Seit sechs Jahren zahlen Versicherer bei grober Fahrlässigkeit wenigstens einen Teil. Wie viel sie kürzen dürfen, zeigen Urteile.

Nur einen kurzen Moment hatte der Mann nicht aufgepasst, schon war es passiert. Auf dem Flughafen im spanischen Valencia hatte ein Reisender ein kurzes Gespräch am Schalter. Seine Kameratasche stand hinter ihm. Es waren nur ein paar Sekunden, dann war die Tasche plötzlich weg.
„Grob fahrlässig“ nannte das Landgericht Hannover das Verhalten. Der Mann hätte die Tasche ständig im Blick haben müssen. Dennoch hatte der Fotofreund Glück im Unglück: Die Versicherung musste wenigstens einen Teil des Schadens übernehmen und zahlte 60 Prozent. Um 40 Prozent durfte sie ihre Entschädigung kürzen, entschied das Landgericht Hannover (Az. 13 O 153/08).
Für den Kunden war das ein herber Schlag, aber immer noch besser als die Regelung, die vor 2008 galt: Da hätte er gar nichts bekommen. Die Versicherer durften bei grober Fahrlässigkeit ihre Entschädigung komplett streichen. Nun hingegen müssen sie einen Anteil zahlen, der davon abhängt, wie stark das Verschulden des Kunden war. Nur in Extremfällen dürfen sie wie früher ihre Leistung auf Null kürzen, zum Beispiel bei Alkohol am Steuer.
Die Neuregelung ist ein Riesenfortschritt. Denn grobe Fahrlässigkeit ist gar nicht so selten, auch wenn damit eigentlich kapitale Fehler gemeint sind, die man spontan mit „Wie kann man nur!“ kommentieren würde. Wie kann man zum Beispiel in tiefem Schnee mit Sommerreifen fahren oder sich während des Autofahrens um ein schreiendes Kind auf der Rückbank kümmern? Wie kann man ein Fenster im Erdgeschoss auf Kipp stehen lassen?

Manchmal sind es aber auch einfach nur Schusseligkeiten. Da hat zum Beispiel ein Fahrer nicht auf die Durchfahrtshöhe einer Brücke geachtet und schrottet den gemieteten Lieferwagen. Eine Küche brennt, weil eine Frau nach einem langen Arbeitstag vergisst, den Herd auszuschalten, auf dem eine Pfanne mit heißem Fett steht.
In solchen Fällen muss die Versicherung jetzt zahlen, sie darf ihre Leistung aber kürzen. Den Mietwagenfahrer nahm das Landgericht Göttingen mit 33 Prozent in die Haftung (Az. 5 O 118/09). Die Köchin musste 30 Prozent Kürzung akzeptieren (Amtsgericht Schweinfurt, Az. 2 C 886/12).

In einem ähnlichen Brandfall kürzte das Landgericht Dortmund sogar 50 Prozent, weil eine Frau den Herd eingeschaltet ließ und in der Annahme aus dem Haus ging, es könne nichts passieren, weil der Herd auf kleiner Flamme stand (Az. 2 O 101/11).
Die Gerichte müssen jetzt nicht mehr nur zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit unterscheiden, sondern auch innerhalb der groben Fahrlässigkeit feine Unterschiede machen: Ist es nur „leichte“ grobe Fahrlässigkeit, mittlere, schwere oder sehr grobe? Die Quotelung handhaben die Richter unterschiedlich. Viele Gerichte gehen zunächst von einer Kürzung um 50 Prozent aus. Im Einzelfall weichen sie dann nach oben oder unten ab, häufig in 10-Prozent-Schritten – je nachdem welche belastenden oder mildernden Umstände die Versicherung oder ihr Kunde vortragen.
„So schematisch darf die Quotelung aber nicht sein, die Gerichte müssen den Einzelfall prüfen und die jeweiligen Umstände bewerten“, kritisiert Rechtsanwalt Christian Becker von der Düsseldorfer Sozietät Wilhelm. „Viele Gerichte und vor allem Versicherer kürzen zu kräftig.“
Inzwischen liegen zahlreiche Urteile vor. Auch wenn sie sehr unterschiedlich ausfallen, geben sie doch Orientierungshilfe.
Geplatzte Wasserleitungen

Steht zum Beispiel ein Haus im Winter leer und der Besitzer schützt die Wasserrohre nicht vor dem Einfrieren, etwa durch Entleeren, ist das meist grob fahrlässig. Das Landgericht Bonn hielt eine Kürzung der Versicherungsleistung um 50 Prozent für angemessen (Az. 10 O 372/09). Das Landgericht Erfurt entschied auf 90 Prozent (Az. 8 O 1204/09). Das Oberlandesgericht Hamm strich die Entschädigung sogar komplett (Az. 20 U 144/11).
Alkohol am Steuer

Ab 1,1 Promille gilt absolute Fahruntüchtigkeit. Wer dann noch fährt, muss akzeptieren, dass der Kaskoversicherer die Leistung komplett streicht (Bundesgerichtshof, Az. IV ZR 251/10). Die Haftpflicht muss zwar den Schaden des Unfallgegners regulieren, darf aber den Kunden bis 5 000 Euro in Regress nehmen, bei Unfallflucht um weitere 5 000 Euro. Auch unter 1,1 Promille können Gerichte von grober Fahrlässigkeit ausgehen. Als eine Frau mit 0,59 Promille eine Laterne rammte, kürzte das Oberlandesgericht Hamm die Entschädigung um 50 Prozent (Az. I-20 U 74/10). Bei einem Unfall mit 0,95 Promille kürzte das Landgericht Bochum um zwei Drittel (Az. 5 S 102/11).
Autoschlüssel für Diebe erreichbar

