Mutmacher Wie die Grimms gleiche Chancen für Legastheniker erstritten

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Finanztest stellt Menschen vor, die großen Unternehmen oder Behörden die Stirn bieten und dadurch die Rechte von Verbrauchern stärken. Diesmal: Tiemo und Martin Grimm. Sie haben vor Gericht durch­gesetzt, dass Studenten mit Legasthenie ein Nachteils­ausgleich zusteht.

Harte erste Schul­jahre in Würzburg

Ich war der „Depp“, so beschreibt Martin Grimm seine ersten Schul­jahre in Würzburg. Er verwechselte damals die Buch­staben b und d, und die Lesebücher lernte er lieber auswendig, weil ihm das Vorlesen schwerfiel. Die fünfte Klasse musste er dreimal durch­laufen, weil er sonst das Gymnasium nicht hätte besuchen dürfen. Heute ist Martin Grimm Ober­arzt in einer Kölner Klink, hat zwei Fach­arzt­prüfungen abge­legt, eine für Chirurgie und eine weitere für Ortho­pädie. Die eindrucks­volle Karriere des 40-Jährigen wäre ohne seinen Vater, den Humangenetiker Tiemo Grimm, nicht möglich gewesen. Gemein­sam haben die beiden im Jahr 2002 ein Grund­satz­urteil für Studierende mit Lese-Recht­schreib-Störung (Legasthenie) errungen. Seitdem müssen Hoch­schulen eine ärzt­lich fest­gestellte Legasthenie als Behin­derung anerkennen und Betroffenen auf Antrag einen Nachteils­ausgleich gewähren. Das kann zum Beispiel eine Zeit­verlängerung bei Klausuren sein.

Diagnose „Legasthenie“ kam früh

Die Diagnose „Legasthenie“ stellte ein Arzt bei Martin Grimm schon in der Grund­schule. Damals hatten Schüler mit Legasthenie in Bayern noch keinen Anspruch auf einen Nachteils­ausgleich, der Menschen mit Beein­trächtigungen eigentlich laut Grund­gesetz zustehen müsste.

Schwerbehinderten­ausweis nützte nichts

„Es gab viele Lehrer, die daran zweifelten, dass es eine Lese-Recht­schreib-Störung gibt. Legasthenie war für sie eine Ausrede von Akademiker-Eltern, die dumme Kinder haben“, sagt Grimm. Trotzdem hat er 1999 Abitur gemacht. Allerdings nicht in seiner Heimatstadt Würzburg, sondern auf einem Internat mit besonderer Förderung für Legastheniker. „Das war für mich wie ein Befreiungs­schlag“, sagt er. Mit 22 Jahren begann er Medizin zu studieren, erst in Greifs­wald und später in Kiel. Dort beantragte Grimm für die ärzt­liche Vorprüfung (Physikum) eine Zeit­verlängerung von jeweils 30 Minuten für jede vierstündige Multiple-Choice-Prüfung. Doch das Prüfungs­amt lehnte ab, obwohl Grimm seinen Schwerbehinderten­ausweis vorgelegt hatte. „Dann haben wir uns entschieden, Klage einzureichen“, sagt sein Vater.

Die Beharr­lich­keit hat sich gelohnt

In der ersten Instanz bekam die Universität recht. Das Gericht bewertete Grimms Legasthenie als eine „persönlich­keits­bedingte generelle Einschränkung seiner Leistungs­fähig­keit“. Außerdem müsse ein Arzt schnell lesen können (Verwaltungs­gericht Schleswig, Az. 9 B 85/02).

In der zweiten Instanz gewannen die Grimms. Sie wiesen nach, dass schnelles Lesen nicht Prüfungs­inhalt der medizi­nischen Appro­bations­ordnung ist. Außerdem machten sie glaubhaft, dass es kaum medizi­nische Notfälle geben dürfte, bei dem es ein Nachteil ist, dass der Sohn etwas lang­samer liest. Das Ober­verwaltungs­gericht Schleswig-Holstein entschied daher, dass die beantragte Zeit­verlängerung angemessen sei (Az. 3 M 41/02). Sie gleiche die Behin­derung aus und stelle so erst eine Chancengleichheit her. Die Mitarbeiter der medizi­nischen Fakultät hatten mit Grimms Legasthenie im Gegen­satz zum Prüfungs­amt kein Problem: „Das Physikum habe ich dann einfach alleine in einem Raum geschrieben.“

Ihre Chance auf einen Nachteils­ausgleich

Nachteils­ausgleich. Wenn Sie wegen einer Behin­derung oder einer chro­nischen Krankheit, wie etwa Diabetes, die Anforderungen Ihres Studien­fachs bei Prüfungen nicht in der Art und Weise erbringen können, wie es die Prüfungs­ordnung fest­legt, steht Ihnen ein Nachteils­ausgleich zu.

