Poly­pillen Praktisch, aber nicht wirk­samer

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Ein Drittel aller Todes­fälle in Deutsch­land geht auf das Konto von Herz-Kreis­lauf-Krankheiten. Unterschiedliche Ursachen lösen sie aus. Je nach Risiko­faktor verordnen Ärzte normaler­weise einzelne Präparate. Seit kurzem gibt es Poly­pillen: Sie kombinieren mehrere Wirk­stoffe in einer einzigen Tablette. Eine Studie hat nun den Nutzen der Poly­pillen ausgewertet. test.de erklärt, wem sie helfen können und wo ihre Grenzen liegen.

Mehrere Wirk­stoffe in einer Tablette

Herz­schwäche, Infarkt, Schlag­anfall – Herz-Kreis­lauf­erkrankungen verursachen in Deutsch­land und anderen europäischen Staaten die meisten Todes­fälle. Mit dem Alter steigt das Risiko, vor allem wenn Blut­hoch­druck und ein erhöhter Cholesterinspiegel dazu kommen. Poly­pillen sollen in erster Linie diese beiden Risiko­faktoren in Schach halten. Die Präparate enthalten eine Kombination aus mehreren Wirk­stoffen in einer einzigen Tablette, die gleich­zeitig etwa die Blut­fett­werte und Blut­hoch­druck senken oder das Blut verdünnen können.

In Deutsch­land erhältlich: Sincronium und Triveram

Im Jahr 2003 trugen britische Forscher das Konzept der Poly­pillen erst­mals in die Öffent­lich­keit. Ihrer Vision nach sollten sogar alle Menschen ab 55 Jahren ein solches Medikament zur allgemeinen Vorsorge einnehmen, nicht nur die Risikopatienten. In Deutsch­land sind bislang zwei Poly­pillen auf dem Markt: Sincronium ist seit 2015 nur für Menschen zugelassen, die bereits einen Herz­infarkt oder Schlag­anfall erlitten haben, Triveram nur bei nachgewiesenen Risiken.

Studie: Poly­pille hilft weniger als erwartet

Jetzt hat ein Team von Medizinern aus Groß­britannien und den USA verschiedene Studien zu Poly­pillen ausgewertet und als Über­sichts­studie in der Daten­bank der renommierten Cochrane Library veröffent­licht. Das Fazit: Der Nutzen der Pille bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Wem die Poly­pille nutzen kann

Laut Studien­über­sicht profitiert vorrangig eine Gruppe von der Poly­pille: Menschen, bei denen sowohl Blut­hoch­druck als auch erhöhte Blut­fett­werte diagnostiziert wurden und die gegen beides bereits mehrere Medikamente einnehmen. Dann kann die Poly­pille die Anzahl der einge­nommenen Medikamente reduzieren und helfen, den Über­blick bei der täglichen Medikamenten­einnahme zu behalten. Allerdings enthalten Poly­pillen die einzelnen Wirk­stoffe in starrer Dosierung. Ein Arzt sollte daher vor der Verschreibung genau einschätzen, ob sie wirk­lich zum Bedarf des Patienten passen.

Kein Vorteil gegen­über Kombination mehrerer Einzel­präparate

Insgesamt scheint die Poly­pille nicht besser zu wirken als eine Kombination von mehreren Präparaten. Beide Arten der Behand­lung können in etwa gleichem Maße Blut­druck und Cholesterin­werte günstig beein­flussen und das Sterberisiko verringern. Der Grund: Die Medikamente können dafür sorgen, dass es zu weniger Ablagerungen in den Gefäßen kommt und Adern nicht verstopfen. Verstopfte Adern im Bereich des Herzens können zum Herz­infarkt führen, im Gehirn zum Schlag­anfall.

Individuell zuge­schnittene Therapien oft sinn­voller

Die Forscher zeigen auch die Grenzen einer Rundum-Behand­lung mit der Poly­pille auf. So erwiesen sich für viele ältere Menschen, deren Risiko­faktoren für Herz­kreis­lauf­erkrankungen nur an der Grenze zur Behand­lungs­bedürftig­keit liegen, individuell zuge­schnittene Therapien als sinn­voller. Wenn bei diesen Menschen keine weiteren Risiko­faktoren wie Rauchen und Überge­wicht dazu kommen, reicht es oft, nur den Blut­hoch­druck oder nur die Blut­fett­werte mit speziellen Medikamenten zu behandeln.

Gesunde Senioren brauchen keine Poly­pille

Die Studien weisen auch darauf hin, dass ein gesunder Lebens­stil Wunder wirken kann: Nicht rauchen, Überge­wicht vermeiden, viel Bewegung, eine ausgewogene Ernährung – wozu reichlich Obst, Gemüse, Voll­korn, vorteilhafte Fette wie Oliven- und Raps-Öl sowie wenig Fleisch gehören. Die Idee, gesunden älteren Menschen vorsorglich eine Poly­pille zu verabreichen, hat sich nicht durch­gesetzt. Studien konnten den Nutzen nicht in absoluten Zahlen belegen – und auch gegen­über möglichen Schäden nicht ausreichend abwägen.

Neben­wirkungen noch wenig erforscht

Bislang ist noch wenig erforscht, wie sicher das Zusammen­spiel der Wirk­stoffe in Poly­pillen wirk­lich ist. Die einzelnen Substanzen bergen schließ­lich schon ein Risiko für unterschiedlichste unerwünschte Neben­wirkungen.

  • Statine. Sie werden gegen erhöhte Blut­fett­werte einge­setzt und können zu Muskel­schwäche oder Muskel­schmerzen führen.
  • Blut­druck­senker. Je nach Wirk­stoff­klasse können Blut­druck­senker beispiels­weise zu Kopf­schmerzen oder Reizhusten führen oder die Nieren­funk­tion beein­trächtigen.
  • Acetylsalicylsäure. Der Aspirin-Wirk­stoff Acetylsalicylsäure, den einige Poly­pillen zur Blut­verdünnung enthalten, kann auf den Magen schlagen.

Darüber hinaus können Wechsel­wirkungen mit zusätzlich einge­nommenen Medikamenten zum Problem werden. Was positiv auffällt: Patienten, die an Studien zu Poly­pillen teil­genommen haben, vertrugen sie über­wiegend gut. Derzeit laufen sechs Studien mit verschiedenen Poly­pillen, die bald neue Erkennt­nisse liefern sollen.

Das eigene Risiko berechnen

Das Tückische an Herz-Kreis­lauf-Krankheiten ist: Erhöhte Cholesterin­werte, Blut­hoch­druck und Gefäß­ablagerungen verursachen oft über Jahre keine Beschwerden und bleiben unbe­merkt. Wenn Ihr Arzt ein spezielles Programm der Europäischen Gesell­schaft für Kardiologie nutzt, kann er Ihr persönliches Zehn-Jahres-Risiko für einen Tod durch Herz-Kreis­laufkrankheiten berechnen. Er muss dann Ihre Werte für Cholesterin und Blut­druck sowie individuellen Risiko­faktoren wie Rauchen und Überge­wicht eingeben – die Daten bleiben dabei anonym, so dass keine Rück­schlüsse auf Sie als Person möglich sind. Mehr Infos dazu unter www.heartscore.org.

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