Wer Alkoholiker ist, braucht einen Entzug – und erhält ihn. Auf Kassenkosten. Doch wer hilft all jenen Menschen, die nur noch fürs Glücksspiel oder ihren Computer leben?
Vor drei Jahren betrat Hendrik zum ersten Mal eine Spielhalle. Aus Neugier bediente er einen Automaten – und konnte sein Glück kaum fassen. An nur einem Abend gewann er 1 900 Euro. Das Geld konnte er gut gebrauchen. Hohe Schulden und niedrige Auftragszahlen lasteten damals schwer auf dem selbstständigen Bürokaufmann. Noch ein paar Gewinne dieser Art, und er wäre alle Sorgen los.
Also ging er wieder in den Glückstempel, wieder an die Automaten. Diesmal knackte er den Jackpot – und verlor den Halt. Bald spielte er jeden Tag, manchmal zwei Stunden, manchmal acht, manchmal auch den ganzen Sonntag lang. Dabei hatte ihn das Glück längst verlassen. An einem Abend verlor er 800 Euro, an einem anderen seine Monatsmiete. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihm erstmals klar: Das Spiel hatte die Kontrolle über sein Leben gewonnen.
Hendrik reagierte, ließ sich für die staatlichen Spielbanken sperren, sodass er dort keinen Zutritt bekam, und begann eine Psychotherapie. Doch die Sucht war stärker. In einer privaten Spielhölle ging Hendrik erneut an den Automaten. Und verlor auch noch seine letzten Cents. In jenem Monat hungerte der 34-Jährige zum ersten Mal.
Heute sieht er diese harte Zeit als heilsam an. „Damals beschloss ich: Nie wieder will ich so leiden, nie wieder spielen.“
Kein Phänomen der Moderne
Hendrik ist einer der rund 260 000 Glücksspielsüchtigen in Deutschland. Seine Sucht bezeichnen Fachleute als „nicht-stoffgebunden“. Das heißt: Menschen wie Hendrik verfallen nicht der Wirkung einer Substanz wie Alkohol oder Nikotin, die sie aufnehmen, sondern einer Tätigkeit. Sex, Sport oder Einkaufen, ja sogar Arbeiten: Jedes menschliche Verhalten, sagen Experten, kann süchtig machen.
Bereits 1561 beschrieb ein Arzt aus Flandern, wie die Bevölkerung zügellos dem Würfelspiel nachging. Und auch heute noch treibt die Hoffnung auf das schnelle Geld in der Spielhalle viele in die Sucht. Inzwischen zählt das pathologische Glücksspiel nach der Abhängigkeit von Alkohol, Opioiden und Cannabis zu den problematischsten in Deutschland. In ihrer zerstörerischen Wirkung steht die Spielsucht klassischen Drogenkarrieren in nichts nach: Die Betroffenen spielen immer länger und intensiver, auch wenn sie inzwischen nur noch verlieren. Sie riskieren Beziehung, Arbeitsplatz und Freunde. Das Spiel wird zum einzigen Lebensinhalt – selbst wenn sich das Geld dafür irgendwann nicht mehr mit legalen Mitteln beschaffen lässt.
Kasse zahlt bei Glücksspielsucht
Ein Teufelskreis, der sich ohne professionelle Hilfe kaum durchbrechen lässt. Wohl auch deshalb erkennen die gesetzlichen Krankenkassen das pathologische Glücksspiel als psychische Erkrankung an und kommen für die Behandlungskosten auf. Bei anderen Verhaltenssüchten ist man noch nicht so weit. Sie gelten den Kassen offiziell noch nicht als behandlungsbedürftige Krankheiten – obwohl die Zahl der Betroffenen, etwa im Falle der Computerspielsucht, stetig steigt.
Eine Studie des Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2009 geht davon aus, dass von den mehr als 44 000 der befragten deutschen Jugendlichen drei Prozent die Kriterien für eine PC-Spiel-Sucht erfüllen. Abhängig vom Internet sind laut aktuellem Suchtbericht der Bundesregierung 560 000 Menschen, ganze 2,5 Millionen gelten als gefährdet. Zu hundert Prozent belastbar sind diese Zahlen allerdings nicht. Die Grenzen zwischen einem leidenschaftlich betriebenen Hobby und einer krankhaften Abhängigkeit sind fließend.
