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Auch lange nach dem Vertragsende sind oft noch Tausende Euro Nachschlag drin. Zwei Beispiele zeigen, wie das geht.
Auch wenn es den Versicherern nicht gefällt: Langsam spricht sich das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) herum, dass Kunden ihren zwischen 1994 und 2007 geschlossenen Lebens- und Rentenversicherungsverträgen mit fehlerhaften Belehrungen auch heute noch widersprechen können (Urteil vom 7. Mai 2014, Az. IV ZR 76/11).
Scharenweise widersprechen sie ihren Verträgen, weil sie sich über schlechte Policen und viel zu niedrige Rückkaufswerte ärgern. So wie Harald Börgardts aus Krefeld (Fall 2 - beitragsfrei gestellt: 2 600 Euro mehr) und Martina W. aus Auleben (Fall 1 - Rücklauf: 4 600 Euro Nachzahlung). Für sie haben sich die Widersprüche gelohnt.
Ist ein Widerspruch erfolgreich, darf die Versicherung nur die Beiträge für den „genossenen Versicherungsschutz“ wie Risikobeiträge für den Todesfallschutz einbehalten. Alle anderen Einzahlungen – das betrifft laut BGH auch die hohen Abschluss- und Verwaltungskosten für solche Policen (Az. IV ZR 448/14) – müssen die Gesellschaften komplett erstatten. Dazu gehören auch die Zinsen, die sie mit den eingezahlten Beiträgen erwirtschaftet haben.
Schon heute hätten viele Kunden Tausende Euro mehr als nach einer Kündigung zurückerhalten, heißt es bei auf Widersprüche spezialisierten Experten.
Diese Verträge sind betroffen
Die Chance auf Widerspruch haben viele Kunden, die zwischen dem 29. Juli 1994 und dem 31. Dezember 2007 Verträge nach dem sogenannten Policenmodell abgeschlossen haben. Bei ihnen waren Urteilen des BGH zufolge oft die Belehrungen falsch oder es fehlten notwendige Vertragsunterlagen. In diesen Fällen, in denen die Gesellschaften die Unterlagen erst später zusammen mit dem Versicherungsschein (Police) übergaben, hat die Widerspruchsfrist oft nie begonnen.
In den Verträgen heißt es zum Beispiel: „Wie Ihnen bereits aufgrund unseres Hinweises im Versicherungsantrag bekannt ist, können Sie innerhalb von 14 Tagen [Anmerkung der Redaktion: nach 2004 innerhalb von 30 Tagen] nach Erhalt des Versicherungsscheins dem Versicherungsvertrag widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt eine rechtzeitige Absendung des Widerspruchs.“
Das reichte den Richtern nicht. Es fehle der notwendige Hinweis darauf, dass der Widerspruch in Textform zu erheben sei. Außerdem müsse die Belehrung optisch deutlich hervorgehoben sein.
Die Urteile bedeuten, dass es ein Widerspruchsrecht für alle Verträge gibt, in denen bis Ende 2007 fehlerhaft belehrt wurde. Ist der Beginn der Widerrufsfrist nicht angegeben oder die Belehrung nicht deutlich vom übrigen Text abgehoben, gibt es ein ewiges Rücktrittsrecht. Seit 2008 gibt es dieses Policenmodell nicht mehr, da es nicht mit dem europäischen Verbraucherrecht vereinbar ist.
Viele Millionen Verträge betroffen
Laut Urteil des Bundesgerichtshofs, der damit Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2013 umsetzt, können Kunden noch laufenden, bereits gekündigten oder regulär abgelaufen Verträgen widersprechen.
Das Urteil, das einen Kunden der Allianz betraf, könnte zur Belastungsprobe für Versicherer werden. Laut Vortrag der Allianz vor dem Europäischen Gerichtshof sind theoretisch 108 Millionen Verträge betroffen, in die Kunden 400 Milliarden Euro Beiträge eingezahlt haben. Die Allianz selbst habe in diesem Zeitraum 9 Millionen Verträge nach dem Policenmodell abgeschlossen.
Der vom Europäischen Gerichtshof entschiedene Fall kommt häufig vor. Denn viele Versicherte wollen ihre langjährigen Verträge vorzeitig kündigen. Sie bekommen dann vom Versicherer – wie der Allianz-Kunde, der seinen Rentenversicherungsvertrag nach zehn Jahren rückabwickeln wollte – einen sehr niedrigen Rückkaufswert. Der Kunde widersprach daraufhin seinem Vertrag, weil er über sein Rücktrittsrecht nicht ausreichend informiert worden sei, und bekam recht.
