Kranke Kinder­zähne MIH lässt Zahn­ärzte und Forscher rätseln

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Hinter einem komplizierten Namen steckt eine neue, rätselhafte Krankheit: Die Molaren-Inzisiven-Hypomi­neralisation (MIH) färbt die Zähne fleckig, macht sie im schlimmsten Fall sogar porös und extrem schmerz­empfindlich. MIH-Fälle sind nicht selten: Rund 29 Prozent der 12-Jährigen in Deutsch­land sind betroffen. Und die Wissenschaft rätselt über die Ursachen.

Flecken auf den Zähnen

Bei Kindern fällt etwa ab dem Schul­alter nach und nach das Milch­gebiss aus und die bleibenden Zähne kommen durch. Immer öfter stellen Eltern dann mit Schre­cken fest: Die Zahn­oberfläche der bleibenden Backenzähne (Molaren) ist weiß­lich-creme­farben oder gelb­lich-braun gefleckt. Seltener sind auch die bleibenden Schneidezähne (Inzisiven) betroffen. Manchmal weisen die Zähne aber nicht nur Verfärbungen auf: In Extremfällen ist die Zahn­substanz porös. Die Zähne bröckeln regelrecht weg, jede Berührung schmerzt. Der Grund dafür ist die rätselhafte Schmelz­bildungs­störung Molaren-Inzisiven-Hypomi­neralisation, kurz MIH. Über sie ist noch wenig bekannt. „Die genauen Ursachen der Krankheit sind bislang ungeklärt“ sagt Professor Dietmar Oesterreich, Vize­präsident der Bundes­zahn­ärztekammer. „Es wird in verschiedene Richtungen geforscht.“

Die Ausprägung der Krankheit variiert

Fast 29 Prozent der 12-Jährigen in Deutsch­land leiden unter MIH. Die Ausprägung der Krankheit variiert dabei stark. „5,4 Prozent der Betroffenen sind behand­lungs­bedürftig“, sagt Dietmar Oesterreich. Das ergab die kürzlich veröffent­lichte fünfte deutsche Mund­gesund­heits­studie der Bundes­zahn­ärztekammer und Kassen­ärzt­lichen Bundes­ver­einigung. In ihrem Rahmen wurde auch die Zahn­gesundheit von Kindern untersucht. Im Fokus standen dabei, wie interna­tional üblich, die 12-Jährigen: Bei ihnen sind alle bleibenden Zähnen bereits voll­ständig durch­gebrochen und kontrollier­bar.

Die Ungewiss­heit belastet

Bei leichteren Fällen von MIH wird Fluorid auf die Zähne aufgetragen, damit sich wieder Mineralien im Zahn einlagern können. Auch Versiege­lungen der Fissuren, also der Kauf­lächenreliefs der Backenzähne, sind möglich. Sind bereits Stellen vom Zahn abge­platzt, kommen Kunststoffeinsätze oder Kronen infrage. „In 0,1 Prozent der Fälle muss ein Zahn sogar entfernt werden“, sagt Dietmar Oesterreich. Angenehm ist das für die jungen Patienten nicht. Und auch die Ungewiss­heit über den Ursprung von MIH belastet – vor allem die Eltern der Betroffenen.

Tipp: Geschulte Zahn­ärzte erkennen MIH bei Kindern meist auf den ersten Blick und sobald die bleibenden Zähne das Zahn­fleisch durch­brechen. Gehen Sie mit Ihrem Kind deshalb regel­mäßig zur Vorsorgeunter­suchung. Je eher MIH erkannt und behandelt wird, desto besser. Wenn MIH bereits fest­gestellt wurde, sind regel­mäßige Besuche und Kontrollen beim Zahn­arzt wichtig, um Schäden einzudämmen. Auch die Mund­hygiene zu Hause sollte penibel sein: Regel­mäßiges Putzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta ist unver­zicht­bar (zu unseren Tests von Kinderzahnpasta). Versuchen Sie zudem, Ihr Kind an Zahnseide oder Interdentalbürstchen zu gewöhnen.

