
Keine Angst! Der will nur spielen.
Bis vor ein paar Tagen konnte unser Redakteur Martin Gobbin einen Zubat nicht von einem Bisasam unterscheiden. Inzwischen ist er im Spiel auf Level 5 angekommen – doch das hat Nerven gekostet. Lesen Sie hier seinen Erlebnisbericht. Wie die Stiftung Warentest das Datensendeverhalten der App bewertet, lesen Sie in unserem Schnelltest Pokémon-App.
Volltreffer in der U-Bahn!

Hurra, 2048 Sternenstaub! Nur was heißt das?
Ich knalle den Mann in der U-Bahn ab. Mit einem Pokéball. Der Ball hüpft auf seine Hose und springt weiter Richtung Oberkörper. Der Mann merkt davon nichts. Trotzdem fühle ich mich etwas seltsam, da ich die Kamera meines Smartphones seit Sekunden direkt auf ihn richte, als würde ich ihn filmen. Geht aber nicht anders, denn vor seinen Füßen flattert ein Zubat herum und ich will es auf keinen Fall entwischen lassen. Außer mir kann niemand dieses fledermaus-artige Wesen sehen. Nachdem der erste Wurf statt des Zubats den Fahrgast getroffen hat, erwische ich das Monster mit dem zweiten Ball. „Klasse!“, lobt mich die App. Der Mann gegenüber guckt langsam komisch.
Zu alt für den Sch…pielspaß

Harte Arbeit: Redakteur Martin Gobbin beim Pokémon-Dienstgang.
Dass mir das Einfangen der lila-blauen Fledermaus gelingt, habe ich unserem 15-jährigen Praktikanten Marc zu verdanken. Ich selbst bin mit meinen 32 Jahren nämlich zu alt für den Quatsch, wie ich ernüchtert feststellen muss. Dass die App anfangs mehr Fehlermeldungen als Monster zeigt, liegt zwar an den überlasteten Servern des Herstellers Niantic. Doch als sie dann endlich funktioniert, komme ich auch nicht wirklich weiter. Wer noch nie zuvor etwas mit Pokémons – Stopp! Der korrekte Plural lautet „Pokémon“ – zu tun gehabt hat, ist ohne Anleitung erst mal aufgeschmissen. In der Nähe meiner Wohnung gibt es einen sogenannten Pokéstop – ein Löwen-Ornament in einer Hausfassade. Ich gehe hin, tippe auf das Pokéstop-Symbol, woraufhin mir das Spiel ein Foto der Hausverzierung zeigt. Ich bewundere es ein paar Sekunden lang, weiß aber leider nicht, was ich sonst noch damit anfangen soll.
So läuft das Spiel auf dem Smartphone
Marc erklärt mir später im Büro, dass ich das Foto drehen muss, woraufhin es Pokébälle ausspuckt, die ich dann einsammele, um sie auf wilde Monster zu schleudern. Solange ich zum Sammeln von Bällen einfach nur durch die Gegend laufe, zeigt das Spiel eine Landkarte, die zwar der tatsächlichen Geographie des jeweiligen Ortes entspricht, aber dennoch einer reinen Videospiel-Optik folgt. Sobald aber ein Monster erscheint, schaltet sich die Handy-Kamera ein und vermischt Spiel und Wirklichkeit. So sehe ich in der U-Bahn den mir gegenüber sitzenden Fahrgast auf dem Smartphone-Display – die App Pokémon Go blendet in diesen Realitätsausschnitt zusätzlich ein comicartiges Monster ein, in diesem Fall das Fledermaus-Pokémon Zubat. Mein Smartphone ist das Portal zu dieser „Augmented Reality“, einer digital erweiterten Realität.
Draußen – auf der Jagd

Wie soll dieses Riesen-Viech denn in den kleinen Ball passen?
Marc und ich laufen durch die Stadt, er soll mir beibringen, wie man einen Ball auf den Kopf eines Monsters wirft, um es zu fangen. Mit Bällen etwas einzufangen erscheint mir zwar reichlich unlogisch. Aber wie ich feststelle, öffnen sich die Bälle, sobald ich ein Monster getroffen habe, und schließen es ein. Leider gestaltet sich das Werfen für mich als Uneingeweihten relativ schwierig. Muss ich auf den Ball am unteren Bildschirmrand des Handys drücken? Oder auf das Ziel, das Monster? Und was zur Hölle bedeuten der weiße und der ständig seine Größe ändernde grüne Kreis rund um das Viech, das sich zum Glück nicht viel bewegt? Für Marc ist das alles klar wie Pokémonbrühe: „Wenn der grüne Kreis möglichst klein ist, wirfst du den Ball. Das funktioniert, indem du vom Ball aus über den Bildschirm wischst. Je nachdem, wie weit das Pokémon entfernt ist, musst du kürzer oder länger wischen.“ Marc muss noch viele dumme Fragen meinerseits ertragen – seine Erklärungen zum Pokédex, zu Power-ups, Sternenstaub und Brutmaschinen klingen für mich wie eine Fremdsprache. Immerhin kapiere ich aber, dass andere Spieler mir in der Wildbahn auftauchende Pokémon nicht wegnehmen können, dass es jedoch weltweit drei gegeneinander agierende Teams gibt und ich meine Monster in Wettkampfarenen gegen die Monster anderer Spieler kämpfen lassen kann. Dafür muss ich aber erst mal Level 5 erreichen. Als ich das endlich geschafft habe, ist Marcs Praktikum längst vorüber, weshalb meine ersten und einzigen Kampfversuche so enden wie ein Boxkampf zwischen Vladimir Klitschko und Helene Fischer.
Die virtuelle und die reale Welt