Nach Schätzungen der Verbraucherzentrale (VZ) Hamburg enthalten etwa 50 bis 60 Prozent von 40 Millionen zwischen 1994 und 2007 abgeschlossenen Verträge fehlerhafte Belehrungen. „Das bedeutet, dass 20 bis 24 Millionen Verträge grundsätzlich rückabwickelbar sind“, erklärt VZ-Versicherungsexpertin Kerstin Becker-Eiselen.
Das gelte auch für fondsgebundene Verträge, Riester- und Rürup-Rentenversicherungen mit fehlerhaften oder unvollständigen Belehrungen.
Die Gunst der Stunde nutzen
Die Hamburger Verbraucherschützer empfehlen Kunden: „Nutzen Sie die Gunst der Stunde, um schlechte Policen ohne große Einbußen loszuwerden oder miese Verträge im Nachhinein aufzubessern.“
Ohne Hilfe von Profis haben Laien aber kaum eine Chance, ihr Recht durchzusetzen. Ob eine Belehrung tatsächlich fehlerhaft ist, kann letztlich nur ein Jurist beurteilen. Kunden können auch nicht allein berechnen, wie viel sie vom Versicherer fordern können. Und schließlich: Versicherer mauern regelmäßig, wenn Kunden auf eigene Faust Forderungen aufstellen. „Uns ist kein Versicherer bekannt, der anstandslos zahlt“, sagt Becker-Eiselen.
Verbraucher, die Verträge loswerden wollen, können sich an die VZ Hamburg, einen Anwalt oder einen Dienstleister wenden, der auf Widerspruchsverfahren spezialisiert ist.
Bis Mai 2017 haben sich bei der Verbraucherzentrale Hamburg 1 000 Interessierte gemeldet, um ihre Widerspruchsbelehrungen prüfen zu lassen. Das kostet dort 85 Euro.
Wie viele Kunden ihre Ansprüche durchsetzen konnten, weiß man noch nicht. Der Großteil der Fälle wird von Gerichten entschieden. Bis Geld fließt, vergehen meist viele Monate.
Inzwischen haben sich eine Reihe von Anwälten auf Widerspruchsverfahren spezialisiert. Einige wie Volker Greisbach aus Düsseldorf arbeiten mit Dienstleistern zusammen, die sich gegen ein Erfolgshonorar um die ganze Abwicklung kümmern. Greisbach hat bereits rund 4 500 Widersprüche für Mandanten erklärt. Er hat eine Datenbank mit Daten der Versicherungswirtschaft aufgebaut, um die Ansprüche der Kunden im Fall einer Rückabwicklung zu berechnen. Die Datenbank wird von Dienstleistern wie der Afin24 GmbH aus Eiterfeld in Hessen genutzt. Die Afin24 hat den Kontakt zu unseren beiden Beispielfällen hergestellt.
Afin24 begleitet Kunden, die rechtsschutzversichert sind, bei Widerspruchsverfahren zunächst kostenlos. Nur wenn Anwalt Greisbach in den Belehrungen Fehler findet und Verträgen im Auftrag des Kunden erfolgreich widerspricht, muss der Kunde der Afin24 ein Honorar in Höhe von 20 Prozent des Mehrwerts zahlen, den er erzielt hat.
Erste Einschätzung online
Für eine erste grobe Einschätzung, wie viel Geld ihnen eine Rückabwicklung des Vertrags einbringen kann, können Interessierte auch ihre Vertragsdaten in kostenlose Onlinerechner eingeben. Sowohl die Verbraucherzentrale Hamburg also auch einige Anwälte wie Gansel Rechtsanwälte in Berlin bieten diese Möglichkeit.
Kunden müssen ihren Ursprungsvertrag zur Hand haben und wissen, wie der aktuelle Stand der Police ist. Widersprüche scheitern oft daran, dass der Versicherte die Unterlagen bereits weggeworfen hat.
Ausstieg überlegen
Läuft ein Vertrag über eine Lebens- oder Rentenversicherung noch, ist eine Rückabwicklung nicht in jedem Fall sinnvoll. Verbraucherzentralen und Dienstleister, die auf den Widerspruch spezialisiert sind (Unser Rat), helfen, laufende Verträge zu beurteilen.
