Pflege ohne Zwang Mobilisieren statt fixieren – der Werdenfelser Weg

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Pflege ohne Zwang - Mobilisieren statt fixieren – der Werdenfelser Weg

Verletzungs­gefahr verringert. Ein Nied­rigflurbett mit einer Matratze davor hilft. © Sven Hobbiesiefken

Pfle­gekräfte dürfen Heimbe­wohner nicht ohne richterliche Genehmigung fest­binden oder ruhig­stellen. Sie haben bessere Möglich­keiten.

Zweimal fiel die 80-jährige Frau aus dem Bett im Pfle­geheim und verletzte sich den Kopf und das Hand­gelenk. Damit das nicht noch einmal passiert, beantragte ihre Tochter beim Betreuungs­gericht, die Bett­seiten­teile nachts nach oben zu stellen.

Für Cornelia Roesmer ist das ein typischer Fall aus ihrer Arbeit. Sie ist freiberufliche Pflegesach­verständige in Berlin und prüft als Verfahrens­pflegerin für das Betreuungs­gericht Anträge auf frei­heits­entziehende Maßnahmen in Pfle­geheimen: „Die Sorge der Angehörigen um die pflegebedürftigen Eltern oder den Partner ist groß. Viele wissen nicht, dass es Alternativen gibt.“ Statt des hoch­gezogenen Seiten­teils könne etwa auch ein geteiltes Bett­seiten­teil helfen oder Bewegungs­training die Muskulatur stärken.

Einge­schränkte Freiheit

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Therapietisch. Ein einge­steckter Tisch, fest­geschraubt an einem Roll­stuhl, kann die Freiheit einschränken.

Frei­heits­entziehende Maßnahmen sorgen dafür, dass ein Mensch sich nicht mehr bewegen oder den Ort wechseln kann. Das nach oben gezogene einteilige Bett­seiten­teil zählt genauso dazu wie das Abschließen von Türen und der Gurt, der den Bewohner an den Stuhl fesselt. Pfle­gekräfte sprechen in diesen Fällen von Fixieren.

Mit jeder Hand­lung, die einen nicht einwilligungs­fähigen Menschen in seiner Fortbewegungs­freiheit auf Dauer einschränkt, muss zunächst der gesetzliche Vertreter einverstanden sein. Sie muss dann vom Amts­gericht genehmigt werden. Einschränkungen sind außerdem nur erlaubt, wenn ein Heimbe­wohner droht, sich gesundheitlich erheblich zu schädigen oder zu töten.

Cornelia Roesmer hat mehrere Jahre als Pfle­gekraft gearbeitet: „Ich kenne die Abläufe im Pfle­geheim und die Möglich­keiten.“ Es sei auch Frei­heits­entzug, wenn man einem Menschen Gehhilfen oder Kleider wegnehme.

Klärung im Auftrag des Gerichts

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Medikamente. Werden Arznei­mittel Heimbe­wohnern zur Ruhig­stellung gegeben, gilt das als Frei­heits­entzug.

Erst seit einigen Jahren schreibt die 52-Jährige Stellung­nahmen über frei­heits­entziehende Maßnahmen für Gerichte. Sie ist Teil des Werdenfelser Weges, in dem seit 2010 gericht­lich geschulte Fachleute aus der Pflege als Verfahrens­pfleger einge­setzt werden. Sie vertreten – anstelle eines Anwalts – die Interessen des Betroffenen.

Das neue Verfahren geht zurück auf ein Modell­projekt in Garmisch-Partenkirchen, das der Betreuungs­richter Sebastian Kirsch und der dortige Leiter der Betreuungs­behörde Josef Wasser­mann entwickelt haben Interview: Der Werdenfelser Weg. Inzwischen arbeiten etwa 175 Gerichte bundes­weit danach.

Roesmer holt als Verfahrens­pflegerin alle an der Pflege Beteiligten ins Boot. Sie spricht mit dem Personal und wenn möglich mit dem Pflegebedürftigen, ansonsten mit dem gesetzlichen Vertreter – meist dem Angehörigen: „So erfahre ich, ob es sich um eine unver­meid­bare frei­heits­entziehende Schutz­maßnahme handelt und kann dem Richter eine Einschät­zung geben.“ Oft stellt sich heraus, dass das Fixieren gar nicht nötig ist.

