“, sagt er heute. „Der ist wie ein lästiger Untermieter, den man nicht rausklagen kann.“ Aber er habe gelernt, sich mit ihm zu arrangieren.
Spezielle Therapie kann helfen
Aufklärung und Beratung zählen stets zu den wichtigsten Elementen bei der Behandlung eines chronischen Tinnitus. „Die psychologischen Ansätze sind bislang das einzige, was in diesen Fällen nachweisbar wirkt“, betont Goebel. In der Tinnitus-Retraining-Therapie etwa (siehe Tinnitus-Retraining-Therapie) lernen die Patienten, ihre Aufmerksamkeit nicht mehr allein auf die unangenehmen Ohrengeräusche zu richten, sondern sich verstärkt auf die schönen Klänge in der Umgebung zu konzentrieren. „Wenn auf einer Langspielplatte ein Kratzer ist und ich immer genau hinhöre, wenn die Platte springt, nervt mich das. Ich könnte auch den Kratzer einfach ignorieren und ihn irgendwann nicht mehr wahrnehmen“, erklärt Tinnitus-Experte Goebel. Ziel dieses Trainings ist es, den Tinnitus nicht mehr als Feind, sondern als Begleiter zu sehen.
Oft helfen Hörgeräte
Neun von zehn Tinnitus-Patienten sind schwerhörig. Ihnen kann oft schon mit einem gewöhnlichen Hörgerät geholfen werden. Vogelgezwitscher im Park oder Musik nehmen sie so wieder deutlicher wahr. Das Ohrengeräusch selbst tritt in den Hintergrund. Auch Heise würde gern auf diese Weise sein Hörproblem beheben. Seine Defizite liegen jedoch in einem Frequenzbereich, für den es keine Hörgeräte gibt.
Tinnitus-Patienten ohne Hörschäden kann zeitweise ein sogenanntes Rauschgerät helfen. Es wird wie ein Hörgerät ins Ohr eingesetzt und spielt einen angenehmen Rauschton ab. Der Tinnitus soll dadurch leiser erscheinen. Vor allem in stressigen Lebensphasen oder bei geräuschintensiven Veranstaltungen, etwa bei großen Feierlichkeiten, nutzen manche solch ein Gerät.
Psychologische Kniffe helfen
Erstaunlich: Tatsächlich ist der Tinnitus nie lauter als knirschender Schnee unterm Schuh – das sind nur etwa 20 Dezibel. Und er hat immer die gleiche Lautstärke. Stress, zu genaues Hinhören und eine starke Abneigung gegen den Ton lassen ihn allerdings deutlich intensiver erscheinen.
Dass das so ist, musste auch Reinhard Heise lernen – und irgendwann akzeptieren. Mithilfe eines Tinnitustagebuchs beobachtete er, dass sich das Pfeifen besonders in stressigen Momenten bemerkbar macht oder wenn er krank ist. „Der Tinnitus ist auch ein Warnsignal“, weiß Heise heute. „Wirkt er lauter, sagt mein Körper: Guck mal, ob du auch gut zu dir bist.“ Das fiel Heise nicht immer leicht. Doch nach einiger Zeit trat er beruflich kürzer. Wegen anderer Erkrankungen ist der 66-Jährige seit zehn Jahren Frührentner.
Steuererklärung als Einschlafhilfe

Gegen den Lärm. Progressive Muskelrelaxation hilft Reinhard Heise, zu entspannen. Fühlt er sich ausgeruht, empfindet er den Tinnitus nicht als störend.
Ohne Zugeständnisse ist das Leben mit dem Ton aber noch immer nicht möglich. Im Alltag etwa meidet Heise die Stille. In Ruhephasen wirke das Pfeifen besonders laut, sagt er. Also lässt er daheim Radio oder Fernseher laufen – einfach, um eine Geräuschkulisse zu haben.
Am schlimmsten war es früher, wenn er abends im Bett lag. Deswegen hat er Entspannungsübungen gelernt, die beim Einschlafen helfen. Manchmal widmet sich Reinhard Heise vor dem Zubettgehen auch einfach Dingen, die er gar nicht mag und die ihn müde machen – zum Beispiel der Steuererklärung.
Neben solchen Tricks empfiehlt sich bei manchen Betroffenen zudem eine Psychotherapie, etwa wenn sie zusätzlich eine psychische Erkrankung haben. Das gilt auch, falls ihre Lebenssituation besonders belastend und möglicherweise Auslöser des Ohrengeräuschs ist. Denn: Stress gilt als häufige Ursache von Ohrengeräuschen.
Etwa vier von fünf Tinnitus-Patienten berichten von belastenden Situationen, bevor der Ton erstmals auftrat. Wie bei Heise vor 17 Jahren können das Konflikte im sozialen Umfeld sein, aber auch Überlastung am Arbeitsplatz. Ängste, Schmerzen und schwere Erkrankungen begünstigen die Ohrengeräusche.
Mit anderen Dingen beschäftigen
Reinhard Heise kam ohne psychologische Betreuung zurecht. Irgendwann begann er sogar, aus dem pfeifenden Dauerbegleiter Kraft zu ziehen – mit positiven Folgen für sich und für andere. Seit mehr als zehn Jahren engagiert er sich bei der Deutschen Tinnitus-Liga. „Tinnitussis“ nennt er sich und die Leidensgenossen seiner Göttinger Selbsthilfegruppe. Zusätzlich berät er Betroffene am Telefon und reist durchs Land, um aufzuklären. „Natürlich wär es schön, wenn der Ton weg wäre“, sagt er. „Aber ich habe gelernt, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit ihm.“