Je höher der Schaden, desto länger der Streit mit dem Versicherer. Ausgerechnet Schwerverletzte brauchen starke Nerven.

Sieg nach sieben Jahren: Unfallopfer Norbert Goergen und sein Rechtsanwalt Helmut Gräfenstein mussten bis vors Oberlandesgericht ziehen, ehe die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers den Motorradfahrer entschädigte und ihm einen hohen fünfstelligen Betrag als Schmerzensgeld zahlte.
Juni 2006. Der Motorradfahrer Norbert Goergen macht sich auf den Weg zur Arbeit. Es wird seine letzte Fahrt mit dem Motorrad sein. Auf einer langen Geraden taucht vor ihm ein Traktor auf. Goergen setzt zum Überholen an. Als er den Traktor fast erreicht hat, biegt der Landwirt nach links in einen Feldweg ab.
Beim Zusammenstoß mit dem Traktor und dem Sturz auf die Fahrbahn bricht Goergen sich mehrere Knochen. Er erleidet schwere innere Verletzungen. Einen Monat lang liegt er im Koma. Trotz zahlreicher Operationen und aufwendiger Rehabilitation bleibt er zu 70 Prozent erwerbsunfähig und zu 80 Prozent behindert.
„Das Becken ist kaputt“, erklärt der 53-Jährige. Nicht mal sitzen kann er, ohne dass ihn Schmerzen quälen.
Gut für Goergen: Er kennt sich aus mit der Regulierung von Versicherungsschäden. Er hat selbst bei einem großen Versicherer gearbeitet und war für die Ausbildung der Schadensachbearbeiter verantwortlich.
Schlecht für Goergen: Der Landwirt hat die Haftpflichtversicherung für seinen Traktor bei einer kleinen Versicherungsanstalt abgeschlossen, die sich speziell an Landwirte richtet. Das Unternehmen verhält sich ganz anders, als Versicherungsprofi Goergen es von seinem Arbeitgeber kennt. Der Versicherer kämpft um jeden Cent Schadenersatz, den er zahlen soll.
Die Mitarbeiter des Unternehmens streiten so ziemlich jeden Posten auf der Schadenliste ab, bis hin zu den Abmeldegebühren für das total beschädigte Motorrad. Trauriger Höhepunkt: Die Juristen der Versicherungsanstalt halten zahlreiche Besuche von Goergens Ehefrau am Krankenbett ihres bewusstlosen Ehemanns für nicht erforderlich und verweigern die Erstattung der Fahrtkosten.
Fast sieben Jahre Rechtsstreit
Das Unfallopfer muss ein Gutachten nach dem anderen vorlegen. Der Rechtsstreit zieht sich in die Länge.
Goergen schaltet Rechtsanwalt Helmut Gräfenstein aus der Kanzlei Quirmbach und Partner in Montabaur ein. Der arbeitete, bevor er Rechtsanwalt wurde, ebenfalls für einen großen Versicherer. Fast 20 Jahre lang leitete er dort den Bereich Großschäden und Prozesse.
März 2013. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main entscheidet in letzter Instanz. Goergen erhält eine hohe fünfstellige Summe als Schmerzensgeld – einschließlich einer Extraentschädigung, weil die Versicherung nach Auffassung des Gerichts viel zu spät gezahlt hat.
Der Kläger hat sich damit fast vollständig durchgesetzt und bleibt trotzdem auf einigen tausend Euro Kosten für Gutachterhonorare, Gerichts- und Anwaltskosten selbst sitzen. Er muss 25 Prozent des Schadens und damit auch einen Teil der Prozesskosten selbst bezahlen, obwohl ihn an dem Unfall keine Schuld trifft. Doch die „Betriebsgefahr“, die von einem Motorrad ausgeht, wird ihm nachteilig angerechnet.
Ohne Geld keine Klage
Der heute 53-Jährige musste sich schon ganz schön strecken, um gegen die Versicherung vor Gericht ziehen zu können. Die Justiz verlangt nämlich einen Vorschuss auf die Gerichtskosten. 3 468 Euro musste Goergen einzahlen, bevor das Gericht seine Klage der Versicherung zustellte.
Seit August 2013 müssen Kläger noch mehr zahlen. Beim gleichen Streitwert sind jetzt 4 158 Euro Gerichtskosten fällig.
Hinzu kommt noch: Der Motorradfahrer hat als Anspruchsteller die Beweislast. Auch die Kosten für Beweise muss er deshalb vorstrecken. Vor allem, wenn wie bei Goergen Gutachten erforderlich sind, geht es um viel Geld. Die Honorare sind oft mehrere tausend Euro hoch und summieren sich im Laufe eines komplizierten Prozesses ganz schnell auf satte fünfstellige Beträge.
Helfen würde eine Rechtsschutzversicherung. Goergen hat aber keine. Die staatliche Prozesskostenhilfe hilft ihm auch nicht weiter. Der Staat kommt nur dann für die Gerichtskosten auf, wenn nach Abzug der Kosten fürs Wohnen, der Pauschalen für den Lebensunterhalt, der Beiträge für Altersvorsorge und der Ausgaben aufgrund besonderer Härten kein Geld übrig bleibt.
