
Viele Pflegebedürftige möchten nicht ins Heim. Wenn sie verschiedene Hilfsangebote nutzen, kann die Pflege zu Hause auch gut gelingen. Vom Essen auf Rädern über Tagespflege bis Notruf steht viel zur Wahl.
Im Flur des Pflegestützpunkts Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin liegen Dutzende bedruckte Papiere aus. Informationsblatt Nummer 1 befasst sich mit häuslicher Krankenpflege, Nummer 5 mit der Auswahl eines Pflegedienstes, Nummer 37 mit Hilfen vom Bezirksamt. Die pure Zahl der Zettel zeigt: Der Beratungsbedarf ist hoch, das Thema kompliziert.
Pflegebedürftigkeit ändert das Leben einschneidend. Viele wollen in ihrem vertrauten Zuhause bleiben, Angehörige möchten ihnen das Heim ersparen. Bloß: Wie soll das gehen? Gerade wenn jemand allein lebt oder viel Hilfe braucht, scheint es auf den ersten Blick unmöglich. Ein Pflegedienst für 24 Stunden am Tag kostet jeden Monat fünfstellige Summen und ist damit für die meisten unbezahlbar. Eine osteuropäische Betreuungskraft kann und möchte nicht jeder engagieren (Test Pflege zu Hause, test 5/2017).
Es gibt einen dritten Weg: die Kombination von Hilfsangeboten, die vor Ort zur Verfügung stehen. Sie können Pflegebedürftigen ein Leben zu Hause ermöglichen. Das zeigen auch die Geschichten von Irmgard Wittkuhn und Ursula Ladenthin. Die eine braucht bislang wenig Hilfe, die andere dreimal pro Woche Unterstützung vom Pflegedienst, dreimal Tagespflege und die Hilfe zweier Freundinnen.
Beratung ist das A und O
Es fällt meist nicht leicht, die passenden Schritte einzuleiten. „Viele Pflegebedürftige und Angehörige sind erst einmal in Sorge und ratlos“, sagt Gisela Seidel, die den Pflegestützpunkt Friedrichshain-Kreuzberg leitet. „Die neue Situation ist enorm belastend, zugleich muss wahnsinnig viel entschieden und geregelt werden – und das bei einer komplizierten Gesetzeslage.“ Persönliche Beratung sei das A und O. „Man kann all das, was ansteht, nicht bloß aus Papieren und mit dem Internet lösen.“
Tipp: Für Pflegebedürftige und Angehörige gibt es viele kostenlose Anlaufstellen – die Pflegekasse, Pflegestützpunkte, weitere Beratungsstellen, etwa von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Sie können per Postleitzahl nach Ansprechpartnern suchen – auf der Internetseite bdb.zqp.de des Zentrums für Qualität in der Pflege.
Die Karten auf den Tisch legen
Die persönliche Beratung hilft zu ergründen, wie das Zu-Hause-Bleiben gelingen kann. Gisela Seidel spricht von einem „Versorgungsnetz“, das zu knüpfen sei. In erster Linie zählten zwei Fragen: „Was genau ist an Hilfe nötig? Und wer kann was davon übernehmen?“ Es geht um alle Bereiche des täglichen Lebens. Gisela Seidel veranschaulicht sie bei ihren Gesprächen mit Kreisen aus farbigem Papier, mit Filzstift beschriftet. „Körperpflege“ steht da etwa, „Ernährung“, „Haushalt“, „Finanzen“, „Ressourcen“. Nach und nach legt Seidel ihre Karten auf den Tisch. Sie zeigen, wo Bedarf besteht. „Und dann schauen wir mit den Ratsuchenden nach passgenauen Lösungen und helfen, diese praktisch umzusetzen. “
Ein Hausnotruf ist wichtig
Häufig übernehmen Partner, Kinder, Schwiegerkinder viele Aufgaben. „Es wäre natürlich gut, wenn Angehörige zumindest ab und zu vorbeischauen können“, sagt Seidel. Mitunter sähen aber auch Nachbarn oder Freunde regelmäßig nach dem Rechten. Und dann gebe es ja auch noch die professionellen Hilfen.
Je nach Bedarf könne etwa mehrmals pro Woche bis mehrfach täglich ein Pflegedienst kommen, mittags Essen auf Rädern, ab und zu ein Lieferservice für sonstige Lebensmittel, einmal wöchentlich eine Putzfrau. Sehr wichtig für Alleinlebende: ein Hausnotruf, um im Ernstfall Hilfe zu alarmieren. Das gibt, so Seidel, „im täglichen Leben ein großes Gefühl von Sicherheit“.
Tipp: Von Hausnotruf bis Verhinderungspflege – wir stellen Ihnen die wichtigsten Möglichkeiten vor. Listen von Anbietern in der Gegend bekommen Sie zum Beispiel bei Pflegeberatungsstellen, die auch helfen, sinnvolle Kombinationen zusammenzustellen. Oder Sie suchen selbst im Internet, etwa per Postleitzahl auf dem Portal pflegelotse.de oder direkt mit den gewünschten Suchbegriffen.