Bei fort­geschrittener Demenz

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GPS-Ortung. Geräte zur Ortung von Personen im Heim müssen vom Gericht genehmigt werden. © accent-technologies

Für Menschen, die sich häufiger schwer verletzen, werden mehr Anträge bei Gericht gestellt. Das gilt vor allem für Bewohner mit fort­geschrittener Demenz. Sie haben oft einen starken Drang, sich zu bewegen. Sie verlassen das Heim, laufen ziellos herum, manchmal bis zur Erschöpfung, oder bewegen sich unkoor­diniert.

Cornelia Roesmer: „In dem Fall gehe ich in die Vergangenheit des Demenz­erkrankten und versuche mit den Angehörigen Gewohn­heiten heraus­zufinden.“ Nicht selten sind es Erleb­nisse aus der Kindheit, wie Gefühle von Einge­sperrt­sein, die starke Emotionen wie Aggressionen hervorrufen. Geht das Pflege­personal darauf ein, können viele Fixierungen vermieden werden.

Fixierungs­quote abhängig vom Heim

Wie viele Bewohner eines Heims fixiert werden, geht von Einrichtung zu Einrichtung weit auseinander. Eine Studie in 30 Hamburger Pfle­geheimen zeigt Anteile von knapp 5 bis fast 65 Prozent der Bewohner, die in einem Jahr mindestens einmal fixiert wurden. Am häufigsten geschah das durch hoch­gezogene Bett­seiten­teile, schlüsselt die Studie der Universitäten Witten/Herdecke und Hamburg auf.

Dabei sind sie nicht ungefähr­lich. Versucht der Bewohner, darüber zu klettern, kann er schwer stürzen.

Betreuungs­richter Sebastian Kirsch sieht in der Häufig­keit von Fixierungen einen Hinweis auf die dahinterliegende Grund­einstellung des Heimes: „Gehen Pfle­gekräfte darauf ein, was ihre Bewohner brauchen, empfehlen sie längst nicht so oft frei­heits­entziehende Maßnahmen.“

Alten Menschen mit wenig Muskel­kraft ist manchmal mit Bewegungs­training besser gedient als mit Ruhig­stellen. Auch eine gute tech­nische Ausstattung kann das Fixieren über­flüssig machen.

Nied­rigflurbetten und zwei­teilige Bett­seiten­teile kombiniert mit einer Sturzmatte federn Stürze aus dem Bett ab. „Wir konnten damit die Zahl der Verletzungen minimieren“, sagt Manuela Gallo. Sie ist Pflege­dienst­leiterin in den DRK-Kliniken Berlin, Pflegen und Wohnen Mariendorf. Auch kleinere Hilfs­mittel wie eine Anti­rutsch­matte auf dem Roll­stuhl, ausreichend Licht oder Stop­persocken statt Nylon­strümpfen verringern die Sturzgefahr.

Stürze sind teuer

Viele Heime sehen sich jedoch in einem Konflikt. Verletzt sich ein Bewohner schwer, fragen die Krankenkassen nach, wie es dazu gekommen ist. Denn Stürze sind teuer. Ein Oberschenkelhals­bruch kann Kosten bis zu 15 000 Euro verursachen.

Verlangt die Krankenkasse das Geld zurück, gerät das Heim schnell in finanzielle Bedräng­nis. Der Druck auf das Personal steigt, die Bewohner nicht stürzen zu lassen. Richter Kirsch: „Die Folge ist, dass die Bewohner aus über­steigertem Sicher­heits­denken fest­gehalten und ruhig­gestellt werden.“ Damit das im Mariendorfer Pfle­geheim nicht passiert, gibt es hier jedes halbe Jahr eine Auswertung der Stürze. Manuela Gallo: „Wir versuchen damit Unfall­quellen und alternative Möglich­keiten zu finden.“

Das Bewusst­sein für Alternativen zu frei­heits­entziehenden Maßnahmen wächst. Das zeigt die Zahl der Gerichts­verfahren. Statt mehr als 106 000 im Jahr 2010 wurden 2013 nur noch knapp über 83 000 Genehmigungs­verfahren geführt.

Sebastian Kirsch: „Pfle­geeinrichtungen brauchen außerdem eigentlich keine Haftungs­sorgen mehr zu haben, wenn ein Bewohner sich verletzt. 2005 machten zwei Entscheidungen des Bundes­gerichts­hofs deutlich, dass Pfle­gekräfte nur in absoluten Ausnahme­fällen verantwort­lich sind.“

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