Neue Medikamente Warum Neben­wirkungen oft erst nach­träglich auffallen

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Bei neu zugelassenen Medikamenten offen­baren sich unerwünschte Neben­wirkungen zum Teil erst Jahre später. Eine aktuelle Analyse zeigt , dass in den USA bei jedem dritten neuen Medikament im Nach­hinein Verträglich­keits­probleme auftreten. Das Ergebnis lässt sich nach Ansicht der Arznei­mittel­experten der Stiftung Warentest weit­gehend auf Deutsch­land über­tragen. test.de erklärt, warum bei der Zulassung von Medikamenten nicht alle Risiken erfasst werden können.

USA: Jedes dritte Mittel im Nach­hinein auffällig

Neue Medikamente sind nicht per se besser als lang erprobte Mittel. Bei den Neuheiten offen­baren sich kritische Neben­wirkungen teils erst nach Jahren. Das zeigt eine Analyse aus den USA, die in der renommierten Fach­zeit­schrift Jama erschienen ist. Demnach traten in den ersten zwölf Jahren nach Markt­zulassung bei 32 Prozent der Medikamente ernst­hafte Verträglich­keits­probleme auf, die in den Zulassungs­studien nicht aufgefallen waren. Die beob­achteten Probleme führten in den meisten Fällen dazu, dass in den Beipack­zetteln die Art der Anwendung einge­schränkt wurde, Patienten mit bestimmten Risiken die Medikamente nicht mehr verordnet bekamen oder mehr ärzt­liche Kontrollen gefordert wurden. Die aktuelle Analyse berück­sichtigte 222 Mittel, die die amerikanische Behörde für Lebens- und Arznei­mittel FDA in den Jahren 2001 bis 2010 zugelassen hatte.

Drei Mittel vom Markt genommen

Im Auswertungs­zeitraum hatte die US-Behörde drei der 222 Medikamente gänzlich vom Markt gerufen – weil sie entweder Herz-Kreis­lauf-Risiken oder die Wahr­scheinlich­keit für eine lebens­bedrohliche Virus-Infektion des Gehirns erhöhten. Bei 68 weiteren Medikamenten führten nach­träglich fest­gestellte Neben­wirkungen dazu, dass die Pharma-Anbieter Warn- und Sicher­heits­hinweise veröffent­lichten und die Beipack­zettel entsprechend änderten. Meist erfolgte dies drei bis sechs Jahre, nachdem die Medikamente auf dem Markt waren. In vielen Fällen gab es mehrere Warnungen für einen Wirk­stoff. Es kam auch vor, dass ein Warnhin­weis auf eine gesamte Gruppe von Wirk­stoffen – darunter auch etablierte – ausgedehnt wurde.

Psycho­pharmaka und Biologika oft betroffen

Die meisten Warnungen aus den USA betrafen auch Medikamente in Deutsch­land wie die Fluorochinolon-Antibiotika. Erst ging es um das erhöhte Risiko für Sehnen­entzündungen und -abrisse, danach um mögliche Miss­empfindungen und Taub­heits­gefühle durch Nervenschäden. Am häufigsten von Warnungen betroffen waren Medikamente zur Behand­lung psychischer Störungen, aber auch Biologika, die beispiels­weise bei Rheuma wirken, sowie Mittel, die ein beschleunigtes Zulassungs­verfahren durch­laufen hatten.

Situation in Deutsch­land vergleich­bar

„Die Ergeb­nisse der Analyse aus den USA lassen sich weit­gehend auf Deutsch­land über­tragen“, sagt Professor Gerd Glaeske, Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alters­sicherung der Universität Bremen sowie Leiter des Kreises von Arznei­mittel­experten der Stiftung Warentest. So habe es hier­zulande bei knapp einem Drittel der 2014 neu zugelassenen Mittel Auffälligkeiten gegeben: Insgesamt veröffent­lichten Pharma-Anbieter damals für 6 von 32 Neuheiten sogenannte Rote-Hand-Briefe. Darüber erfahren Ärzte und Fach­kreise von schwerwiegende Neben­wirkungen. Für weitere fünf Präparate wurden Blaue-Hand-Briefe ausgegeben, über die Schulungs­materialien mit aktuell formulierten Anwendungs­hinweisen für Arzt­praxen und Apotheken bekannt gemacht werden. Auch diese Informationen enthalten neue und wichtige Hinweise, die zur Verbesserung der Arznei­mittel­sicherheit als notwendig erachtet werden.

