Chinesen praktizieren Tai Chi schon seit Jahrtausenden. Inzwischen wird die sanfte Bewegungslehre auch bei deutschen Hobbysportlern immer beliebter.

Tradition. In China wird Tai Chi seit Jahrtausenden von Jung und Alt praktiziert. Die Bewegungen sind harmonisch.
Pia Bitsch sieht aus, als würde sie von Fäden gezogen. Die zierliche 52-Jährige stellt die linke Fußspitze auf, neigt sich mit geradem Rücken nach vorn, spürt die Dehnung in jedem Muskel. Ihre Bewegungen sind geschmeidig. Man sieht ihr die jahrzehntelange Übung an.
Pia Bitsch praktiziert seit mehr als 30 Jahren Tai Chi, seit 25 Jahren gibt sie in Berlin ihre Kenntnisse auch an Schüler weiter. Über zu wenig Arbeit kann sie sich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil. „Die Nachfrage steigt konstant“, sagt Pia Bitsch. „Angefangen habe ich mit einer kleinen Gruppe. Inzwischen gibt es täglich sechs bis sieben Übungsstunden.“
Mode aus dem Reich der Mitte

Handhaltung. Die Entspannung sollte bis in die Fingerspitzen spürbar sein.
Tai Chi liegt im Trend. Der Sport wird mittlerweile in zahlreichen deutschen Sportschulen angeboten – als schonendes Bewegungsprogramm für Ältere und als spiritueller Ausgleich für die Jungen. Tai Chi kann mehr sein als nur ein Sport: Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass es dem regelmäßig Übenden die Geschmeidigkeit eines Kindes, die Gesundheit eines Holzfällers und die Gelassenheit eines Weisen verspricht. Eigenschaften, die auch viele Deutsche für erstrebenswert halten.
Doch was ist so besonders an den langsamen Bewegungen, die in China seit Jahrhunderten zum Kulturgut gehören? Ist die momentane Begeisterung mehr als ein kurzlebiger Trend? Und kann Tai Chi wirklich die Gesundheit verbessern? Die deutsche Fachwelt ist darüber noch uneins.
Vom Kampfsport zur Heilkunst
Fest steht allein: Tai Chi hat eine jahrhundertelange Tradition und ist aus einem Kampfsport entstanden. Viele Bewegungen erinnern noch immer an Schläge, Stöße und Tritte zur Abwehr eines (imaginären) Gegners, weswegen der Sport auch als „Schattenboxen“ bezeichnet wird. Inzwischen steht aber nicht mehr die Selbstverteidigung, sondern die positive Wirkung auf Körper und Geist im Vordergrund.
Das Besondere an Tai Chi: Die Bewegungen werden fast in Zeitlupentempo ausgeführt. Das Training findet in Gruppen statt. Die Teilnehmer durchlaufen die Choreografie synchron mit dem Lehrer. Oft wird auch im Freien geübt, in China ohnehin – aber zunehmend auch hierzulande.
Die Mähne des Wildpferds teilen
Die Bewegungsabläufe tragen poetische Namen wie „Die Mähne des Wildpferds teilen“ oder „Der weiße Kranich breitet die Flügel aus“. Andere Bilder beschreiben schlicht die Bewegung: rechter Fersentritt oder über das Knie streifen. Die Übungen sollen den „Fluss der Lebensenergie stärken und die Körperkräfte harmonisieren“, wie es Pia Bitsch bildhaft beschreibt.
Überhaupt spielt der spirituelle Teil beim Tai Chi wie auch beim Yoga eine wichtige Rolle: Im Mittelpunkt steht das Qi, die Lebensenergie. Sie soll den Körper in vielen Bahnen durchströmen. Der Fluss könne durch stetiges Üben verstärkt werden, erklärt Pia Bitsch.
Wirkung nicht ausreichend belegt
Anhänger der Bewegungslehre sind überzeugt, dass sich durch regelmäßiges Training die körperliche und geistige Gesundheit erhalten und verbessern lässt. Einen Beweis für diese These im Sinne der evidenzbasierten Medizin gibt es bislang jedoch noch nicht: Das liegt vor allem daran, dass zu wenige und zu wenig hochwertige wissenschaftliche Studien vorliegen.
Es gibt aber durchaus Studien, die einzelne positive Effekte bei bestimmten Beschwerden nahelegen. Am ehesten als vielversprechend schätzt die Stiftung Warentest beispielsweise die Daten ein, die sich auf eine verbesserte Herz-Kreislauf-Fitness, die Senkung des Blutdrucks und die Steigerung der Beweglichkeit beziehen.
Trainieren ohne Leistungsdruck

