Einige Arzneimittel können abhängig machen. Nicht jeder Patient merkt, dass er süchtig ist. Viele verheimlichen es. Es gibt wirksame Therapien. Die Gesundheitsexperten der Stiftung Warentest erklären, wie Sie eine Medikamentensucht erkennen, welche Maßnahmen bei der Entwöhnung helfen – und was man unter der 4-K-Regel versteht.
Wenn ohne Medikament nichts mehr geht
Zehn Jahre lang bestimmte ein Medikament den Alltag von Minou. Nach einem schweren Autounfall erhielt sie von ihrem Arzt ein Beruhigungsmittel, Tavor. Wie auf einer rosa Wolke sei sie damit am Anfang durchs Leben gegangen, berichtet die Frau in einem Selbsthilfeforum im Internet. Doch irgendwann ging nichts mehr ohne das Medikament. Jegliche Versuche, es wegzulassen, scheiterten. Immer hatte Minou einen Vorrat an Pillen. „Und wehe, man hat mal keine ...“, schreibt sie. Sie besorgte sich die Mittel zunehmend auf eigene Kosten, über Privatrezepte beim Arzt. Minou ist abhängig – von einem Medikament.
Jede dritte Packung auf Privatrezept

4 bis 5 Prozent aller oft verschriebenen Mittel haben ein hohes Suchtpotenzial. Gerd Glaeske, Arzneimittelforscher © iStockphoto
Mindestens 1,5 Millionen Menschen sind arzneimittelabhängig, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen auf Basis von Krankenkassendaten. Vermutlich betrifft es noch mehr Personen, wie eine Studie der Universitäten Ulm, Heidelberg und Tübingen von 2017 nahelegt. Jede dritte Packung von Schlafmitteln mit Benzodiazepinen und Z-Drugs geht auf ein Privatrezept. Die gesetzlichen Kassen erfassen solche privaten Verordnungen nicht – deshalb fallen die Werte aus den Schätzungen heraus.
Körper gewöhnt sich schnell daran
Nicht jedes Arzneimittel macht süchtig. Viele Menschen müssen täglich Medikamente nehmen – gegen Bluthochdruck oder Diabetes, Herzschwäche oder Allergie. Rund 95 Prozent aller Medikamente sind in dieser Hinsicht nicht problematisch. Anders jedoch bei 4 bis 5 Prozent aller häufig verordneten, rezeptpflichtigen Arzneimittel: Sie haben ein hohes Suchtpotenzial, wie Studien unter der Leitung des Pharmakologen und Gesundheitswissenschaftlers Gerd Glaeske von der Universität Bremen ergaben. Er bewertet für die Stiftung Warentest Medikamente (So bewertet die Stiftung Warentest Arzneimittel).
Meist sind es Schlaf- und Beruhigungsmittel
Der überwiegende Teil der Betroffenen nimmt Schlaf- und Beruhigungsmittel. Dazu zählen vor allem Benzodiazepine, wie sie zum Beispiel in Valium enthalten sind, und ähnliche Wirkstoffe, die auf „-azepam“ enden. Suchtgefährdend sind auch verwandte Substanzen: Z-Drugs mit Wirkstoffen wie Zolpidem oder Zopiclon. Die Mittel sind rezeptpflichtig. Ärzte verordnen sie häufig, wenn Patienten über Schlaflosigkeit, Ängste oder Unruhe klagen. Bereits nach wenigen Wochen können sie abhängig machen.
Oft werden die Medikamente zu lange verschrieben

Für bis zu 132 Tage verschreiben Ärzte ihren Patienten kritische Schlafmittel. Ratsam sind aber nur 8 bis 14 Tage. Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf © Fotolia / A. Raths
Auch Amphetamine, Narkosemittel und starke Schmerzmittel, die Opioide, können in die Sucht führen. Das passiert in Deutschland wegen achtsamer Verordnungen zwar viel seltener als in den USA, wo Millionen Menschen opioidabhängig sind (Interview). Ärzte verschreiben Schlafmittel wie Benzodiazepine und Z-Drugs vielen Patienten aber zu lange, wie die Studie der Universitäten Ulm, Heidelberg und Tübingen offenbart.
