
Mehr als drei Arzneien. André Czimmek hat Anspruch auf einen Medikationsplan.
Patienten, die auf mehrere Arzneien angewiesen sind, haben Anspruch auf Überblick. In der Praxis erhalten sie den Plan aber oft nur auf Nachfrage.
In einem größeren Pappkarton hütet André Czimmek Blister und Tablettenschachteln. Der Diabetiker braucht sie, um seine Erkrankung in Schach zu halten: „Das ist ein Blutverdünner, das für den schnellen Puls, außerdem zwei Mal Insulin, Schmerztabletten, Medikamente für Blutdruck, Blutfett, zwei für die Niere und Wassertabletten.“ Der 56-Jährige verzieht das Gesicht: „Und die hier schützen den Magen – vor den vielen Tabletten.“
Fälle wie diese sind in Deutschland nicht selten. Wie der Frührentner aus Berlin-Marzahn nehmen 600 000 gesetzlich Krankenversicherte zehn oder sogar mehr Präparate parallel ein. Mindestens drei Arzneien schluckt fast jeder vierte Versicherte dauerhaft, von den über 70-Jährigen ist es sogar jeder zweite.
Anspruch auf Durchblick
Gesetzlich Versicherte, die wie Andre Czimmek auf Medikamente angewiesen sind, haben seit Oktober 2016 Anspruch auf eine schriftliche Übersicht ihrer Arzneien – den Medikationsplan. Er listet Handelsname, Wirkstoff und Dosierung auf, wann, wie und warum das Mittel einzunehmen ist. So ermöglicht es Ärzten in Praxis und Krankenhaus sowie Apothekern einen kritischen Blick, wenn sie weitere Arzneien verordnen oder abgeben. Soweit die Theorie.
In der Praxis hapert es. Das Gesetz legt fest: Wer dauerhaft mehr als zwei rezeptpflichtige und von der Kasse bezahlte Arzneien parallel anwendet, kann vom betreuenden Arzt, meist der Hausarzt, den Plan verlangen. Von sich aus aktiv werden muss der Mediziner, wenn er ein neues Mittel verschreibt. Das Gesetz nimmt aber nicht alle Ärzte und Apotheker in die Pflicht (Der Praxis-Check: Von selbst klappt wenig).
Zehn Testpersonen probierten es aus

Alles in Ordnung. Der Plan hilft auch dabei, die Dosierhilfe richtig zu bestücken.
Unser Check offenbart: Der Plan ist längst noch nicht gängige Praxis. Im Auftrag der Stiftung Warentest besuchten zehn Testpersonen jeweils ihren Hausarzt, einen ihrer Fachärzte und eine Apotheke. Wenige Ärzte boten von sich aus an, den Plan zu erstellen oder zu aktualisieren. Die Apotheker brachten selbst auf Nachfrage keinen Plan auf den aktuellen Stand.
Fehlende Transparenz birgt Risiken
Das ist bedenklich. Mit der Zahl unterschiedlicher Medikamente steigt das Risiko, dass sie miteinander in Wechselwirkung treten. Das heißt, dass sich die Wirkung der Medikamente verstärkt oder verringert und so Schaden anrichten kann.
Allein 2014 war eine halbe Million Notaufnahmen auf Medikationsfehler zurückzuführen, ergab eine Studie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Ursache dafür können auch unerwünschte Arzneimittelwirkungen sein – und die sind vermeidbar. Nicht immer weiß ein Arzt, was der andere verschreibt, und erst recht nicht, welche rezeptfreien Arzneien der Patient einnimmt.
Hausarzt oft die erste Anlaufstelle
André Czimmek zieht einen überraschend penibel gefalteten Zettel aus seiner Medikamenten-Pappkiste. Mit seinem Nierenfacharzt steht ihm ein umsichtiger Arzt zur Seite. „Sie nehmen doch so viel, hat er gesagt und mir den Plan einfach ausgedruckt.“ Die Ärzteverbände sehen den Arzt, der einen Patienten hauptsächlich betreut, als Anlaufstelle für den Medikationsplan. Bei vielen Patienten ist das der Hausarzt, bei André Czimmek der Nephrologe.
Im Unterschied zu ihm gaben die Ärzte unserer Stichprobe den Testpersonen nur selten einen Überblick über die Medikation. Kein Hausarzt und nur jeder zweite Facharzt agierte von sich aus. Selbst von den Testern darauf angesprochen, waren nicht alle Ärzte bereit, den Plan zu erstellen oder zu aktualisieren. Zwei Fachärzte zum Beispiel verwiesen an den Hausarzt.
