Eine Organspende kommt nur infrage, wenn das Gehirn vor allen anderen Organen versagt hat. Im Interview erklärt Dr. Farid Salih, Intensivmediziner an der Charité Berlin, wie er die Diagnose Angehörigen überbringt.
Diagnose Hirntod als Voraussetzung für eine Organspende
Ich liebe mein Gehirn – I love my brain. Der Satz steht auf Englisch auf Fahrradhelmen, die wie halbe Bowlingkugeln aussehen. Kaum einem anderen Organ des menschlichen Körpers kommt eine solch wichtige Bedeutung zu wie der Schaltzentrale, die vom Kopf aus die Geschicke des Körpers lenkt. Das Gehirn verarbeitet viele Millionen Sinneseindrücke und lässt uns unsere Umgebung in Formen, Farben, Gerüchen, Geräuschen und Geschmacksempfindungen wahrnehmen. Das knapp eineinhalb Kilogramm schwere Organ steuert nahezu alle lebenswichtigen Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag und ermöglicht das Denken. Dass es seinen Dienst nicht mehr tun könnte, ist für viele Menschen eine erschreckende Vorstellung. Für eine Organspende ist der Hirntod aber Voraussetzung.
Tipp: Organe können auch lebendige Menschen spenden – so etwa Stammzellen aus dem Blut. Hier lesen Sie, wie eine Stammzellenspende abläuft.
Totalausfall der Steuerung
Der Hirntod ist der komplette Ausfall der Schaltzentrale. Sowohl Groß- als auch Kleinhirn und Hirnstamm sind so schwer geschädigt, dass sie sich nicht mehr erholen können. Ärzte sprechen vom „unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktionen“. Dazu kommt es zum Beispiel nach Hirnblutungen oder einem schweren Herz-Kreislauf-Versagen, etwa bei einem Herzinfarkt. Die Gehirnzellen sterben ab, weil sie nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Schon nach wenigen Sekunden führt Sauerstoffmangel im Gehirn zur Bewusstlosigkeit. Kommt es zu einem Kreislaufstillstand von nur wenigen Minuten, ist das Organ unumkehrbar geschädigt.
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Atmung und Herzschlag stoppen
Seltener als Hirnblutungen und Herz-Kreislauf-Versagen führen Unfälle zu einem Hirntod. Aber egal, was die Ursache für den Ausfall der Gehirnfunktion ist, die Folge ist dieselbe: Der Patient hört auf zu atmen, sein Herzschlag stoppt – wenn diese Funktionen nicht intensivmedizinisch aufrechterhalten werden. Um eine Organspende möglich zu machen, müssen sie das.
Hirntod äußerlich nicht erkennbar
Die künstliche Beatmung und weitere intensivmedizinische Maßnahmen führen dazu, dass der Kreislauf noch funktioniert. Das Herz schlägt und die Haut des hirntoten Menschen ist durchblutet und rosig, durch das Beatmungsgerät hebt und senkt sich der Brustkorb. Es sieht so aus, als würde der Patient nur schlafen, der Hirntod ist nach außen nicht erkennbar. Das Gehirn selbst zeigt aber keine Tätigkeit mehr. Die Rezeptoren sind ohne Funktion. Eine Wahrnehmung wie beispielsweise die von Schmerzen ist nicht mehr möglich. Beim Abschalten der Geräte stünden Herz und Blutkreislauf nach kurzer Zeit still.
Hirntod ist mehr als ein Koma
Der komplette, unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen unterscheidet den Hirntod von anderen schweren Hirnschädigungen wie zum Beispiel dem Koma und dem Wachkoma, bei denen jeweils nur Teile des Gehirns betroffen sind. Das Vorliegen eines „tiefen“ Komas gehört zwar zu den Voraussetzungen der Diagnose des Hirntodes, aber einige weitere müssen hinzukommen. Bei Koma und Wachkoma besteht die Möglichkeit, dass sich der Zustand des Patienten wieder bessert, er beispielsweise aus einem Koma erwacht. Wer allerdings hirntot ist, kann nicht mehr erwachen. Eine Rückkehr ins Leben ist bei einer eindeutigen Diagnose ausgeschlossen.
Diagnose Hirntod
Der „unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen“ wird in einem dreistufigen Verfahren festgestellt. Für Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr gelten besondere Regelungen.
Medizinisch-rechtlich klar, ethisch nicht unumstritten
Der medizinisch-rechtliche Rahmen für eine Organspende und das Abstellen auf die Diagnose „Hirntod“ ist in Deutschland klar geregelt. Die Definition, dass der Tod mit dem Hirntod eines Menschen eintritt, ist seit Langem die Basis in der medizinischen Praxis und das Kriterium für eine Organentnahme. Doch das Abstellen auf den Hirntod als eindeutiges Todeskriterium ist ethisch nicht unumstritten. Teilweise stellen Kritiker die „Hirnzentriertheit“ bei der Auffassung vom Menschen in Frage. Auch spirituelle Fragen, wie die Frage, was beim Übergang zwischen Leben und Tod mit dem Bewusstsein, der Seele und dem Geist passiert, bleiben beim Hirntod-Konzept außen vor. Darüber hinaus variieren die Voraussetzungen für eine Organentnahme in den europäischen Ländern. Während in Deutschland der Gesamthirntod vor einer Organentnahme festgestellt sein muss, reicht zum Beispiel in Großbritannien, Belgien, Schweiz oder Spanien die Diagnose Herztod für eine Organentnahme.
