
Droht der kleinen Apotheke um die Ecke nun das Aus – oder bricht das EuGH-Urteil bloß verkrustete Strukturen auf?
Die in Deutschland geltende Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente verstößt gegen EU-Recht. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) kürzlich entschieden. Ausländische Versandapotheken wie DocMorris können ihren Kunden künftig Rabatte gewähren. Bundesgesundheitsminister Gröhe schlägt nun ein Gesetz vor, das den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verbietet. test.de erklärt die Hintergründe und sagt, für wen sich etwas ändert.
Europäischer Gerichtshof kippt Preisbindung
Bisher galt in Deutschland für alle rezeptpflichtigen Medikamente der identische Preis – egal ob ein Patient nach dem Arztbesuch in die nächstgelegene Apotheke ging oder seine Medikamente von zu Hause aus in einer Online-Versandapotheke bestellte. 2012 war zusätzlich festgelegt worden, dass auch ausländische Versandapotheken an diese einheitlichen, deutschen Preise gebunden sind. Doch nun erklärten die Richter des EuGH die deutsche Regelung für unzulässig. Nach Auffassung der Richter stellen Festpreise eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs dar, da ausländische Apotheken von der Regelung stärker betroffen sind als inländische (Az. C-148/15). Ausländische Versandapotheken dürfen daher künftig Rabatte gewähren. Für inländische Versandapotheken gilt das Urteil vorerst nicht.
Bonussystem bei Parkinson-Medikamenten
Konkret ging es bei dem Fall vor dem EuGH um einen Deal zwischen der niederländischen Versandapotheke DocMorris und der Deutschen Parkinson Vereinigung. Sie hatten ein Bonussystem ausgehandelt, von dem Mitglieder der Vereinigung profitieren konnten. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs war aber der Auffassung, dass das System gegen deutsche Gesetze verstößt. Sie beantragte beim Landgericht Düsseldorf, dass die Deutsche Parkinson Vereinigung das Bonussystem nicht bei ihren Mitglieder bewerben dürfe. In zweiter Instanz wandte sich das Oberlandesgericht Düsseldorf schließlich an den EuGH. Er sollte klären, ob die Festlegung einheitlicher Apothekenabgabepreise für verschreibungspflichtige Medikamente mit dem freien Warenverkehr vereinbar ist.
Für Versandapotheken ist der Preis entscheidend
Für ausländische Apotheken, so das Gericht, ist der Online-Versandhandel die wichtigste oder gar einzige Möglichkeit in Deutschland Medikamente zu verkaufen. Dabei hätten Online-Versandapotheken aber unter anderem den Nachteil, dass sie nicht denselben Service bieten könnten wie gewöhnliche Apotheken (siehe auch Test Apotheken und Versandapotheken). Konkurrenzfähig könnten sie nur bleiben, wenn sie den Preiswettbewerb nutzen und günstigere Medikamente anbieten. Durch die deutsche Regelung sei ihnen dieser Wettbewerbsfaktor aber verwehrt.
Medikamente könnten günstiger werden
Im Klartext heißt das: Ausländische Versandapotheken können ab sofort Rabatte auf Medikamente anbieten. Friedrich-Wilhelm Mehrhoff, Geschäftsführer vom Bundesverband der Deutschen Parkinson Vereinigung, sieht das als Erfolg an. „Das Urteil bricht die verkrustete Preisbindung auf“, sagte er auf Nachfrage von test.de. So könne ein Wettbewerb entstehen, der letztlich den Patienten nütze. Und es tut sich schon etwas. Die zwei größten ausländischen Versandapotheken versprechen bereits günstigere Arzneimittelpreise. DocMorris kündigte zwei Euro Rabatt pro verschriebener Medikamentenpackung an. Und die ebenfalls niederländische Europa-Apotheek bietet jetzt einen Rabatt an, der mit dem Preis des Arzneimittels steigt. Je teuer die Arznei, desto größer also der Rabatt.
Tipp: Wer online einkauft, sollte nicht nur auf den Preis für das Medikament, sondern auch auf die Versandkosten achten – und einen seriösen Versender auswählen, um sicherzustellen, dass ihm keine gefälschten Arzneimittel untergejubelt werden. Verlässliche Infos finden Sie im Versandhandelsregister des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information.
Wer künftig weniger zahlen muss
Kassenpatienten, die bei Versandapotheken bestellen, können von Rabatten bei den Zuzahlungen profitieren. Gerade für chronisch kranke Patienten, die gesetzlich versichert sind und regelmäßig verschreibungspflichtige Arzneimittel brauchen, können solche Boni eine finanzielle Erleichterung sein. Je nach Einkommen sind chronisch Kranke allerdings auch von Zuzahlungen befreit. Auch Selbstzahler mit Privatrezept und Privatversicherte mit einer generellen Selbstbeteiligung, die ihre Krankheitskosten bis zu einem bestimmten Betrag pro Jahr selbst tragen, könnten von Preisnachlässen profitieren. Bei einigen Tarifen der privaten Krankenversicherung gibt es außerdem für Arzneimittel eine Selbstbeteiligung in Höhe von 10 Prozent oder 20 Prozent der Kosten. Versicherte, die eine solche Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln tragen, kommen unter Umständen künftig über ausländische Versandapotheken günstiger weg.