Wer mehr verdient, bekommt zwar Prozesskostenhilfe, muss aber sein gesamtes Einkommen jenseits von höchstens 450 Euro über den Lebenshaltungskosten einsetzen und die Gerichtskosten in Raten zahlen. Zum Glück bekommt der verunglückte Motorradfahrer eine Erwerbsminderungsrente von der Berufsgenossenschaft.
Aus Mangel an Beweisen
Für manches andere Opfer eines Unfalls oder Behandlungsfehlers ist das Verfahren beendet, bevor es überhaupt begonnen hat. Gelingt es ihm nicht wie Goergen, das Geld für Gerichtskostenvorschüsse und Gutachterhonorare aufzubringen, muss er sich mit dem zufriedengeben, was die Versicherung von sich aus zahlt. Ein Urteil gegen den Versicherer zu erreichen, ist dann ohne Prozesskostenhilfe oder Rechtsschutzversicherung von vorneherein ausgeschlossen.
Haben Unfallopfer kein Geld für Gutachten, können sie das Ausmaß der Schäden nicht beweisen. Eine Entschädigung gibt es aber nur für Schäden, die der Versicherer nicht anzweifelt. Denn er darf kein Geld verschenken. Er ist gesetzlich verpflichtet, unbegründete Ansprüche abzuwehren.
Versicherer unter Verdacht
Doch die Versicherer wehren nicht nur unbegründete Ansprüche ab, meinen viele Anwälte. „Da ist ein Trend erkennbar“, glaubt Helmut Gräfenstein. Auch wenn es von Versicherer zu Versicherer erhebliche Unterschiede gebe, steht für ihn fest, dass Versicherer später und weniger zahlen als noch vor Jahren. Er vermutet, dass der verschärfte Wettbewerb zwischen den Unternehmen schuld sei.
Auch Beatrix Hüller, Fachanwältin für Versicherungsrecht aus Bonn, hegt den Verdacht: Die Zahlungsverweigerung hat System. Mancher Versicherer spekuliere offensichtlich darauf, dass Geschädigte sich keine Klage leisten können und sich deshalb mit einer unangemessen geringen Entschädigung zufriedengeben.
Die Branche hält dagegen. „Gerichte bestätigen überwiegend die Entscheidung der Versicherer“, erklärt der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft in einer Stellungnahme an das Justizministerium.
Die Zahl der Beschwerden beim Ombudsmann ergibt kein eindeutiges Bild: 2011 und 2012 sank sie, 2013 hat sie wieder zugenommen. Ohnehin klar: Die tragischen Fälle mit schweren Verletzungen sind selten und haben kaum Einfluss auf die Statistik.
Hans-Peter Schwintowski, Jura-Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, sieht Gerichte und Gesetzgeber in der Pflicht. Eine der Ursachen für langwierigen Streit um die Entschädigung von Unfallopfern sieht er im Schadenersatzrecht. Es gebe keine vernünftigen Kriterien für die Höhe von Schmerzensgeldern. Von Instanz zu Instanz und von Gericht zu Gericht unterscheiden sich die für ähnliche Verletzungen gewährten Schmerzensgelder erheblich, hat er beobachtet.
Schwintowski wurde selbst Opfer eines schweren Unfalls. Ein betrunkener Autofahrer fuhr ihn mit hoher Geschwindigkeit an. Der Rechtswissenschaftler erlitt komplizierte Knochenbrüche und erhielt ein künstliches Knie. Noch heute leidet er unter den Folgen des Unfalls und nimmt ständig starke Schmerzmittel. Sein Schmerzensgeld: 45 000 Euro. „Das sind hochgerechnet auf meine verbleibende Lebenserwartung 5,86 Euro am Tag“, rechnet er vor.
Schmerzensgeld klarer regeln
Schwintowskis Vorschlag: Das Schmerzensgeld soll taggenau ermittelt werden. Je nach Schwere der Verletzung erhalten Opfer zwischen 216 bis 405 Euro pro Tag, bis sie kuriert sind. Der Satz für die Entschädigung ist an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt und steigt, wenn sich das Durchschnittseinkommen erhöht.
Bleibt vom Unfall ein Dauerschaden, sollen dafür bis zum Lebensende je nach Grad der Behinderung bis zu 189 Euro pro Tag fällig sein. Schwintowski selbst stünden 56 Euro zu. Norbert Goergen, den es erheblich härter getroffen hat, würde 132 oder 151 Euro täglich erhalten, je nachdem, ob Erwerbsminderung oder Behinderung maßgebend sein sollen.
Ob sich Schwintowski mit seinem Vorschlag durchsetzt, ist offen. Schließlich müssten alle Versicherten gemeinsam das für höhere Entschädigungen notwendige Geld aufbringen und höhere Beiträge akzeptieren. Der Wissenschaftler selbst schätzt: Jeder Autofahrer müsste pro Jahr rund 18 Euro mehr Beitrag für die Haftpflichtversicherung bezahlen.