
Hans-Joachim Lehmann. „Das Ärgerliche ist: Man kann sich nur schwer gegen Gebührenbescheide wehren“, sagt er. © Stefan Korte
In der Rubrik „Mutmacher“ stellen wir Menschen vor, die Rechte von Verbrauchern stärken. Diesmal: Hans-Joachim Lehmann kämpfte für faire Abwassersatzungen.
Kritisches Verhältnis zu öffentlichen Verwaltungen
Der „Abwasserrebell“ – so hat eine Boulevard-Zeitung Hans-Joachim Lehmann genannt. Der Titel bringt seine Aktivität und Wirkung gut auf den Punkt, schließlich hat er es geschafft, die Abwassersatzungen ab 2017 in seinem Heimatort Oer-Erkenschwick zu kippen. Die Folge: Nicht nur dort, auch in anderen Teilen Nordrhein-Westfalens (NRW), werden die Kosten für Haushalte sinken. Als Rebell sieht sich der 74-Jährige dennoch nicht. „Ich bin lieber ein verträglicher Mensch“, sagt er. „Allerdings habe ich ein kritisches Verhältnis zu allem, was mir als unumstößlich erklärt wird.“ Dann holt er tief Luft: „Und ich habe ein sehr kritisches Verhältnis zu öffentlichen Verwaltungen.“
Zinssatz „jenseits von Gut und Böse“
Hans-Joachim Lehmann engagiert sich schon lange politisch – unter anderem war er Mitglied des Stadtentwicklungsausschusses von Oer-Erkenschwick. Als ehemaliger Steuerberater und Wirtschaftsprüfer ist er es gewohnt, Dinge zu hinterfragen. Bei der Abwassergebührenkalkulation fiel ihm bereits 2007 der ungewöhnlich hohe kalkulatorische Zinssatz von mehr als 6 Prozent auf. „Das war jenseits von Gut und Böse“, sagt er. „Aber als Demokrat beugt man sich der Mehrheit, deshalb bin ich damals nicht eingeschritten.“ Nachdem er aus dem Gremium ausgeschieden war, entschloss er sich, gegen die Gebührenpolitik der Kommune vorzugehen.
Laien blicken nicht durch
Für Laien sind Abwasserabrechnungen kaum zu durchschauen, da ihnen enorm komplizierte Berechnungen zugrunde liegen können. Haushalte bezahlen über die Gebühren die Abwasserbeseitigung: Sie kommen, vereinfacht gesagt, für die Anschaffung der Anlagen und die Betriebskosten auf. Das Kommunale Abwassergesetz von NRW macht Städten nur ungenaue Vorgaben über die einzubeziehenden Kosten. „Die Gebühren sollen lediglich nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen gestaltet werden“, sagt Lehmann. „Das kann wirklich alles bedeuten.“
Nervenaufreibender Kampf gegen Gebührenbescheide
Und so hatte die Stadt Oer-Erkenschwick relativ freie Hand bei der Erhebung der Abwassergebühren. Unter anderem schrieb sie die Anlagen auf Basis von fiktiven Wiederbeschaffungszeitwerten über einen Zeitraum von 50 Jahren ab und erhob auf das für die Anschaffung aufgewandte Kapital hohe Zinsen. „Das Ärgerliche ist: Man kann sich nur schwer gegen Gebührenbescheide wehren. Und wenn man es tut, wird es nervenaufreibend“, sagt Lehmann. Er legte 2017 Widerspruch gegen seinen Abwasserbescheid ein – zunächst, wie erwartet, erfolglos. Dann wandte er sich als Mitglied an den Bund der Steuerzahler und lief dort offene Türen ein. Ihm wurde finanzielle Unterstützung bei einer Klage über alle Instanzen zugesagt.
Fast 3 000 Euro zurück und Genugtuung
Das Verfahren zog sich über Jahre hin. Im Mai 2022 stellte das Oberverwaltungsgericht Münster fest: Bei der Methodik, nach der in Oer-Erkenschwick die Abwassergebühren berechnet werden, sind die kalkulatorischen Zinsen zu hoch angesetzt. Die Stadt hätte für 2017 die Gebühren höchstens mit einem Zinssatz von 2,42 Prozent berechnen dürfen – nicht mit 6,52 Prozent (Az. 9 A 1019/20).
Da mit dem Urteil die Abwassergebührensatzung ab 2017 nichtig ist, kann Lehmann mit einer Rückerstattung aller gezahlten Abwassergebühren rechnen – das wären etwas mehr als 2 900 Euro, plus Zinsen.
Im Juli 2022 hat Oer-Erkenschwick fristgerecht, aber ohne Begründung, Revisionsbeschwerde eingelegt. Das Ende bleibt also noch offen. „Mein Anwalt, der Bund der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen und ich – wir sind sicher, dass die Beschwerde keinen Erfolg haben wird“, sagt Lehmann zufrieden.
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Die Antwort meiner Kämmerei:
Gem. § 130 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich bei den Abgabenbescheiden um rechtswidrige Verwaltungsakte handelt. Da die Gebührenbescheide vor dem Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 im Einklang mit dem KAG NRW und der bis dahin geltenden ständigen Rechtsprechung ergangen sind, handelt es sich hierbei nicht um rechtswidrige Verwaltungsakte. Die Voraussetzungen für die Rücknahme nach § 130 AO liegen daher nicht vor.