Ein Hobby wird zur Droge
Ob Surfen im Netz, reales Zocken oder exzessives Joggen: Das unbändige Verlangen nach einer bestimmten Tätigkeit beginnt im Kopf, in bestimmten Arealen unseres Gehirns. Vor allem der frontale Kortex hinter der Stirn, der die menschlichen Handlungen steuert, und das Emotionszentrum, die Amygdala, sind dabei von Bedeutung.
Ein geknackter Jackpot, eine leidenschaftliche Nacht, ein Marathonlauf: Wie die meisten Drogensubstanzen setzen solche Ereignisse im menschlichen Körper Botenstoffe frei, die glücklich machen. Das Dopamin zum Beispiel ist eine solche Substanz, mit dem uns unser Gehirn für bestimmte Verhaltensweisen belohnt. Wissenschaftler fanden heraus, dass der Körper speziell beim Spielen, Einkaufen oder Arbeiten besonders viele dieser Stoffe produziert. Entsprechend groß ist die Euphorie, man fühlt sich berauscht vom eigenen Tun, möchte diesen Zustand immer wieder erleben. Die Suchtgefahr wächst.
Die Grenzen zur Sucht sind fließend
Jedoch ist nicht jeder, der übermäßig spielt, arbeitet oder joggt, süchtig. Gerade bei Jugendlichen, die am PC „daddeln“, mahnen Experten vor übereilten Schlüssen. „Junge Leute neigen zu exzessivem Verhalten. Das ist ganz natürlich und muss nicht immer gleich eine Sucht signalisieren“, sagt etwa der Sozialpädagoge Jannis Wlachojiannis, der beim Berliner Caritas-Projekt „Lost in Space“ Mediensüchtige berät.
Gerade wenn ein PC-Spiel neu ist, sei eine erhöhte Spielzeit nicht ungewöhnlich, betont auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Wenn sich im Leben des Jugendlichen aber alles nur noch um die virtuelle Welt dreht, Schulnoten und Freundschaften leiden, deutet das auf eine Sucht hin (zu den Symptomen siehe die Tabelle).
Angehörige müssen nachfragen
Eltern sollten dann versuchen, den Kontakt zu ihrem Kind so gut es geht aufrechtzuerhalten. Dazu gehört es auch, das Spiel nicht zu verteufeln, sondern sich damit zu beschäftigen, was das eigene Kind da am PC eigentlich treibt. „Wenn Sie diese Frage geklärt haben, kommen auch wieder Gespräche mit dem Kind in Gang, etwa darüber, was es so toll findet an dem Spiel“, sagt Klaus Wölfling, Psychologe in der Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin Mainz. Eltern können ihr Kind so für die Sogwirkung mancher Spiele sensibilisieren, es anregen, das eigene Verhalten zu beobachten. Wölfling empfiehlt zudem, mehr Zeit mit dem Kind zu verbringen und Wochenendausflüge als attraktive Alternativen anzubieten. Angehörigen von Glücksspielsüchtigen rät die Landesstelle Glücksspielsucht Bayern, den Spieler offen auf sein Problem anzusprechen. Familien und Freunde sollten ihm kein Geld leihen oder gar seine Schulden übernehmen, sondern ihn ermutigen, professionelle Hilfe anzunehmen. Bis ein Spieler sich dazu durchringt, kann es allerdings Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte dauern.
Hendrik zum Beispiel suchte sich erst nach drei Jahren Leidenszeit einen Therapeuten. Ein Klassiker. Viele Spielsüchtige reagieren erst, wenn die psychischen und körperlichen Probleme den Lustgewinn beim Spielen übersteigen. Haben sie diesen Punkt erreicht, sind die Hilfsangebote recht vielfältig. Sie können bei ihrem Hausarzt um Unterstützung bitten oder sich an eine Beratungsstelle wenden. Die hilft, eine Selbsthilfegruppe oder eine Schuldnerberatung zu finden, und unterstützt bei der Suche nach einem Therapieplatz.
