
Potpourri. Ältere Menschen müssen oft Pillen schlucken – meist mehrere gleichzeitig. Nicht alle sind für sie geeignet.
Arznei gehört für viele ältere Menschen zum Alltag. Einige Wirkstoffe können die Patienten gefährden. Aber es gibt verträgliche Alternativen.
Arthritis, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme: Im Alter mehren sich die körperlichen Erkrankungen. Die Liste anhaltender Beschwerden wird länger, der Arzneimittel-Stapel im Schrank immer höher. Zwei Drittel aller Medikamente, die Ärzte in deutschen Praxen und Krankenhäusern verordnen, schlucken Menschen jenseits von 60 Jahren. Die Krankenkasse Barmer GEK ermittelte vor einigen Jahren: Jeder vierte Versicherte über 65 nimmt täglich drei bis vier Medikamente ein, jeder fünfte sogar fünf bis sieben.
Gerade im Alter schadet so manche Arznei jedoch mehr, als sie nutzt. Aus mehreren Gründen. Zum einen müssen Senioren, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, auf Wechselwirkungen achten. Zum anderen sind viele Wirkstoffe für Ältere nicht mehr geeignet. Der Grund: Der Körper verändert sich mit den Jahren, sodass Medikamente anders wirken als bei Jüngeren (Warum Arznei im Alter anders wirkt). Viele Mittel erhöhen das Risiko für Stürze, sie lösen Schwindel, Benommenheit und Unruhe aus oder dämpfen das Denken und Erinnern.
Liste mit riskanten Wirkstoffen
Mediziner und Pharmazeuten erstellten 2011 die sogenannte Priscus-Liste (priscus lateinisch: alt, ehrwürdig). Sie enthält 83 Wirkstoffe, die für Menschen ab 65 Jahren riskant sind: Dem Nutzen stehen zu viele Risiken und Nebenwirkungen gegenüber. Die Tabellen zeigen, welche Wirkstoffe Senioren meiden sollten, in welchen häufig verordneten Medikamenten sie enthalten sind und welche Alternativen stattdessen nach Einschätzung der Arzneimittelexperten der Stiftung Warentest infrage kommen.
Falsch behandelt

Zuhören. Beachten Sie die Dosierungshinweise vom Arzt. Für ältere Patienten sind es oft andere als für jüngere.
Noch immer bekommen viele ältere Menschen Mittel verordnet, die auf der Priscus-Liste stehen. Eine Erhebung der Techniker Krankenkasse im vergangenen Jahr ergab: Etwa jedem fünften Patienten ab 65 Jahren wurde mindestens ein ungeeignetes Medikament verschrieben.
So auch Walter Dehmlow*. Der 86-Jährige Berliner nahm täglich zehn Medikamente ein. Darunter waren zwei Mittel, die in der Priscus-Liste zu finden sind: das Antidepressivum Amitriptylin sowie der Wirkstoff Oxybutynin gegen Blasenschwäche. Beide Medikamente können bei älteren Patienten diverse Nebenwirkungen verursachen, unter anderem Gehirnfunktionen negativ beeinflussen. In der Folge steigt dann möglicherweise auch das Risiko zu stürzen.
Das bekam Patient Dehmlow am eigenen Leib zu spüren. Der ältere Herr litt an Schwindel und fiel innerhalb eines Monats zweimal hin. Die Folge: geprellte Rippen und eine Platzwunde am Kopf.
Dehmlow ist kein Einzelfall. In einer Umfrage in Hausarztpraxen von 2009 klagten Patienten, die kritische Wirkstoffe einnahmen, über deutlich mehr Nebenwirkungen als jene, die verträglichere Mittel erhielten.
Priscus-Liste ist „Warnhinweis“
Verbindlich ist die Priscus-Liste für Ärzte und Apotheker nicht. Sie soll ihnen in erster Linie helfen, ein verträgliches Medikament zu finden. „Die Priscus-Liste soll keine Verbotsliste sein, sondern als Warnhinweis dienen“, sagt der Altersmediziner Ulrich Thiem, Chefarzt am Geriatrie-Zentrum Haus Berge des Elisabeth-Krankenhauses Essen. Er hat bei der Erstellung der Liste mitgearbeitet. Es gebe Patienten, die bemerken, dass eines ihrer Medikamente auf der Liste steht, aber es ihnen damit bislang gut geht. „Trotzdem hat es Sinn, mit dem Arzt zusammen nach Alternativen zu schauen, die den Körper auch auf Dauer weniger belasten“, sagt Thiem.