Ohne klinische Studien keine Zulassung

Das Zulassungs­system läuft in Deutsch­land ähnlich ab wie in den USA: Jedes Arznei­mittel, das neu auf den Markt kommt, muss von der zuständigen Behörde – entweder von der Europäischen Arznei­mittel­behörde (Ema) oder dem Bundes­institut für Arznei­mittel und Medizin­produkte (BfArM) – auf Wirk­samkeit und Verträglich­keit über­prüft werden. Basis sind klinische Studien, die der Anbieter im Vorfeld durch­zuführen hat. Grünes Licht bekommen nur Präparate, bei denen zum Zeit­punkt der Zulassung die güns­tigen Therapie­effekte mögliche Risiken über­steigen.

Ältere und Frauen oft außen vor

Das System hat einige Schwach­stellen: Bei der Zulassung liegen nur begrenzte Daten für das jeweilige Medikament vor – für den Nutzen, insbesondere aber auch für unerwünschte Wirkungen. Das liegt daran, dass nur wenige hundert bis wenige tausend Patienten bei den Zulassungs­studien mitmachen. Die Verantwort­lichen wählen die Teilnehmer zudem sorgfältig aus, so dass ältere Menschen, Personen mit mehreren Gesund­heits­problemen und zuweilen auch Frauen aus Sicher­heits­gründen oft außen vor bleiben. Das heißt: Die Ergeb­nisse sind zum Teil nur bedingt auf alle Patienten über­trag­bar.

Studien­daten nicht immer verläss­lich

Hinzu kommt, dass die Studien meist nur bis zu sechs Monate laufen – die Patienten nehmen die Mittel also für einen eher kurzen Zeitraum ein. So lässt sich nicht heraus­finden, ob erst bei längerer Anwendung Probleme entstehen. Wenn später im Beipack­zettel beispiels­weise steht, dass unerwünschte Wirkungen bei einem von 1 000 Patienten auftreten können, mussten zuvor 3 000 Patienten mit dem Mittel behandelt worden sein, damit diese unerwünschte Wirkung mit ausreichender Sicherheit entdeckt werden konnte. Die Arznei­mittel­experten der Stiftung sehen es außerdem kritisch, dass Pharma­hersteller neue Produkte über ein beschleunigtes Verfahren auf den Markt bringen können. Dann sind die Studien­daten zu Nutzen und Risiken noch weniger verläss­lich als sonst.

So erkennen Sie neu zugelassene Medikamente

Neue Medikamente - Warum Neben­wirkungen oft erst nach­träglich auffallen

Ein schwarzes, auf dem Kopf stehendes Dreieck signalisiert, dass ein Medikament unter besonderer Über­wachung steht. © Stiftung Warentest

Neu zugelassene Medikamente stehen daher immer eine Weile unter besonderer Beob­achtung – wobei vor allem auch die Erfahrungen von Patienten gefragt sind: Wer ein noch nicht lang erprobtes Mittel einnimmt, sollte bei jedem Verdacht auf Neben­wirkungen mit seinen Arzt oder Apotheker darüber sprechen. Weitere Anlauf­stellen sind das BfArM und bei Impf­stoffen das Paul-Ehrlich-Institut. Neu zugelassene Medikamente lassen sich mit Hilfe des Beipack­zettels erkennen. Wenn darauf ein auf der Spitze stehendes Dreieck (siehe Foto) steht, ist das Mittel neu zugelassen oder es bestehen Auflagen, dass relevante unerwünschte Wirkungen abzu­klären sind.

Stiftung Warentest berück­sichtigt US-Warnungen

Die Arznei­mittel­experten der Stiftung Warentest bewerten auch neue Medikamente für die Daten­bank Medikamente im Test. Die Experten berück­sichtigen dabei routine­mäßig auch Sicher­heits­meldungen aus den USA. So kann es vorkommen, dass unerwünschte Wirkungen eines Medikaments früher in der Daten­bank der Stiftung Warentest als in offiziellen Beipack­zetteln stehen.

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