
© Fotolia / Jürgen Fälchle
Eine Jahresnachzahlung von 9 073 Euro für Strom? Von dieser Horrorforderung des Oldenburger Energieversorgers EWE fühlte sich ein älteres Ehepaar förmlich erschlagen. Laut Jahresrechnung sollen die Kunden rund zehnmal mehr Strom verbraucht haben als im Jahr zuvor: 31 814 Kilowattstunden. Wie diese Wahnsinnsmenge zustande kam, konnte auch EWE nicht erklären. Als die Kunden die Zahlung verweigerten, kam es zum Rechtsstreit. Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied: Das Ehepaar muss nicht zahlen.
Anerkannte Stelle prüft Zähler
Der außerordentlich hohe Betrag kam auch den Experten des Energieversorgers zunächst spanisch vor. Sie ließen den Zähler ausbauen und durch eine staatlich anerkannte Prüfstelle untersuchen. Die Experten dort fanden keine Mängel. In solchen Fällen gehen Energieversorger davon aus, dass die gezählte Strommenge korrekt ist. Für die Leitungen bis zum Zähler sind die Versorger zuständig, ebenso für eventuelle Fehler. Doch für alles danach muss der Kunde gerade stehen.
Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers
Das sah der Bundesgerichtshof anders. Allein die völlig ungewöhnliche Höhe der Rechnung gebe dem Kunden das Recht, die Zahlung zu verweigern. Das sieht die Stromgrundversorgungsverordnung ausdrücklich so vor, wenn „die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers besteht“. Genau das sei der Fall, wenn – wie hier – ein Kunde ohne ersichtlichen Grund plötzlich angeblich zehnmal so viel verbraucht wie vergleichbare Haushalte.
Bescheidener Lebensstil
Dafür, dass das Ehepaar die exorbitante Strommenge tatsächlich selbst verbraucht haben könnte, sahen die Richter keine Anhaltspunkte. Das Ehepaar führte einen eher bescheidenen Lebensstil und hatte auch nicht auffallend viele Elektrogeräte.
Grund für Mehrverbrauch rätselhaft
Wie der Zähler oder die Ablesung zu dem außergewöhnlich hohen Verbrauch kam, bleibe rätselhaft, so das Gericht. Doch die Beweislast für die Richtigkeit der Abrechnung trifft das Energieversorgungsunternehmen. Es muss die Voraussetzungen seiner Zahlungsforderung beweisen, also auch den tatsächlichen Bezug der in Rechnung gestellten Energiemenge. Vor Gericht hatte EWE jedoch keinen tauglichen Beweis angetreten. Die externe Prüfung des Zählers reichte dem Gericht nicht (Az. VIII ZR 148/17).
Versorger: „Nicht akzeptabel“
Das aber wirft aus Sicht des Energieversorgers enorme Probleme auf: „Welche andere Möglichkeit als den intakten Zähler haben wir, um den Verbrauch nachzuweisen?“, fragt EWE-Pressesprecher Christian Bartsch. Das BGH-Urteil bringe alle Energieversorger in einen unsicheren und nicht akzeptablen Zustand. Denn nach den Ausführungen des BGH in der Verhandlung müssten sich Energieversorger künftig mit der Frage befassen, auf welche Weise der Mehrverbrauch an Strom im Haushalt des Kunden zustande kam, obwohl der Zähler nachweislich intakt und die Ablesung korrekt ist. Das sei unmöglich, da es die private Lebensführung des Kunden betrifft. Bartsch: „Das Vertragsverhältnis endet am Zähler.“
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Der Zähler wurde untersucht. Er war fehlerfrei. Auch das Gericht hat ja nicht festgestellt, dass der Zähler in irgendeiner Weise defekt war. Der Verbrauch wurde also durch ein geeichtes und nachweisbar fehlerfreies Gerät ermittelt. Damit sollte die Sache erledigt sein, es sei denn der Kunde kann nachweisen, das dennoch ein Messfehler vorlag.
Wenn ich von der Polizei geblitzt werde und der Blitzer nachweisbar korrekt aufgestellt, geeicht und funktionstüchtig war, kann ich mich vor dem Bußgeld ja auch nicht mit der Behauptung drücken, 30 Jahre lang wäre ich aber nie zu schnell gefahren und nie geblitzt worden. Da müsste mein Anwalt vor Gericht schon präzise nachweisen, dass der Blitzer falsch gemessen hat.
@GuessWhat: Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Der Stromverbrauch des Paares hat sich enorm erhöht oder es gab bei der Messung (irgendwo) einen Fehler. Das ist ein typisches Beispiel von zwei sehr unwahrscheinlichen Sachen, die sich "aufheben". Es reicht eben nicht zu sagen, dass das eine unglaublich unwahrscheinlich ist, da das andere eben auch unglaublich unwahrscheinlich ist. Die Abwägung des Gerichtes der Unwahrscheinlichkeiten trifft auf deine konstruierten Beispiele hingegen i.A. nicht zu.
Es wird nicht auf den Zähler eingegangen.
War es ein alter mit Zählrädchen oder ein neuer sogenanter Smarter Zähler?
Ich kann mich der Sicht der EWE nur anschließen. Die Zähler sind geeicht. Zusätzlich wurde der Zähler untersucht und seine korrekte Funktion bestätigt. Die Kunden brachten auch keinerlei Indizien dafür vor, dass in anderer Weise ihr Stromverbrauch manipuliert wurde. Und dennoch soll die Allgemeinheit für die Kosten aufkommen?
Kann ich dann morgen auch tanken und mich weigern, zu zahlen, was mir die Tanksäule anzeigt? Die ist zwar auch geeicht und ich allein habe sie bedient. Aber soll mir doch die Tankstelle mal nachweisen, dass ich wirklich diese Menge getankt habe.
Wenn geeichtes und überprüfte Messeinrichtungen ohne vorliegende Indizien für eine anderweitige Manipulation plötzlich unwichtig sein sollen, dann muss der Gesetzgeber sehr schnell und deutlich nachbessern, so dass der BGH nicht noch einmal solch absurde Urteile fällen kann.