Überraschende Wendung im Streit um den Widerruf von Kreditverträgen: Der Bundesgerichtshof (BGH) macht verbraucherfreundliche Vorgaben für die Rückabwicklung. Das bringt Kreditkunden in vielen Fällen etliche Tausend Euro zusätzlich. test.de erklärt die Entscheidung sowie mögliche Risiken und Nebenwirkungen.*
[Update 25.11.2015] Jürgen Ellenberger, Vorsitzender des Bankensenats der BGH, hat bei einer Fortbildungsveranstaltung für Rechtsanwälte gesagt: Er verstehe den Beschluss nicht als Abkehr von der herkömmlichen Berechnung der Kreditrückabwicklung. Der BGH werde sich bei nächster Gelegenheit genauer äußern. Weitere Details in der Chronik zu zum Thema Kreditwiderruf
Der Streit ums Widerrufsrecht
Rechtlicher Hintergrund: Bei rund 80 Prozent der von Herbst 2002 an geschlossenen Immobilienkreditverträge sind die Widerrufsbelehrungen fehlerhaft. Kreditnehmer können solche Verträge auch heute noch widerrufen. Weil die Zinsen stark gesunken sind, können Kreditnehmer auf diese Weise viele Tausend Euro sparen. Einzelheiten, Tipps, Mustertexte und Excel-Rechner liefert test.de im Special Immobilienkredite: So kommen Sie aus teuren Kreditverträgen raus. Insgesamt geht es um hunderte Milliarden Euro. Allein die aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist geeignet, Kreditnehmern in der Summe viele Milliarden Euro zu bringen.
Der Streit um die Rückabwicklung
Zusätzlich zur Zinsersparnis durch den Ausstieg aus dem Kreditvertrag profitieren Kreditnehmer nach Widerruf von der Rückabwicklung des Vertrags. Bislang war umstritten, wie diese genau vorzunehmen ist. Nun hat der Bundesgerichtshof eine Entscheidung mit klaren Ansagen für die Rückabwicklung veröffentlicht. Danach
- steht Kreditnehmern die Erstattung aller Ratenzahlungen zu. Außerdem muss die Bank herausgeben, was sie mit dem Geld der Kunden erwirtschaftet hat. Solange die Bank das nicht genau belegt, hat sie Zinsen in Höhe von fünf Punkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.
- steht der Bank im Gegenzug die Rückzahlung der Kreditsumme zu – sowie Zinsen auf die jeweilige Restschuld.
Die Entscheidung erstaunt, denn diese Art der Berechnung ist neu. Bisher hatte gegolten: Wenn der Kunde alle bereits bezahlten Kreditraten samt Zinsen darauf zurück erhält, stehen der Bank Zinsen auf die gesamte Kreditsumme zu. Der Unterschied summiert sich je nach Kreditsumme und Höhe des Tilgungsanteils in den Raten schon nach wenigen Jahren auf etliche Tausend Euro. Bei einer sehr langen Laufzeit eines Kredits mit drei bis vier Prozent Anfangstilgung bis zum Widerruf stehen Kreditkunden bei Rückabwicklung nach den neuen BGH-Ansagen fast doppelt zu gut da wie bisher.
Rechenbeispiel: Der Widerruf eines Ende Dezember 2004 ausgezahlten Kredits in Höhe von 150 000 Euro, für den 4,0 Prozent Zinsen und Monatsraten à 908,97 Euro zu zahlen waren, bringt bei Abrechnung nach den aktuellen BGH-Ansagen einen Vorteil von 33 322 Euro, wenn der Kunde am 31.10.2015 widerruft. Nach der herkömmlichen Art und Weise abgerechnet, beläuft sich der Widerrufsvorteil auf 20 076 Euro.
Klar: Für tilgungsfreie Darlehen, wie sie im Rahmen von Bausparsofortfinanzierungen oder auch schon mal kombiniert mit Geldanlageprodukten wie Kapitallebensversicherungen vergeben werden, ändert die neue Ansage des BGH nichts.