Krankenkassen zahlen die Therapie
Je nachdem, wie ausgeprägt die Symptome sind, kann die Therapie ambulant oder in einer Klinik stattfinden. Den Krankenkassen ist wichtig, dass die gewählte Einrichtung sich mit der Problematik auskennt und auf die Störung zugeschnittene Therapieelemente anbietet. So sind für Glücksspieler etwa Gruppensitzungen mit anderen Glücksspielsüchtigen essenziell. Auch betreute Tagesausflüge gehören zu einer sinnvoll aufgebauten Therapie.
Tipp: Welche Kliniken sich eignen und bezahlt werden, erfahren Sie bei Ihrer Krankenkasse. Auch die Reha-Servicestellen von Krankenkassen und Rentenversicherung sowie der Fachverband Glücksspielsucht geben Auskunft (siehe „Hilfe und Adressen“).
In der Therapie lernen die Glücksspieler, Schritt für Schritt sich wieder für andere Aktivitäten zu begeistern. Hendrik etwa, der sich für eine ambulante Therapie entschied, war früher ein leidenschaftlicher Tänzer. „Diese Freude wiederzuentdecken, das will ich schaffen“, sagt er.
Oft unverarbeitete Ängste
Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, die Ursachen der Erkrankung zu erkennen. Oft können psychische Probleme, Stress, soziale Ängste oder Konflikte im engen Familien- oder Freundeskreis Auslöser dafür sein, dass ein Mensch in die Sucht rutscht. Das Spiel ist dann ein willkommenes Mittel, sich abzulenken. In der Behandlung lernen die Patienten, Probleme und Konflikte aktiv anzugehen und dem Verlangen standzuhalten; sie üben zum Beispiel einfach, an Casinos vorbeizugehen.
Selbsthilfegruppe als Stütze
Halt gibt oft auch eine Selbsthilfegruppe. Hendrik etwa fand seine über die Berliner Glücksspielsuchthilfe. Hier trifft der junge Mann jede Woche auf Menschen, die ähnliche oder drastischere Erfahrungen gemacht haben als er selbst: Frank etwa, der wegen des Spielens auf 200 000 Euro Schulden sitzt. Oder Mark, der seit 18 Jahren nicht vom Automaten loskommt und bereits im Gefängnis saß, weil er das Gesetz brach, um Geld für das nächste Spiel zu organisieren. Für sie alle sind die Treffen eine Stütze: während oder nach der Therapie oder als Brücke dorthin – zum Weg aus der Sucht.
PC-Spielsucht nicht anerkannt
Auch wer an Computerspielsucht leidet, ist nicht auf sich allein gestellt. Zwar ist die Sucht nach klassischem Glücksspiel derzeit die einzige Verhaltenssucht, die offiziell als Krankheit gilt und deshalb ohne weiteres auf Kosten der Kassen behandelt werden darf. Dennoch kommt es nur selten vor, dass Betroffene ihre Therapie aus eigener Tasche bezahlen müssen. „Die meisten Computerspielsüchtigen haben eine oder mehrere psychische Begleiterkrankungen. Über diese rechnen Kliniken dann ihre Leistungen ab“, erklärt Suchtberater Wlachojiannis. Die Mehrheit seiner Klienten hat auf diesem Weg eine stationäre Behandlung finanziert bekommen.
Definitiv kostenlos ist die Psychotherapie an der Universitätsklinik Mainz. Sie wird über Drittmittel finanziert. „Anhand einzelner Spielsequenzen analysieren wir mit dem Patienten, welche Gefühle, Gedanken und Körperreaktionen ihn verleitet haben, wieder und wieder zu spielen“, erklärt Klaus Wölfling. In Gruppensitzungen lernen sie, wieder Kontakt zu Menschen außerhalb der Spielwelt aufzunehmen und den Umgang mit ihnen zu üben.
Lebenslanger Kampf gegen die Sucht
Rund 90 Computerspieler hat Wölfling bereits behandelt – mit guten Erfolgen. Dennoch gilt: Wer eine Therapie erfolgreich beendet hat, ist nicht vor einem Rückfall gefeit. Auch Hendrik weiß das. Zehn Wochen ist er nun schon spielfrei. Über den Berg ist er aber lange noch nicht. „Es wird immer ein Kampf sein“, sagt er, „hoffentlich bleibe ich stark.“
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