Fight Club: Der violette Turm ist eine Kampfarena.
Weltweit greift die Pokémania um sich – doch ich muss nach einigen Tagen des Selbstversuchs gestehen, dass mich das Spiel nicht packt. Faszinierender finde ich, wie es die virtuelle Spielwelt in die Realität einbettet und welche Auswirkungen es auf die reale Welt hat: In Saudi-Arabien etwa gibt es das Spiel noch gar nicht offiziell. Doch die zahlreichen Downloads aus fragwürdigen Quellen haben den Gottesstaat veranlasst, es per Fatwa zu verdammen. Begründung: Pokémon Go sei unislamisch, enthalte „Vielgötterei“ und zeige Figuren, die auf der Evolutionslehre von Charles Darwin basieren.
Aus Spielgeld wird echtes Geld

Schnäppchen: Ein virtueller Beutel kostet rund 2 (reale) Euro.
Wie man mit dem Verkauf digitaler Spielgegenstände reales Geld verdient, zeigt App-Hersteller Niantic. Die im Spiel erhältlichen Münzen, Bälle und Zaubertränke sollen laut Medienberichten täglich über eine Million US-Dollar einbringen. Auch die Partner von Niantic profitieren: Während die Aktienkursgrafik von Nintendo – einem der Investoren von Niantic – vor der Veröffentlichung des Spiels wie ein Streckenprofil im Flachland aussah, erinnert sie seit dem Start von Pokémon Go eher an den Anstieg des Mount Everest. Auch Kleinunternehmer wie Restaurant- und Café-Besitzer kamen rasch auf die Idee, aus dem Pokémon-Hype Gewinn zu schlagen: Einige kaufen Lockmodule, um erst virtuelle Monster und darüber dann Kunden zu ködern. McDonald’s hat mit Niantic einen Vertrag abgeschlossen, damit die japanischen Filialen der Fast-Food-Kette verstärkt in das Spiel einbezogen werden – wie viel die Burgermeister dafür bezahlen müssen, ist nicht bekannt. Klar ist aber, dass zahlreiche andere Unternehmen künftig ebenfalls Pokéstops sponsern werden, um ihre Einnahmen zu erhöhen. Nintendo wiederum will ab Ende Juli ein Armband namens Pokémon Go Plus verkaufen, mit dem Spieler auch ohne Blick auf’s Smartphone Monster fangen können. Angekündigter Preis: 39,99 Euro. „Ob das wirklich wer kauft?“, frage ich mich. Ein Blick in den Nintendo-Shop zeigt, dass man es derzeit nicht ordern kann. Diverse Medien berichten, das liege daran, dass bereits zu viele Bestellungen eingegangen sind.
Böse Überraschungen für Jäger und Sammler

Lieber gegen Golbat verlieren als vom Auto überfahren werden.
Laufen, fangen und kämpfen – mehr passiert in Pokémon Go eigentlich nicht. Dennoch begeistert das Spiel weltweit Millionen von Menschen. Stundenlang laufen sie durch die Straßen und starren auf ihr Handy. Dabei geschieht ihnen alles Mögliche: Unaufmerksame Spieler steuern ihre Fahrzeuge gegen Bäume, zockende Fußgänger werden von Autos überfahren. Menschen betreten unerlaubt militärisches Sperrgebiet und fallen von Klippen. Sie belagern die Grundstücke von Fremden, stoßen auf Leichen, werden von Kriminellen ausgeraubt oder von Hausbesitzern mit scharfer Munition beschossen.
Effektiver als Fitness-Apps

Auch in die Büros der Stiftung Warentest dringen die Monster ein.
Bei all den berechtigten Sorgen um den Datenschutz und die Sicherheit der Nutzer darf man aber auch die positiven Seiten des Spiels nicht vergessen: Es sorgt dafür, dass sich Bürohengste, Stubenhocker und Sportmuffel freiwillig bewegen und voller Spaß gegen überflüssige Pfunde ankämpfen. Betreiber von Fitnessstudios und Hersteller von Fitnessarmbändern fürchten vermutlich um ihre Existenz. Klar, dem App-Hersteller Niantic dürfte es vor allem um finanziellen Profit gehen. Dennoch: Die Ankündigung in den Trainer-Richtlinien, das Spiel sei dazu da, dass „du nach draußen gehen und deine Welt erkunden kannst“, scheint nicht nur Marketing-Geschwurbel zu sein. Das legen insbesondere die virtuellen Eier nahe, die nur ausgebrütet werden können, indem der Nutzer sich bewegt – kilometerweit. Manche Eier öffnen sich nach zwei, andere nach fünf, einige sogar erst nach zehn Kilometern. Und die App scheint tatsächliches Laufen von Fahrrad- oder Autofahren unterscheiden zu können: Im Selbstversuch wurden nur die Kilometer angerechnet, die ich zu Fuß zurücklegte.
Romantischer als Tinder

Digda wirkt etwas traurig, verkuppelt manchmal aber Menschen.
Und noch etwas Erstaunliches passiert dank Pokémon Go: Während Smartphones mit Hilfe von Telefonaten, SMS und Messenger-Apps persönliche Treffen häufig überflüssig machen, bringt dieses Spiel die Menschen zueinander. Wer stundenlang durch die Straßen läuft und dabei zahlreichen anderen Spielern begegnet, kann gar nicht anders, als ab und zu mal über den Displayrand zu blicken und Fremden zu begegnen. Das Spiel erschafft ein Gemeinschaftsgefühl und lässt neue Freundschaften entstehen – mitunter verlieben sich Menschen sogar dabei. In rund neun Monaten dürften die ersten Babys geboren werden, die es ohne Pokémon Go nicht gegeben hätte. Vermutlich werden dann auch Berichte erscheinen über Eltern, die den Nachwuchs „Pikachu“, „Zubat“ oder „Snorlax“ nennen wollen.