Gelder von der Kasse beantragen
Die Pflegeversicherung finanziert viele Leistungen bei anerkannter Pflegebedürftigkeit. Dafür ist ein Antrag bei der Kasse zu stellen. Sie schickt dann einen Gutachter, der den Bedarf prüft. Das System steht seit Anfang 2017 auf neuen Füßen. An die Stelle der früheren Pflegestufen traten fünf Pflegegrade. Vor allem die ambulante Versorgung wird seither besser unterstützt.
Viele Kassengelder gibt es erst ab Pflegegrad 2. Aber auch Pflegegrad 1 bringt schon etwas. Er ist für leichte Einschränkungen vorgesehen, für die es oft noch keine Pflegestufe gegeben hätte, und er umfasst bereits einige Leistungen. Dazu zählen „wohnumfeldverbessernde Maßnahmen“ wie Türverbreiterungen. Das kann die Weichen stellen, um trotz Handicaps zu Hause zu bleiben. Ab Pflegerad 1 bis zum Grad 5 steht der „Entlastungsbetrag“ zur Verfügung: 125 Euro im Monat. Er ist vielseitig verwendbar – aber nur auf Antrag bei der Pflegekasse und zweckgebunden. Nutzen lässt er sich etwa für „Angebote zur Unterstützung im Alltag“. Die Palette ist breit – von Hilfe im Haushalt bis zu Vorlesediensten oder Besuchen in Demenz-Cafés. Allerdings müssen die Angebote nach Landesrecht anerkannt sein.
Tipp: Anerkannte Leistungen können Sie zum Beispiel bei der Pflegekasse erfragen, bei Pflegeberatungsstellen oder bei der Stadt- oder Gemeindeverwaltung.
Kosten steuerlich absetzen
Trotz gesetzlicher Pflegeversicherung fallen bei vielen Bedürftigen Kosten an, die sie selbst tragen, wenn nur geringe oder gar keine Leistungen bewilligt wurden. Haben Betroffene wenig Einkommen und Ersparnisse, springt oft das Sozialamt ein.
Tipp: Ausgaben im Zusammenhang mit Pflege und Krankheit sowie für Arbeiten rund um Haushalt und Garten, die Versicherungsträger nicht erstatten, können Sie in der Steuererklärung geltend machen. Mehr erfahren Sie in unserem Special Haushaltsnahe Dienstleistungen, Finanztest 3/2017.
Bei Konflikten vermitteln
Ein Netz aus passenden Hilfsleistungen kann lange halten. Doch oft fällt im Laufe der Zeit auf, dass es nicht reicht, etwa weil körperliche Gebrechen zunehmen, Demenzpatienten mehr Betreuung brauchen, Gepflegte und Angehörige überfordert oder unzufrieden mit der Arbeit professioneller Helfer sind. „Dann lohnt es, sich nochmals an eine Beratungsstelle zu wenden und neu zu überlegen“, so Seidel. „Wir können zum Beispiel versuchen, bei innerfamiliären Konflikten zu vermitteln.“ Auch ein klärendes Gespräch mit der Leitung des Pflegedienstes löse durchaus Probleme – oder notfalls ein Wechsel des Anbieters.
Tagespflege ist wenig bekannt
Manchmal kristallisiert sich bei Seidels Beratungen auch heraus, dass ein Umzug ins Heim möglicherweise die bessere Lösung ist. „Bei der Entscheidung kann das Probewohnen helfen, das die Einrichtungen oft anbieten“, sagt sie. „Zudem gibt es immer mehr Wahlmöglichkeiten.“ Betreute Wohngruppen beispielsweise hätten oft einen sehr familiären Charakter. Weitere Informationen erhalten Sie in unserem Special Stationäre Pflege, test 11/2015.
Einige Pflegebedürftige wählen einen Mittelweg: Sie gehen einmal oder mehrmals pro Woche in die Tagespflege – zur Abwechslung für sich oder damit pflegende Angehörige Zeit für sich oder ihren Job haben. Seidel nennt Tagespflege „ein tolles, viel zu wenig bekanntes Angebot“.
Es lässt sich etwa im Caritas-Seniorenzentrum St. Johannes in Berlin-Kreuzberg besichtigen: eine Tagespflegestation mit breiten Fluren, Terrasse, Speise-, Gemeinschafts-, Ruheräumen. Möbliert ist alles wie eine gemütliche Wohnung, inklusive Wellensittich-Voliere. An der Wand Porträts von Senioren beim Kostümball.
„Unser Altersspektrum reicht von 64 bis 102“, sagt Leiterin Martina Theißen. Zwischen den Mahlzeiten gibt es je nach Neigung Programm: von Bewegungs- und Gedächtnistraining, Singen, Spielen, Backen, Maniküre bis zur Skatrunde. „Im Sommer versuchen wir, möglichst alles im Garten zu machen“, so Theißen. Ihr Team übernimmt auch Pflegeaufgaben. „Viele unserer Gäste brauchen das aber kaum. Es geht vor allem um Gemeinschaft und Spaß.“
Vertieft. Einen Gesamtüberblick gibt das Themenpaket Pflege, erhältlich für 5 Euro. Auch unser Buch Schnelle Hilfe im Pflegefall, 16,90 Euro, hilft weiter.