Frühsport. Tai-Chi-Gruppen treffen sich zum gemeinsamen Üben im Park.
Was bereits beim Zuschauen auffällt: Durch die fließenden langsamen Bewegungen sind Unfälle kaum denkbar – das Risiko, sich zu verletzen, ist vergleichsweise gering. Und das Training schont die Gelenke. Auch muss niemand unter Schmerzen Gewichte stemmen oder mit Schweißperlen auf der Stirn und rotem Kopf um den Block rennen, um Trainingserfolge zu erzielen.
Anstrengend ist Tai Chi aber trotzdem: „Manchmal bekomme ich richtig Muskelkater“, sagt die Schriftstellerin Yoko Tawada, die bei Pia Bitsch Tai Chi lernt. Wie andere Bewegungsformen auch kann Tai Chi die Muskulatur stärken und Gelenke und Bänder geschmeidig machen.
Pia Bitsch hat zudem die Erfahrung gemacht, dass Tai Chi auch bei Rückenleiden helfen kann. „Bei jedem Schritt wird das Becken aufgerichtet, die Beckenboden- und Bauchmuskulatur werden so aktiviert“, erklärt sie. „Dadurch richtet sich die Wirbelsäule auf und es entsteht Platz zwischen den Wirbeln – der Druck auf die Bandscheiben lässt dann nach.“
Gesunder Geist – gesunder Körper
Weiteres Plus gerade für Ältere: Der Sport kann helfen, Stürzen vorzubeugen. Die Wahrnehmung des Körpers verbessert sich, gleiches gilt für die Halte- und Bewegungskraft sowie den Gleichgewichtssinn. Eine Studie aus Südkorea zeigt: Wer zwölf Wochen lang dreimal pro Woche trainiert, kann die Gefahr von Stürzen und Verletzungen im Alter verringern.
Tai Chi soll außerdem positive Auswirkungen auf die Psyche haben. Eine Untersuchung aus den USA hat beispielsweise den Effekt von Tai Chi bei Depressionen von Senioren untersucht. Ergebnis: Die Patienten sprechen besser auf die Therapie an, wenn sie regelmäßig Tai Chi machen. „Verschiedene Studien legen nahe, dass Tai Chi nicht nur bei Depressionen hilft, sondern auch Ängste lindern kann“, bekräftigt auch Doktor Thomas Bisswanger-Heim, Autor des Buches „Asiatische Heilkunde“ der Stiftung Warentest.
Auf Qualifikationen achten

Schwert. Tai Chi mit Waffen bietet den Übenden neue Choreografien.
Wer sichergehen will, dass er beim Tai Chi gut betreut ist, sollte bei einem qualifizierten Lehrer lernen. Das ist nicht ganz einfach. Denn der Begriff des Tai-Chi-Lehrers ist in Deutschland nicht geschützt, das heißt: Es kann sich jeder so nennen.
Pia Bitsch hat ihr Handwerk sowohl bei chinesischen Lehrern als auch bei Europäern gelernt. Aufenthalte in China gehörten zur Ausbildung. Die Tai-Chi-Lehrerin rät: „Schüler sollten Wert darauf legen, dass der Lehrer auf sie eingeht und die Haltungen korrigiert. Von Vorteil ist, wenn der Lehrer einen medizinischen oder bewegungstherapeutischen Hintergrund hat.“
Tipp: Achten Sie auf Nachweise und Qualifikationen. Orientieren Sie sich daran, ob die Kursleiter vom Taijiquan & Qigong Netzwerk Deutschland zertifiziert sind.
Die Krankenkasse zahlt dazu
Viele Krankenkassen beteiligen sich an den Kosten für Tai-Chi-Kurse, manche übernehmen sie sogar ganz. Voraussetzung ist, dass der Kurs bei einem zertifizierten Lehrer stattfindet und der Versicherte die Teilnahme belegt. Deshalb sollten sich Teilnehmer stets eine Bescheinigung geben lassen.
Mit Fächern, Schwertern, Stöcken

Fächer. Tai Chi war ursprünglich ein Kampfsport. Die Fächer waren damals mit scharfen Messerspitzen besetzt.
Jeden Montag findet in Pia Bitschs Schule das Waffentraining statt. Tai Chi kann man nämlich nicht nur mit bloßen Händen üben. Auch Training mit Fächern, Schwertern oder Säbeln gehört dazu. Das reizt vor allem junge Leute. Bei den Übungen geht es aber weniger um das Kämpfen mit der Waffe, sondern darum, mit einem Gegenstand in der Hand entspannt zu bleiben.
Der Unterricht ist für heute beendet, das Training wirkt nach. Pia Bitsch verlässt beschwingt den Übungsraum. Sie sieht rund zehn Jahre jünger aus, als sie ist. Ob Tai Chi auch jung halten kann, ist wissenschaftlich noch nicht untersucht worden.
-
- Seit Januar dürfen Arbeitgeber jedem Mitarbeiter 600 Euro statt bisher 500 Euro zur Förderung seiner Gesundheit steuer- und sozialabgabenfrei im Jahr spendieren....
-
- Entspannen und Stress abbauen per Smartphone – das klappt mit zwei der zehn Meditations-Apps im Test der Stiftung Warentest. Viele zeigen Schwächen, eine ist mangelhaft.
-
- Alle Krankenkassen zahlen für viele Vorsorgeuntersuchungen. Diese Angebote der Früherkennung sind freiwillig: Versicherte können selbst entscheiden, was davon sie nutzen.
Diskutieren Sie mit
Nur registrierte Nutzer können Kommentare verfassen. Bitte melden Sie sich an. Individuelle Fragen richten Sie bitte an den Leserservice.