Generell vertragen ältere Menschen Medikamente weniger gut als junge (Warum Arznei im Alter anders wirkt). Wirkstoffe werden nicht mehr so schnell abgebaut und ausgeschieden. Das heißt: Es muss vorsichtiger dosiert werden, da manche Mittel länger im Körper verweilen als früher – und oft nachwirken.
Vorsicht bei Schlafmitteln
Bestimmte Schlaf- und Beruhigungsmittel, sogenannte Benzodiazepine, werden zum Beispiel langsamer „verdaut“. Nimmt jemand ein solches Medikament häufig ein, sammeln sich die immer noch wirksamen Abbauprodukte an. Sie können in geballter Form Probleme wie Stürze oder Verwirrung auslösen – und paradoxerweise sogar selbst zu Schlaflosigkeit führen. Durch die körperliche Alterung können solche Nebenwirkungen grundsätzlich häufiger eintreten und stärker ausfallen. Betroffene wie Angehörige führen sie aber oftmals gar nicht auf die Medikamente zurück, sondern stufen sie als typische Alterserscheinungen ein – und übersehen sie einfach.
Gefährliche Mixturen
Nicht nur einzelne Mittel können Senioren gefährden. Auch die Mischung machts. Mitunter entstehen gefährliche Mixturen: beispielsweise wenn Medikamente die Wirkung oder auch den Abbau eines anderen Mittels verhindern oder seine Nebenwirkungen verstärken. Ebenso ist es möglich, dass ein Arzneimittel gegen die eine Erkrankung die Symptome eines anderen Leidens verschlimmert.
„Unkalkulierbares Potpourri“
„Medizinische Studien untersuchen höchstens, wie zwei Arzneimittel miteinander interagieren“, sagt der hessische Hausarzt Uwe Popert, der im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin mitwirkt. Ab drei Mitteln könne man die Konsequenzen schon nur noch erahnen, darüber hinaus sei keinerlei Aussage dazu möglich, wie die Arzneien wirken werden.
„Es entsteht ein völlig unkalkulierbares Potpourri“, warnt Popert. Seine Erfahrung: Man könne nicht einfach sagen, mehr als drei oder fünf Medikamente seien per se gefährlich. Ärzte müssten individuell prüfen, ob ein Patient gut mit seinen Arzneien zurechtkommt und diese verträgt. Egal, wie viele er einnimmt.
Medikationsplan anlegen
Auch wer vorsorgt, kann Gefahren minimieren. Bei Hausbesuchen sieht Mediziner Popert regelmäßig gemeinsam mit seinen Patienten in den Medikamentenschrank. „Oft finde ich Dopplungen, wie drei ähnliche Schmerzmittel, eines vom Hausarzt, eines vom Notdienst und ein selbst gekauftes. Alle werden gleichzeitig eingenommen, die Nebenwirkungen addieren sich dann auf.“
Ein ständig aktualisierter Medikationsplan hilft, den Überblick zu behalten (Tipps). Entsprechende digitale Übersichten, die der Hausarzt führt, sind bereits in Planung. Künftig könnten die Daten auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden.
Schon ab Oktober 2016 steht jedem Patienten, der mindestens drei verordnete Arzneien nimmt, eine solche Übersicht vom Haus- oder Facharzt in Papierform zu. Zeigt er diese bei Arztbesuchen oder Klinikeinweisungen vor, kann das vor unguten Arzneimischungen bewahren. Mithilfe der Übersicht können Patient und Hausarzt zudem leichter regelmäßig prüfen, ob wirklich noch alle Mittel notwendig sind.
Bei Problemen Beipackzettel lesen

Nachlesen. Stellen Sie plötzliche Beschwerden fest, prüfen Sie im Beipackzettel, ob es sich um Nebenwirkungen handeln könnte.
Wann immer alterstypische Erscheinungen plötzlich und unerwartet auftreten, sollten Betroffene oder Angehörige genau hinsehen, rät Altersmediziner Ulrich Thiem. „Kommt es öfter zu Stürzen, Gedächtnislücken oder Verwirrung, sollten Patienten oder ihre Angehörigen in den Beipackzettel der täglich einzunehmenden Medikamente sehen.“ Besteht der Verdacht, dass eine Arznei die Beschwerden auslöst, ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Mitunter können Mittel ausgetauscht oder anders dosiert werden.
Walter Dehmlow brachten seine Pillen sogar ins Krankenhaus. Die Ärzte reagierten sofort, als sie seine Arzneiliste sahen. Sie strichen fünf überflüssige und ein Priscus-Medikament ersatzlos. Dehmlow blieb fortan sturzfrei.
* Name von der Redaktion geändert.