Das ist für den Patienten ärgerlich, aber erlaubt. Das „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“, E-Health-Gesetz genannt, schreibt Fachärzten nur vor: Wenn sie Patienten ein Medikament verschreiben, müssen sie über den Plan informieren. Das Papier ausstellen oder aktualisieren müssen sie nicht. In unserer Stichprobe erhielten immerhin sechs der zehn Tester von ihrem Facharzt ein Update des Plans.
Alles andere als einheitlich
„Die Module für den einheitlichen Medikationsplan sind in den Praxisverwaltungssystemen der Ärzte eingebaut“, teilte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) auf Anfrage der Stiftung Warentest mit. An der fehlenden Software dürfte es also nicht liegen, dass in unserer Stichprobe kein Plan den Vorgaben entsprach. Angaben wie der Grund für ein verschriebenes Medikament oder Hinweise zur Einnahme fehlten oft.
Genau wie der Scannercode. Ist er nicht aufgedruckt, lässt sich der Plan digital nur aufwendig aktualisieren. Er muss abgetippt werden. Handschriftliche Ergänzungen – wie sie in der Stichprobe mehrfach vorkamen – machen den Plan unleserlich und fehlen in der digitalen Variante.
„Noch in der Einschwungphase“
Größere Probleme bei der Umsetzung seien nicht bekannt, so die KBV. Dr. Amin-Farid Aly von der Bundesärztekammer beurteilt das anders: „Der Plan befindet sich noch in der Einschwungphase.“ Eine Ursache dafür sieht er auch in wenig bedienfreundlichen Softwarelösungen. „Ärzte bemängeln, dass sich die Module für den Plan oft nur schlecht in ihren Workflow einbinden lassen.“ Der Scanner für den Code erleichtere das Einlesen der Daten, sei aber nicht entscheidend: „Er beschleunigt die Aktualisierung – es geht aber auch ohne.“
Keine besondere Nachfrage
André Czimmek weiß seinen Medikationsplan zu schätzen. „Ich kann mir all die lateinischen Namen nicht merken, wenn ich von Arzt zu Arzt renne.“ Viele Patienten scheinen vom Anspruch auf den Plan jedoch noch nichts gehört zu haben. Seit Oktober 2016 ist die Nachfrage in den Praxen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung jedenfalls nicht sprunghaft angestiegen.
Das gilt auch für Apotheken. Stefan Fink ist Vorsitzender des Thüringer Apothekerverbands und erforscht, wie Medikationsmanagement künftig aussehen kann. Er schätzt: „Bundesweit wird der Plan in Apotheken derzeit keine 1 000 Mal im Jahr aktualisiert – und das bei 15 Millionen potenziellen Patienten.“ Das passt zu den Erfahrungen unserer Tester.
Apotheker aktualisierten nichts
Apotheken müssen den Plan aktualisieren, wenn ein Kunde das beim Erwerb eines Medikaments wünscht. Sie erledigten das aber in keinem der zehn Testfälle – obwohl die Prüfpersonen darum baten. Viele Apotheker verwiesen an die Ärzteschaft. Immerhin checkten fast alle, ob die auf dem Plan gelisteten Arzneien mit dem neu erworbenen Medikament wechselwirken.
Digitaler Plan verspätet sich
Ärzte kennen oft nur einen Teil der Medikation. Sie wissen nicht, welche rezeptfreien Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel ein Patient zusätzlich schluckt. „In unserer alternden Gesellschaft müssen alle Mitglieder der medizinischen Versorgungskette die Medikation eines Patienten nachvollziehen können“, sagt Fink.
Ab 2018 sollen Patienten ihre Medikationsdaten auf der elektronischen Gesundheitskarte freiwillig speichern lassen können. Das verzögert sich laut KBV aber, da die Industrie die Technik nicht rechtzeitig liefern kann. Das ist einer der Gründe, warum die elektronische Gesundheitskarte in der Kritik steht. Sie hat schon viel Geld verschlungen, kann aber noch nicht viel.
Der Patient ist gefragt
Umso wichtiger, dass es mit der Papierform des Medikationsplans klappt. Unsere Stichprobe aber zeigt: Auf Ärzte und Apotheker ist in diesem Fall oft kein Verlass. Patienten sollten selbst Initiative ergreifen und dafür sorgen, dass ihr Arzt über die aktuellen Medikamente Bescheid weiß.
Tipp: Notieren Sie alle Mittel, die Sie einnehmen, auch rezeptfreie Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel. Bringen Sie Ihren Arzt beim nächsten Besuch auf den aktuellen Stand. Bitten Sie ihn, den Plan zu erstellen oder zu aktualisieren.