Bis zur Diplomarbeit zwingt sich Matthias Linde durch sein Studium. Für den Abschluss fehlt ihm jegliche Motivation. Nach frustrierenden Monaten des Stillstands bringt ein konkretes Angebot für eine Berufsausbildung die Wende.
Acht Jahre Studium ohne Abschluss
Matthias Linde hat sich lange gequält. „Zu lange“, gibt der 36-Jährige ohne Umschweife zu. Seine Bilanz: acht Jahre Studium ohne Abschluss. Heute weiß er: „Ich hätte mir viel früher eingestehen müssen, dass ich auf dem falschen Weg bin.“
Unmut steigt mit jedem Semester
Geboren auf der Ostseeinsel Usedom, kommt Matthias Linde im Jahr 2000 nach Berlin, um Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität (TU) zu studieren. Berufsziel: Ingenieur. Der Neustart in der Großstadt fällt dem Zugezogenen nicht leicht. Halt und Anschluss findet der Hobbysegler vor allem im Akademischen Segler-Verein an der Scharfen Lanke im Berliner Bezirk Spandau. Die anfängliche Begeisterung für das Studium schwindet schnell. „Viel Theorie, viel Mathematik, viele kleinteilige Berechnungen“, fasst er rückblickend zusammen. Linde kämpft sich durch Mechanik, Luftfahrzeugbau und Aerodynamik. „Ich hatte mir das Studium sehr viel praktischer vorgestellt“, erzählt er. Sein Unmut steigt von Semester zu Semester, doch er zwingt sich zum Weitermachen. 2006 hat er alle Scheine für den Abschluss des Studiums zusammen. Jetzt sind nur noch wenige schriftliche Prüfungen, die Studien- und die Diplomarbeit zu absolvieren, dann ist es vorbei mit der Quälerei. Doch diese letzte Hürde scheint unüberwindbar. Heute sagt er: „Ich hatte eine Blockade.“
Psychologische Studienberatung bietet Hilfe
Linde sucht Hilfe bei der Psychologischen Studienberatung der TU. In mehreren Gesprächen versucht der Berater ihn aufzubauen und zu motivieren. Gemeinsam planen sie Lindes Weg bis zum Studienabschluss in vielen kleinen Schritten, um die Aufgabe überschaubar zu machen. Aber alle Anläufe, die Linde im Laufe der nächsten drei Jahre nimmt, um das Studium zu beenden, scheitern. Familie und Freunde schlagen ihm vor, andere berufliche Möglichkeiten zu erwägen. Linde, der seinen Lebensunterhalt inzwischen als Kurierfahrer für eine Versandbuchhandlung verdient, lehnt ab. Er ist nicht bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. „Ich war fest davon überzeugt: Es gibt keine Alternative“, sagt er heute. „Außerdem war die Scham, so kurz vor dem Ziel aufgeben zu müssen, einfach zu groß.“
Entscheidung nach 24 Stunden Bedenkzeit
Unerwartet eröffnet sich im Frühjahr 2009 eine neue Perspektive: Eine Mitstreiterin aus seinem Segelverein, Inhaberin einer Segelmacherei, bietet Matthias Linde einen Ausbildungsplatz zum Segelmacher an. Plötzlich ist alles ganz einfach. Nach 24 Stunden Bedenkzeit trifft Linde seine Entscheidung. „Das Angebot war so konkret“, sagt er. „Ich kannte meinen künftigen Arbeitgeber gut und wusste genau, wo ich arbeiten würde. Mit einem Mal hatte ich keine Angst mehr davor, das Studium abzubrechen und einen neuen Weg einzuschlagen.“
Vom ersten Tag ist alles richtig
2009 beginnt der Ex-Student die dreijährige Ausbildung zum Segelmacher bei der Segelmacherei Friedel in Berlin-Spandau. „Vom ersten Tag im Betrieb fühlte sich alles richtig an“, erinnert sich Linde. Er startet im Sommer – in der Saison. „Ich war ständig auf Booten und auf dem Wasser im Einsatz“, erzählt er. „Was kann man sich Schöneres vorstellen als einen Beruf, der dem Hobby so nahe ist.“ 2012 legt Linde die Prüfung vor der Handwerkskammer ab und wird Geselle im Betrieb Friedel. Schon damals steht für ihn fest: Irgendwann will er sich selbstständig machen. Auch wenn das bei den Segelmachern ohne Meister-Titel möglich ist, drückt Linde ab 2014 wieder die Schulbank im Meister-Lehrgang – neben dem Job.
Heute selbstständig auf Usedom
Ende des Jahres 2015 ist es dann so weit: Matthias Linde wagt den Schritt in die Selbstständigkeit und zieht mit seiner Frau und dem 2011 geborenen Sohn aus der Metropole zurück in seine Heimat an die vorpommersche Küste. Seit Anfang Januar betreibt er in Dargen auf Usedom die Segelmacherei Linde. Eines weiß Matthias Linde heute sicher: Die lange Studienzeit war nicht völlig umsonst. Viele Inhalte aus dem Studium wie technisches Zeichnen, Mechanik und Aerodynamik nützen ihm für seinen Beruf. Auch die Fähigkeit, Probleme von allen Seiten zu analysieren, sei etwas, das er im Studium verinnerlicht habe, erzählt er. Natürlich verdient Matthias Linde heute als selbstständiger Segelmacher nicht annähernd so viel wie ein Ingenieur. Dafür hat er etwas viel Wichtigeres gewonnen: „Mein Beruf macht mir unheimlich viel Spaß. Ich muss mich zu nichts zwingen“, sagt Linde. „Das hat eine völlig andere Lebensqualität.“
Übrigens: In der Familie gibt es inzwischen einen weiteren Studienabbrecher mit Hang zum Wasser: Matthias Lindes Frau. Die hängte ihr Lehramtsstudium 2012 an den Nagel und schließt gerade eine Berufsausbildung ab – zur Bootsbauerin!
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