Antrag. Den Nachteils­ausgleich beantragen Sie schriftlich beim Prüfungs­ausschuss oder Prüfungs­amt. Dabei müssen Sie erläutern, welchen Nachteils­ausgleich Sie benötigen und ihn begründen. Außerdem müssen Sie Ihre Beein­trächtigung durch Atteste oder einen Schwerbehinderten­ausweis nach­weisen. Viele Unis haben eine eigene Studien­beratung für Studierende mit Behin­derungen.

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ninick am 29.08.2018 um 11:15 Uhr
Sehe das auch eher kritisch ...

Hut ab vor Martin Grimm, der sich hier durchgebissen hat! Ein Freund von mir (ist schließlich erfolgreich Altenpfleger geworden) hatte sehr mit seiner extremen Legasthenie zu kämpfen und deswegen Riesenkomplexe (und ist mit seinem Selbstmitleid allen Leuten sehr auf den Wecker gegangen, vor allem mir, habe ihn unterstützt). Aber leider gehört der Arztberuf nunmal zu den anspruchvollsten Ausbildungen und verantwortungsvollsten Berufen überhaupt, zu dem vollkommen zurecht nur die leistungsmäßig Besten zugelassen werden. Aussieben ist immer brutal, aber noch brutaler ist, wenn jemand einfach seine Grenzen nicht akzeptieren kann. Übrigens sagt ein positives Beispiel rein gar nichts über den potenziellen Erfolg von Legasthenikern im Arztberuf aus – statistisches Grundwissen vorausgesetzt, wissen das auch die Autoren des Artikels. Es ist naiv zu glauben, dass es für Leistungsträger sinnvoll ist, wenn sie mit Minderleistern zusammen lernen (auch wenn es evt. die Sozialkompetenz steigert).

Profilbild Stiftung_Warentest am 24.08.2018 um 16:02 Uhr
@GuessWhat

Der Nachteilsausgleich steht jedem mit einer anerkannten Behinderung oder einer chronischen Krankheit zu. Er muss schriftlich beim Prüfungsamt beantragt werden. Im Falle unseres aktuellen Mutmachers wurde dies vom Prüfungsamt abgelehnt, worauf er den Rechtsweg beschritt und in der zweiten Instanz Recht bekam. Das Gericht hat Legasthenie als Behinderung eingestuft und bestätigt, dass unser Mutmacher die Fähigkeit hat, die Aufgaben der ärztlichen Vorprüfung wissenschaftlich zu durchdringen. Denn die Lesegeschwindigkeit ist nicht Gegenstand der in der ärztlichen Vorprüfung zu ermittelnden wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit, so das Oberverwaltungsgericht. Dabei verweist das Gericht auf die Prüfungsordnung.
Selbstverständlich ordnen wir unsere Antworten aus dem untenstehenden Post Ihren Fragen aus dem ersten Kommentar zu.
Ihre Frage „Was ist jetzt mit Menschen mit einem nachgewiesermaßen niedrigeren IQ? Bekommen diese auch einen Nachteilsausgleich?“ , „Was ist mit Menschen mit Reizdarm, die während der Prüfung öfter auf Toilette müssen? Bekommen die einen Nachteilsausgleich?“ Antwort: Sofern eine anerkannte Behinderung vorliegt, gehören sie zum Personenkreis, die unter den Schutz des Grundgesetz Artikel 3 fallen. Bei einer Legasthenie ist der IQ übrigens nicht betroffen, wie unser Mutmacher Martin Grimm sehr gut zeigt.
Ihre Frage: Mit welchem Recht bekommt nun ein Legastheniker eine Sonderbehandlung?
Legasthenie ist eine anerkannte Behinderung. Der Nachteilsausgleich für Legastheniker ergibt sich neben dem Artikel 3 des Grundgesetzes auch aus dem Hochschulrahmengesetz Paragraph 2 und 16 sowie den jeweiligen Landeshochschulgesetzen. (TK)

Gelöschter Nutzer am 23.08.2018 um 17:22 Uhr
@Testinator99 und @Stiftung_Warentest

@Testinator99:
Es kann und darf jeder lernen. Niemand hat etwas anderes behauptet. Möchten sie vielleicht meine Fragen beantworten?
@Stiftung_Warentest:
Danke, dass sie mit anderen Worten genau das wiederholen, was ich bereits schrieb. Nur leider bleiben meinen gestellten Fragen unbeantwortet.

Profilbild Stiftung_Warentest am 23.08.2018 um 15:43 Uhr
Frage

@GuessWhat: Legasthenie ist eine Teilleistungsstörung im Bereich der Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Schriftsprache. Die intellektuelle Erfassung eines Sachverhalts ist davon nicht betroffen. Der Anspruch auf den Nachteilsausgleich ergibt sich aus dem Grundgesetz Artikel 3, außerdem auch aus dem Hochschulrahmengesetz, Paragraph 2 und den jeweiligen Landeshochschulgesetzen. (dda)

Testinator99 am 22.08.2018 um 16:35 Uhr
Lernen für alle - UN-Behindertenrechtskonvention

...wie der u.g. Kommentar zeigt, ist es noch ein weiter Weg zur Umsetzung...