Ist die Versicherung mit einem Berufsunfähigkeitsschutz gekoppelt, wäre dieser beim Ausstieg verloren. Kunden können nicht sicher sein, ob sie noch einen bezahlbaren neuen Schutz bekommen.
Auch der Todesfallschutz ist mit der Rückabwicklung weg.
Es gibt auch gute Verträge. Die Garantiezinsen lagen zwischen 1994 und 2000 bei 4 Prozent, bis 2004 bei 3,25 Prozent. Sind gleichzeitig die Kosten niedrig und der Anlageerfolg des Versicherers gut, kann sich der Vertrag lohnen.
Steuervorteile können bei Rückabwicklung verloren sein.
Debeka: Keine Rückabwicklungen
Gehen Kunden den Widerspruch schließlich an, müssen sie sich auf Gegenwind gefasst machen. Becker-Eiselen von der Verbraucherzentrale Hamburg sagt: „Einige Gesellschaften behaupten, dass ihre Belehrungen in Ordnung waren.“
So macht es zum Beispiel die Debeka, die auf Anfrage von Finanztest mitteilt, dass ihre Versicherten ordnungsgemäß über das ihnen zustehende Widerspruchsrecht belehrt worden seien und sämtliche erforderlichen Vertragsunterlagen erhalten hätten. „Wir können summarisch mitteilen, dass es keine Rückabwicklungen gegeben hat.“ Man habe sich nur in einigen wenigen Fällen verglichen.
Die Aachen Münchener Lebensversicherung räumt ein, dass sie bereits im Geschäftsjahr 2015 vorsorglich Rückstellungen gebildet hat. Ein nennenswert verändertes Kundenverhalten durch die BGH-Entscheidung erwarte sie aber nicht, erklärt Sprecherin Margit Haller.
Die R+V Lebensversicherung und die Zurich Deutscher Herold Lebensversicherung haben auf unsere Anfrage nach der Anzahl erfolgreicher Widersprüche nicht reagiert.
Allianz: Vor Gericht meist gewonnen
Die Allianz teilt auf Anfrage mit: „In den ganz überwiegenden Fällen hat Allianz Leben die Gerichtsverfahren gewonnen, in denen es um die Frage ging, ob der Vertrag nach einem Widerspruch wegen einer angeblich fehlerhaften Widerspruchsbelehrung und/oder einer angeblich fehlenden oder unvollständigen Verbraucherinformation rückabzuwickeln war,“ erklärt Udo Rössler, Sprecher bei der Allianz Deutschland.
Rechtsanwalt Greisbach hält dagegen: „Das ist falsch, weil die Allianz die vielen geschlossenen Vergleiche nicht berücksichtigt hat.“ Im Übrigen habe die Allianz in vielen Fällen gezahlt.
Der Streit um den Widerspruch werde sehr oft außergerichtlich geklärt, damit es nicht zu einem Urteil komme, erklärt Greisbach. Ärgerlich sei dabei, dass Versicherer oft einfach weniger zahlten, als sie müssten. „Wie sie auf die Zahlen kommen, sagen die Gesellschaften nicht. Keine Ahnung, wie die rechnen, “ sagt Greisbach.
Bisher hat er in 277 Fällen außergerichtliche Einigungen erzielt. „Liegt der Auszahlungsbetrag unter dem Forderungsbetrag, entscheidet der Mandant, ob er die Differenz einklagen möchte.“
Die meisten Fälle landen bei Gericht
Anwalt Greisbach sagt: „Die meisten Fälle landen vor Gericht, weil viele Versicherer versuchen, Widersprüche von Kunden abzublocken.“ Es gäbe aber Unternehmen, die bei berechtigten Ansprüchen zahlten. Dazu gehöre beispielsweise die Clerical Medical, berichtet der Anwalt.
Unsere beiden Beispielfälle haben mehrere Tausend Euro von Clerical Medical und Aachen Münchener Lebensversicherung bekommen. Davon mussten sie 20 Prozent an den Dienstleister Afin24 abgeben.