Pro Jahr sterben in Deutschland etwa 400 000 Menschen im Krankenhaus. Ein Prozent sind Hirntote. Dr. Salih gehört zu einem Expertenteam, das von kleineren Kliniken hinzugezogen wird, wenn es darum geht, den Hirntod bei einem Patienten festzustellen.
Wie kommen Sie mit dem Thema Hirntod in Berührung?
Ich arbeite in meinem zehnten Jahr auf der neurologischen Intensivstation, neun Jahre davon als Oberarzt. Immer wieder bin ich im klinischen Alltag mit der Frage konfrontiert, ob ein Patient hirntot ist – nicht nur auf meiner Station, sondern auch in anderen Krankenhäusern. Ich gehöre zu einem Expertenteam, dessen Mitglieder von kleineren Kliniken in Nord- und Ostdeutschland hinzugezogen werden können, wenn es darum geht, bei einem Patienten den Hirntod festzustellen. Im Jahr habe ich 15 bis 20 Fälle mit der Diagnose.
Was sind das für Fälle, die zum Hirntod führen?
Oft handelt es sich um Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, wie es nach einem Unfall eintreten kann. Es gibt auch viele Patienten, die eine Hirnblutung hatten oder einen Herz-Kreislauf-Stillstand, etwa nach einem Herzinfarkt. Die Patienten wurden dann reanimiert, das Gehirn ist aufgrund des Sauerstoffmangels jedoch schwer und irreparabel geschädigt.
Sie müssen die traurige Nachricht überbringen, dass ein Angehöriger verstorben ist. Wie gehen Sie vor?
Ein Hirntod tritt nicht plötzlich ein, es ist ein Prozess, der sich über mehrere Stunden, eher noch über Tage hinzieht. Während all dieser Zeit kämpfen wir Ärzte kontinuierlich darum, den Hirntod zu vermeiden. Wir reizen alles aus, was Studien und Richtlinien hergeben – dennoch entgleitet es einem manchmal. Auf der Intensivstation geht es immer um Leben und Tod. Wenn sich der Zustand des Patienten aller Maßnahmen zum Trotz verschlechtert, versuche ich die Familie darauf vorzubereiten, dass es möglicherweise bald zu Ende geht.
Mit welchen Gefühlen gehen Sie in so eine Unterredung?
Ich habe schon viele solcher Gespräche geführt. Dennoch wird es nie zur Routine. Ich denke, das darf es auch nicht werden. Wichtig ist es, auch beim tausendsten Gespräch mit Angehörigen noch empathisch zu sein. Das macht einen guten Intensivmediziner aus. Ich scheue mich nicht vor solchen Gesprächen, auch wenn sie mich natürlich bewegen.
Wie geht es Ihnen damit, einen Hirntod zu diagnostizieren?
In den meisten Fällen tangiert mich ein Hirntod nicht mehr als all die anderen schweren Verläufe, mit denen ich es als Intensivmediziner zu tun habe. Sterben gehört zum Leben dazu. Emotional viel schwieriger finde ich es, wenn der Hirntod nicht diagnostiziert werden kann, weil die Voraussetzungen nicht vorliegen, wir aber dennoch sämtliche Therapien abbrechen, weil dem Patienten nicht mehr geholfen werden kann. Pro Jahr sind es bei uns auf der Station ungefähr 80 bis 100 Todesfälle, nur 10 Prozent davon sind Hirntode. Wie sehr mich ein Todesfall bewegt, ist manchmal auch von der Familienkonstellation des Patienten abhängig. Schlimm ist es immer, wenn kleine Kinder involviert sind. Neulich aber ist eine 83 Jahre alte Dame gestorben, das ist ja eigentlich ein hohes Alter, ein gelebtes Leben. Dennoch tat mir ihr Ehemann sehr leid. Die beiden kannten sich schon seit der Schulzeit. Welche Fälle mir besonders nahegehen, kann ich nicht voraussagen.
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Stiftung_Warentest am 23.11.2020 um 16:52 Uhr
Keine Altersgrenze
@Bella14: Es gibt keine feste Altersgrenze für eine Organspende. Ob ein Organ oder ein Gewebe für eine Transplantation geeignet ist, wird erst im konkreten Fall geprüft. Das Bundesministerium für Gesundheit nennt auch seiner Site das Beispiel, dass eine über 70-jährige mit einer funktionstüchtige Niere als Spenderin in Frage kommt: www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/organspende/faqs.html#c15467 (maa)
Seit ca. 15 J. habe ich einen Organspenderausweis, den ich in größeren Abständen erneuere. Inzwischen bin ich 71 J. alt. Gibt es eine Altersbegrenzung für Spender? D.h. sind bestimmte (oder alle) Organe ab einem bestimmten Alter nicht mehr für eine Spende brauchbar?
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@Bella14: Es gibt keine feste Altersgrenze für eine Organspende. Ob ein Organ oder ein Gewebe für eine Transplantation geeignet ist, wird erst im konkreten Fall geprüft. Das Bundesministerium für Gesundheit nennt auch seiner Site das Beispiel, dass eine über 70-jährige mit einer funktionstüchtige Niere als Spenderin in Frage kommt: www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/organspende/faqs.html#c15467
(maa)
Seit ca. 15 J. habe ich einen Organspenderausweis, den ich in größeren Abständen erneuere. Inzwischen bin ich 71 J. alt. Gibt es eine Altersbegrenzung für Spender? D.h. sind bestimmte (oder alle) Organe ab einem bestimmten Alter nicht mehr für eine Spende brauchbar?