Als einer Pflegekraft im Seniorenheim das Auto gestohlen wurde, strich die Versicherung 50 Prozent. Die Frau hatte den Schlüssel in einem offenen Aufenthaltsraum gelassen (OLG Koblenz, Az. 10 U 1292/11).
Ein Fahrer, der seine Jacke mit Schlüssel für einen 109 000-Euro-Mercedes in einer Gaststätte nahe der Tür aufgehängt hatte, musste 90 Prozent Kürzung hinnehmen (Landgericht Köln, Az. 24 O 283/09). Dagegen kürzte das Landgericht Berlin nur 25 Prozent, als ein Kunde den Schlüssel in einer Sporttasche in einer unverschlossenen Umkleidekabine ließ (Az. 42 O 397/11).
Auch den Schlüssel in einen ungesicherten Briefkasten zu werfen, zum Beispiel bei der Werkstatt oder der Mietwagenfirma, gilt als grob fahrlässig. Das Amtsgericht Düsseldorf kürzte 50 Prozent (Az. 230 C 14977/09). Dagegen ist es nicht grob fahrlässig, den Fahrzeugschein im Wagen zu lassen, solange er von außen nicht sichtbar ist (OLG Hamm, Az. 20 U 226/12).
Rote Ampel überfahren
Bei Rot zu fahren, ist grob fahrlässig. Nach einem Unfall kann es aber helfen, mildernde Umstände wie diese zu nennen: Die Sonne schien auf die Ampel und der Fahrer sah „Phantomgrün“. Es gab einen Mitzieheffekt, weil die Autos auf der Spur nebenan bei Grün losfuhren. Oder ein Ortsfremder war bei der Suche nach einem Restaurant abgelenkt. In all diesen Fällen haben Gerichte die Kürzung auf 50 Prozent begrenzt (zum Beispiel OLG Koblenz, Az. 12 U 1198/12).
Mehrfach grob fahrlässig
Doch was ist mit Schäden, bei denen der Kunde gleich mehrfach grob fahrlässig war? Werden dann die einzelnen Quoten addiert? Oder gilt am Ende nur die höchste Quote? Da herrscht noch Uneinigkeit.
Das Landgericht Kassel hielt bei einem Einbruch die Addition für angemessen: Der Kunde war zwei Stunden einkaufen gegangen, hatte aber die Tür nur zugezogen und nicht abgeschlossen. Das werteten die Richter als „mittlere“ grobe Fahrlässigkeit, daher 50 Prozent Kürzung. Außerdem hatte er die Liste mit den gestohlenen Sachen erst drei Wochen später eingereicht. Dieser Verstoß gegen die Kundenpflichten rechtfertigte eine zweite Kürzung um 50 Prozent. Unterm Strich standen 100 Prozent – der Kunde bekam nichts (Az. 5 O 2653/09).
Schlüssel im Handschuhfach
Das Landgericht Hechingen hielt sich an ein Stufenmodell. Ein Autobesitzer hatte die Schlüssel im Handschuhfach seines Zweitwagens aufbewahrt. Den hatte ein Dieb geknackt und Tage später mit dem gefundenen Schlüssel das andere Auto gestohlen. Den Schlüssel im Handschuhfach zu lassen, war grob fahrlässig, daher gab es eine Kürzung um 50 Prozent. Weil der Kunde den Schlüsseldiebstahl nicht gemeldet hatte, gab es weitere 50 Prozent Kürzung. Das Gericht addierte aber nicht, sondern kürzte zunächst um 50 Prozent und zog dann vom Rest wieder 50 Prozent ab. So kamen 75 Prozent Kürzung heraus (Az. 1 O 124/12).
Keine schematische Lösung
Das Landgericht Dortmund lehnte beide Ansätze ab. Weil der Bundesgerichtshof (Az. IV ZR 225/10) eine individuelle Quote je nach den Umständen des Einzelfalls gefordert habe, verbiete sich jede schematische Lösung. In dem verhandelten Fall hatte der Kunde nicht – wie mit der Versicherung vereinbart – eine Einbruchsicherung vor seinen Laden montiert. Das war grob fahrlässig, daher 60 Prozent Kürzung. Außerdem hatte er keine Stehlgutliste eingereicht, was 40 Prozent Kürzung rechtfertigte. Da sich die fehlende Liste aber kaum auf den Schaden auswirkte, war das Gericht in diesem Punkt gnädig und kürzte um insgesamt 61 Prozent (Az. 2 O 8/10).
-
- Ausgerechnet nach schweren Unfällen gibt es oft Streit mit der Versicherung. test.de dokumentiert Berichte von Lesern und gibt Hinweise zur Rechtslage.
-
- Nach dem Unfall zahlt der Kfz-Versicherer erst für den Schaden, stuft aber dann den Schadenfreiheitsrabatt des Versicherten zurück – wie weit zurück, hängt vom Tarif ab.
-
- Nach einem Unfall kürzen viele Versicherer dreist die Erstattung. Die Stiftung Warentest zeigt, welche Tricks sie nutzen und gibt Hinweise, wie Betroffene mehr bekommen.
Diskutieren Sie mit
Nur registrierte Nutzer können Kommentare verfassen. Bitte melden Sie sich an. Individuelle Fragen richten Sie bitte an den Leserservice.