Schwitzen, Angst, Schlaflosigkeit
Was viele dieser Medikamente eint: Sie helfen, mildern Ängste, schieben den Schlaf an oder lindern starke Schmerzen. Den Patienten geht es zunächst besser. Doch ihr Körper gewöhnt sich schnell an die Substanzen. Er reagiert mit Entzugssymptomen wie Schwitzen, Angst oder Schlaflosigkeit, wenn sie die Mittel weglassen oder reduzieren. Der erneute Griff zur Arznei ist für viele dann die einzige Lösung.
„Ich brauche meine Pillen“
Die ursprünglichen Beschwerden können trotz der Medikamente wiederkehren. Sie werden weiter eingenommen oder sogar die Dosis erhöht. Die Suchtspirale kommt in Gang. Der Glaube, ohne die Arznei nicht zu funktionieren, festigt sich. Es besteht ein starker innerer Zwang, sie einzunehmen, um den Entzugssymptomen zu begegnen. Motto: „Ich schaffe den Tag nicht ohne meine Pillen.“ Bei Medikamenten etwa gegen Diabetes, Bluthochdruck oder Rheuma treten dagegen keine Entzugssymptome auf. Der Körper gewöhnt sich nicht an sie und verlangt nicht nach ihnen – obwohl sie ihm gut tun.
So erkennen Sie eine Abhängigkeit
Eigenmächtig. Ein Hinweis auf eine Abhängigkeit ist es, wenn Patienten die Medikamente weiter nehmen, auch wenn das Problem – etwa Schlaflosigkeit nach einer Trennung oder Schmerz nach einer OP – nicht mehr aktuell ist; wenn sie die Dosis eigenmächtig erhöhen, mehr einfordern oder länger nehmen, als verabredet. Wenn sie den Arzt wechseln, weil sie ihren Stoff nicht mehr bekommen, vielleicht sogar mehrere Ärzte haben, die ihnen die Mittel verschreiben, oder wenn sie Rezepte sogar fälschen.
Kontinuierlich. „Medikamentensucht ist schwerer zu erkennen als etwa eine Alkoholabhängigkeit“, sagt Gerd Glaeske. Immerhin schreibt ja ein Arzt das Rezept. Der Suchtstoff kommt vom Apotheker, nicht vom Dealer. „Bei Schlafmitteln ist die Niedrigdosisabhängigkeit typisch. Manche nehmen über Jahre hinweg jeden Tag nur eine Tablette, ohne die Dosis zu steigern.“
Heimlich. Ute Keller, leitende Oberärztin an der Klinik für Suchtmedizin des Berliner Alexianer St. Joseph-Krankenhauses, kennt die Nebenwirkungen nur zu gut: „Die Betroffenen sind vergesslicher, am Morgen ist ihre Sprache verwaschen, sie leiden an Schlafstörungen, sind müde und unaufmerksam.“ Die Einnahme werde verheimlicht, die Tablette leise im Bad oder Schlafzimmer konsumiert.
Oft entwickelt sich eine Depression
„Medikamentenabhängigkeit wird stille Sucht genannt“, sagt Ute Keller. Betroffene ziehen sich zurück, werden gleichgültiger, entwickeln oft eine Depression. „Manche fahren trotz der starken Dämpfung Auto, andere schlafen bei Kerzenlicht zu Hause ein.“ Um an die Medikamente zu kommen, belögen sie die Ärzte oder kauften in Extremfällen die Mittel auf dem Schwarzmarkt. „Viele unterschätzen, wie schmal der Grat zur Vergiftung bei den starken Schmerzmitteln ist“, sagt sie. Die Menschen können an einer Überdosis sterben.