Banken und Sparkassen unter Druck
Immobilienfinanzierer geraten durch die Ansagen des BGH noch stärker unter Druck. Nach Ansicht der Finanztest-Experten zahlen sie drauf, wenn sie allen widerrufenden Kunden gemäß BGH-Berechnung Geld zurückzahlen müssen und das Geld erstatten, das die Banken mit dem Geld der Kunden erwirtschaftet haben – im Juristendeutsch: ihre Nutzungen herausgeben. Wie viel Ertrag sie mit den Ratenzahlungen der Kunden tatsächlich erwirtschaften, weiß aktuell wohl niemand. Die Anbieter selbst rechnen ganz anders als der BGH. Bisher haben sich die Immobilienfinanzierer kaum in die Karten schauen lassen und meist nur halbherzige Versuche unternommen zu erklären, wie genau sie die Ratenzahlungen von Immobilienkunden nutzen und was sie dabei erwirtschaften.
Beweislast bei Kreditgebern
test.de vermutet: Die Banken und Sparkassen werden jetzt die Karten auf den Tisch legen, um sich gegen Kreditwiderrufsklagen zu verteidigen. Der Aufwand dürfte hoch sein: Alle Unterlagen zur Kalkulation und die Verträge, mit denen die Kreditgeber sich ihrerseits das Geld für die Kreditvergabe beschaffen, müssen auf den Tisch. Wahrscheinlich wird es nötig sein, Bankmanager, vielleicht auch Vertragspartner der Banken als Zeugen zu vernehmen. Gutachter werden die Unterlagen auswerten müssen. Unschöner Nebeneffekt: Die Rechtsstreitigkeiten werden komplizierter. Außerdem steigt das Prozessrisiko. Wenn es einer Bank gelingt, das Gericht davon zu überzeugen, dass sie mit den Ratenzahlungen ihrer Kreditkunden erheblich weniger als die vom BGH vermuteten Nutzungen erwirtschaftet, werden Kreditnehmer oft jedenfalls einen Teil der Prozesskosten tragen müssen. Dazu gehören auch die Kosten für Verdienstausfall und Fahrtkosten von Zeugen und die Honorare von Sachverständigen.
Verlorene Prozesse
Eine Besonderheit für bereits laufende Verfahren: Streiten die Parteien vor Gericht, wird es den Banken und Sparkassen in vielen Fällen nicht mehr möglich sein, sich mit neuen Argumenten zu verteidigen. In Zivilprozessen müssen alle Parteien sofort sagen, was sie für wichtig halten. Nur ausnahmsweise ist es später noch möglich, neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zu bringen. In diesen Fällen sind Verbraucher fein raus: Die Gerichte werden die Ansagen des BGHs zur Rückabwicklung in aller Regel beachten und Verbrauchern auf diese Weise oft Tausende Euro zusätzlich zusprechen.
Bundesgerichtshof Beschluss vom 22.09.2015
Aktenzeichen: XI ZR 116/15
Klägerinvertreter: Rechtsanwalt Maik Winneke, Pinneberg
Immobilienkredite: So kommen Sie aus teuren Kreditverträgen raus
* Dieser Artikel wurde erstmals am 14. Oktober 2015 veröffentlicht und am 15. Oktober 2015 aktualisiert.
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- Praktisch alle von 14. Juni 2010 bis 20. März 2016 geschlossenen Immobilienkreditverträge sind fehlerhaft. Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Gut für...
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- Viele Immobilienkredite sind fehlerhaft. Bauherren und Hauskäufer können sie widerrufen. Im Einzelfall kann das immer noch Tausende Euro bringen.
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- Kreditnehmer, die ihr Hypothekendarlehen vorzeitig ablösen, müssen eine Vorfälligkeitsentschädigung zahlen. Hier können Sie berechnen, wie viel die Bank verlangen darf.
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Alle aktuellen Informationen zum Kreditwiderruf und auch den beiden angesprochenen BGH-Entscheidungen finden Sie unter: www.test.de/kreditwiderruf Zusätzlich erschienene einzelne Meldungen aktualisieren wir nur ausnahmsweise bei besonderem Bedarf noch. Sie geben jeweils den Stand der Dinge zum angegebenen Datum wíeder.
Der BGH hält bei der Rückabwicklung von Darlehensverträgen an seinem Beschluss vom 22.09.2015 (Az. XI ZR 116/15) fest - siehe Beschluss vom 12.01.2016 (Az. XI ZR 366/15), wo es nicht nur um den Streitwert geht, sondern eben auch um die Modalitäten der Rückabwicklung.
XI ZR 116/15: https://dejure.org/2015,27667
XI ZR 366/15: https://dejure.org/2016,3265
@test.de-Redakteur_Herrmann: Könnten Sie das evtl. noch in Ihrem Beitrag ergänzen? Vielen Dank!
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