VZ Hamburg: Besser zum Anwalt
Die VZ Hamburg hält nichts von solchen Firmen. Auf ihrer Internetseite warnt sie Versicherte, dass sie im Einzelfall bis zu 50 Prozent der Rückzahlung verlieren, die sie erstreiten. „Die Erstprüfung könnte über einen Anwalt laufen – zu überschaubaren Konditionen.“
Martina W. und Harald Börgardts fanden die Kosten in Ordnung. „Für den Vorteil, dass die Firma mir alles abgenommen hat und ich mich um nichts kümmern musste, habe ich gerne gezahlt“, erklärt Börgardts. Und W. meint, dass sie durch den Wust ihrer Verträge nicht durchgeblickt habe und froh sei, dass der Dienstleister alle Versicherungsverträge geordnet habe.
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- Aus seiner Kapitallebensversicherung bekam Ergo-Kunde Willi Lübke 176 Euro weniger heraus, als er in 27 Jahren eingezahlt hatte. Rund 60 Prozent des Beitrags für seine...
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- Kunden sollten angemessen an den Bewertungsreserven beteiligt werden. Das fordert der Bund der Versicherten und zieht vor das Bundesverfassungsgericht.
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- Die Heidelberger Lebensversicherung und die Generali Lebensversicherung haben ihre Kunden nicht korrekt über ihr Recht auf Widerspruch gegen den Vertragsschluss...
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@David88888: Sie könnten noch versuchen, beim damals zuständigen ERGO-Vermittler nachzufragen, ob dieser einen Zugriff auf das Archiv hat oder ob dort eine Policen-Kopie vorliegt. Ein Widerruf mit einer Ersatzpolice ist nicht erfolgsversprechend und wird von den „meisten“ Anwälten und / oder Dienstleistern nicht angenommen.
Da Sie zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses erst 14 Jahre alt waren, hat vermutlich ein Elternteil den Vertrag abgeschlossen und ist / war somit Versicherungsnehmer. Wenn Sie im Vertrag nur als versicherte Person genannt werden und die Eltern noch als Vertragspartner, müsste der entsprechende Elternteil den Widerruf erklären.
Haben die Eltern den Vertrag bei Volljährigkeit auf Sie „umgeschrieben“ (David = Versicherungsnehmer), hat ein Versicherungsnehmerwechsel stattgefunden, was als „harter“ Eingriff in den Vertrag gewertet wird und quasi nochmal bestätigt an dem Vertrag festhalten zu wollen. Dies wird vor Gericht häufig als starker Verwirkungstatbestand gesehen und führt somit zu schlechteren Erfolgsaussichten für den Widerruf. (maa)
Hallo, liebe Test-Redaktion,
Die Vertragunterlagen von meiner Ergo-Lebensversicherung liegen nicht mehr vor. Bei der Unterzeichnung war ich erst 14 Jahre und habe somit keine Erinnerungen mehr, was darin steht. Aber der Vertrag wurde zwischen 1994 und 2007 beschlossen.
Nach der Anforderung an Ergo kam nur eine "Ersatzvertrag", in der die fehlerhafte Widerrufungsbelehrung anscheinend korrigiert wurde.
Ist es möglich auf Kopien vom Originalvertrag zu bestehen? Muss diesbezüglch auf einen Gesetz berufen werden?
Auf eine kurze Rückinfo freue ich mich und bedanke mich im Voraus.
VG -David
@Sienna: Die Rechtsprechung gilt auch für Kombiprodukte aus Kapitallebens- und Berufsunföhigkeitsversicherung. Da die Kosten des genossenen Versicherungsschutzes abzuziehen sind, sind die Abzüge bei diesem Produkt weitaus höher als bei der klassischen Kapitalleben- und Rentenversicherung. (maa)
Sehr geehrte Damen und Herren,
ist der Widerspruch auch für eine Risiko-Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeit möglich? Ich habe den Vertrag 2003 abgeschlossen bei der HUK-Coburg und jetzt Anfang diesen Jahres gekündigt und der Rückkaufswert war natürlich nicht hoch.
Mit freundlichen Grüßen
@driver1707: Die Möglichkeit zum Widerspruch haben nur Verbraucher, die ihren Vertrag zwischen Ende Juli 1994 und Ende 2007 abgeschlossen hatten. Wer wie Sie den Vertrag bereits früher abgeschlossen hat, kann nur versuchen, auf anderen Wegen seine Versicherung zu optimieren. Bitte lesen Sie dazu unseren Beitrag aus Finanztest 2/2016.(PH)
https://www.test.de/Lebensversicherung-Wie-Versicherer-Rente-und-Kapitalauszahlung-kuerzen-4965508-0/