Frauen und Ältere stark betroffen

Mindestens 1,5 Millionen Deutsche sind arzneimittelabhängig. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen © Thinkstock, iStockphoto, Stiftung Warentest (M)
Besonders für Ältere ist die Gefahr groß. Ihre Körper können die Wirkstoffe nicht mehr so schnell abbauen. Stürze sind nur eine Folge. Forscher vermuten, dass eine langjährige Schlafmitteleinnahme das Risiko für eine Alzheimer-Demenz erhöht. Die Suchtursachen sind vielfältig. Frauen und Ältere erhalten häufig Mittel, weil sie eher unter Schlafstörungen, Ängsten oder Unruhe leiden. „Oft wird versäumt, andere Behandlungswege anzubieten. Bei Schmerzen und Schlaflosigkeit, Stress und Überlastung können Medikamente allenfalls kurzzeitig helfen. Aber sie sind keine Lösung des Problems; an psychologische Hilfe wird oft zu spät gedacht“, sagt Glaeske. Ins andere Extrem zu verfallen, aus Angst vor Abhängigkeit etwa gar keine Schmerzmittel zu nehmen, sei auch nicht ratsam.
„Rasch wieder funktionieren“
Glaeske sieht ein grundlegendes Problem: Von der Medizin werde schnelle Hilfe erwartet, in der Leistungsgesellschaft wollten die Menschen „rasch wieder funktionieren“. Ute Keller kritisiert „unser fehlerhaftes System“ in der Vergütung von Ärzten: Nach wie vor werde die Zeit für ambulante Gespräche zu wenig honoriert. „Ich erlebe immer wieder, dass Klienten nicht vollends verstanden hatten, dass die Medikamente abhängig machen können – und sie deshalb besonders vorsichtig sein sollten“, erzählt Doris Nithammer, Leiterin der Suchtberatung Friedrichshain in Berlin.
4-K-Regel
Um die Zahl der Abhängigen einzudämmen, hat die Bundesärztekammer für Mediziner einen Leitfaden herausgegeben. Sie empfiehlt unter anderem die 4-K-Regel:
- klare Prüfung, ob die Verordnung angebracht ist,
- korrekte Dosierung,
- kurze Anwendung,
- kein abruptes Absetzen.
Eine Entwöhnung braucht Zeit

60 Prozent der Schlafmittelsüchtigen sind nach einer Therapie abstinent. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen © Shutterstock
Wer befürchtet, von Medikamenten abhängig zu sein, sollte sich an eine Suchtberatungsstelle oder den Hausarzt wenden. Nicht immer ist ein Entzug in einer Klinik erforderlich. Es ist auch ambulant oder in einer Tagesklinik zu schaffen. Doch egal, wo: Die Entwöhnung kann einige Wochen bis Monate dauern. Zusätzliche Hilfen sind sinnvoll. Nichtmedikamentöse Maßnahmen im Rahmen einer Schmerztherapie können helfen, mit einer geringeren Dosis oder gar ohne Arzneimittel zurechtzukommen. Führten Depressionen oder starke Ängste in den Konsum, ist psychotherapeutische Unterstützung ratsam. Viele brauchen mehrere Anläufe, doch der Lohn sind häufig neuer Lebensmut und Vitalität. Auch Minou hat es geschafft – nach mehr als zehn Jahren.
Kontaktadressen und Selbsthilfe
Unter dhs.de informiert die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen umfassend.
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- Rezeptfreie Schlafmittel können helfen, wenn das Ein- und Durchschlafen schwerfällt. Die Stiftung Warentest hat bewertet, welche geeignet sind.
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- Unsere Arzneimittelexperten haben Schmerzmittel bewertet: von rezeptfreien mit ASS, Ibuprofen und Paracetamol bis zu Opioiden. Nicht alle sind gleichermaßen geeignet.
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- Krank auf Reisen – das ist keine Seltenheit. Wer sich darauf vorbereitet, reist entspannter. Wir nennen die besten und günstigsten rezeptpflichtigen Mittel fürs Gepäck.
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Asthmaforschung lässt die eigene Entspannung der Atemwege außen vor und rechtfertigt die Verwendung von nebenwirkungsreichen Sprays. Das führt zu einer Sucht bei dem Patienten statt Üben mit kräftigem Luftholen durch die Nase, das durch Lippendruck die Bronchien über einen Reflex offen hält. Siehe zum Beispiel https://youtu.be/PiSq-WnMXjs und Googeln nach gv26.important.
Die lange Tradition in der Medikamentenbehandlung von Asthma ist eine Irreführung.