Inländische Versandapotheken könnten nachlegen
Die deutschen Versandapotheken geraten nun unter Druck. Der Vorsitzende des Bundesverbands deutscher Versandapotheken (BVDVA) Christian Buse forderte Gleichbehandlung: „Es kann nicht sein, dass es nach dem EuGH-Urteil zu einer Inländerdiskriminierung kommt. Warum sollten deutsche Versand-Apotheken etwas nicht dürfen, was Versender aus anderen europäischen Ländern dürfen?“ Wie es nun weiter geht ist noch unklar. Deutsche Versandapotheken könnten den Druck auf die Rechtsprechung aber erhöhen, indem sie die Preisbindung bewusst ignorieren und Rabatte anbieten. Dann müsste gerichtlich entschieden werden, ob die von Buse beschriebene „Inländerdiskriminierung“ rechtlich zulässig ist.
Kommt nun ein Verbot für Versandapotheken?
Die Reaktion der deutschen Apotheker auf das Urteil des EuGH fällt drastischer aus. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Apothekerverbände (ABDA) Friedemann Schmidt schlug „ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland“ vor. Dies würde auch inländische Versandapotheken betreffen. Schon kurz nach der Entscheidung des EuGH hatte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe mitgeteilt, dass er alles tun würde, um die flächendeckende Versorgung durch ortsnahe Apotheken zu sichern. Nun unterbreitet er denselben Vorschlag wie Schmidt. Ein Sprecher des Ministeriums bestätigte auf Nachfrage von test.de, dass Gröhe einen entsprechenden Entwurf in Auftrag gegeben hat. Es werde nun geprüft, ob ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneien rechtlich zulässig wäre.
Wie die Preise für rezeptpflichtige Arzneimittel entstehen
Die Idee hinter der bisher geltenden Preisbindung: Patienten in Deutschland sollen überall das Gleiche zahlen – unabhängig davon, wo sie wohnen und in welche Apotheke sie gehen. Pharmaunternehmen können – von einigen Einschränkungen abgesehen – selbst entscheiden, zu welchem Preis sie ein verschreibungspflichtiges Medikament verkaufen möchten. Auf diesen Einkaufspreis dürfen Großhandel und Apotheken jeweils einen gesetzlich festgelegten Zuschlag von drei Prozent erheben. Hinzu kommt ein „Abgabehonorar“ von 8,35 Euro zuzüglich 16 Cent zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes. Seit 2012 kann der Großhandel beim Verkauf zusätzlich noch einen prozentualen Aufschlag erheben. Für vergleichbare Arzneimittel werden Festbeträge bestimmt. Dies soll gewährleisten, dass die Kassen kein teures Arzneimittel bezahlen müssen, wenn es gleichwertige, aber günstigere Präparate gibt.
Tipp: Eine ausführliche Darstellung zum Thema Arzneimittelpreise finden Sie in unserer Datenbank Medikamente im Test.
Zuzahlungen für gesetzlich Versicherte
Gesetzlich Versicherte müssen bei rezeptpflichtigen Medikamenten meistens zuzahlen. Die Zuzahlung liegt je nach Packungspreis zwischen 5 und 10 Euro. Arzneimittel, die sehr wenig kosten und mindestens 30 Prozent unter dem Festbetrag liegen, sind zuzahlungsfrei. Die Krankenkassen profitieren auch von gesetzlich vorgeschriebenen Rabatten, die sie von den Pharma-Unternehmen (Herstellerabschlag) und den Apotheken (Apothekenabschlag) erhalten. Außerdem können sie für patentfreie Arzneimittel (sogenannte Generika oder Nachahmerprodukte) mit Pharmazieunternehmen Rabatte vereinbaren. Von den Einsparungen können wiederum die Versicherten profitieren. Einen guten Überblick über die deutschen Regelungen finden Interessierte auch auf der Website des Bundesministeriums für Gesundheit.
Tipp: Besonders wenn es um die eigene Gesundheit geht, ist Information Gold wert. Ob ein bestimmtes Mittel überhaupt hilft und welche Nebenwirkungen es haben kann, darüber informiert unsere Datenbank Medikamente im Test. Die Arzneimittelexperten der Stiftung Warentest haben mehr als 8 000 Medikamente bewertet. Wir aktualisieren auch fortlaufend die Preise. Ein Einzelabruf kostet 1 Euro pro Medikament, der Preisvergleich ist kostenlos.
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Dieser Artikel ist erstmals am 24. Oktober 2016 auf test.de erschienen. Er wurde am 28. Oktober 2016 aktualisiert.