Welt­weite Suche nach Ursachen

Wissenschaftler suchen interna­tional nach Erklärungen. MIH tritt bei Kindern welt­weit auf. „Genetische Störungen werden als mögliche Ursache ebenso diskutiert wie Antibiotikagaben, Infektions­krankheiten oder chro­nische Erkrankungen in der frühen Kindheit“, erklärt Dietmar Oesterreich. Zudem werde geforscht, ob bestimmte Vorkomm­nisse in der Schwangerschaft oder in der Phase nach der Geburt die Mineralisierung der bleibenden Zähne beein­trächtigt – denn schon zu diesem frühen Zeit­punkt werden sie im Kiefer des Embryos angelegt. Auch die Muttermilch wird untersucht: Könnten in ihr enthaltene Dioxine die Zahn­schmelz­bildung negativ beein­flussen? Französische Forscher sind seit 2013 zudem dem Bisphenol A als Ursache auf der Spur. Es wird häufig bei der Herstellung von Kunststoffen und Harzen verwendet und kann so auch in Lebens­mittel­verpackungen vorkommen.

BfR hält Zusammen­hang mit Bisphenol A für „unwahr­scheinlich“

Das Bundes­institut für Risiko­bewertung (BfR) ist dem Verdacht, dass Bisphenol A (BPA) die Zahndefekte verursachen könnte, genauer nachgegangen und hat die dazu vorliegenden wissenschaftlichen Daten noch einmal gesichtet und bewertet. In einer Stellungnahme des BfR aus dem Sommer 2018 heißt es: Dass zwischen dem Auftreten von MIH und der Aufnahme von Bisphenol A ein Zusammen­hang bestehe, sei „nach derzeitigem Stand des Wissens unwahr­scheinlich“. So seien die französischen Wissenschaftler, auf deren Arbeiten die Vermutung der schädigenden Wirkung des BPA bisher fußte, etwa von einer deutlich zu hohen Dosis ausgegangen, die Kinder über Lebens­mittel­kontaktmaterialien aufnehmen. Forscher aus den Nieder­landen kämen nach neueren Einschät­zungen zu einem 35-fach geringeren Wert. Zudem bemängelt das BfR metho­dische Schwächen bei den Franzosen: So untersuchten sie den Einfluss des BPA zunächst nur an männ­lichen Ratten. Erst in späteren Arbeiten wurde gezeigt, dass die bei den männ­lichen Tieren erhobenen Befunde bei weiblichen Tieren deutlich schwächer ausgeprägt oder nicht vorhanden waren. Auch Daten anderer Arbeits­gruppen, die Ratten und Mäuse über mehrere Generationen hinweg untersucht und keine Zahn­schäden fest­gestellt hatten, berück­sichtigten die Franzosen nicht. Nicht zuletzt weist das BfR auf eine Stellungnahme der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hin, nach der menschliche Säuglinge Bisphenol A deutlich besser metabolisieren – also verstoff­wechseln – können als neugeborene Ratten. Nach Meinung des BfR müsse man bei der Entstehung von MIH „von einem multi­faktorellen Geschehen“ ausgehen.

Kein Grund für Schuldgefühle

Tatsäch­lich halten auch andere Experten es für möglich, dass bei der Entstehung von MIH verschiedene Faktoren zusammentreffen. Für besorgte Eltern, die im Zweifel auch noch Schuldgefühle haben, gibt es aber bereits eine als gesichert zu betrachtende Erkennt­nis: „Eine mangelnde oder unzu­reichende Mund­hygiene beim Kleinkind können wir als Ursache bereits ausschließen“, beruhigt Dietmar Oesterreich. „Trotzdem sollte gerade in solchen Fällen die Mund­hygiene sehr ernst genommen werden.“

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Erst seit 2001 tragen die Symptome auch einen Namen

Die Krankheit scheint wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Erst seit 2001 existiert für die Verfärbungen und Störungen im Zahn­schmelz die einheitlich gebrauchte Bezeichnung Molaren-Inzisiven-Hypomi­neralisation. Doch ob sie tatsäch­lich neueren Datums ist, oder in der Vergangenheit einfach nur von der inzwischen rück­läufigen Karies über­deckt, oder von Zahn­ärzten unwissentlich gar mit ihr gleichgesetzt wurde – auch das ist bisher nicht geklärt.

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Diese Meldung ist am 30.08.2016 auf test.de erschienen. Sie wurde am 15.08.2018 aktualisiert.

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