Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Wer nicht in den Beruf zurück kann und sein Kind zu Hause versorgen muss, weil die Stadt keine Kitaplätze frei hat, kann den entgangenen Verdienst geltend machen. Tatsächlich ist es mit dem seit 1. August 2013 geltenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nicht immer weit her. Hier lesen Sie die Hintergründe, wichtige Tipps für Familien – und ein Porträt einer der Mütter, die jetzt vor dem BGH erfolgreich waren.
Unser „Mutmacher“ hat sich durchgesetzt
Der Bundesgerichtshof hat drei Müttern Recht gegeben, die nach Ablauf der einjährigen Elternzeit wegen fehlender Kitaplätze ihre Vollzeit-Berufstätigkeit nicht wieder aufnehmen konnten. Unter den Klägerinnen ist auch Claudia Menschel aus Leipzig. Über ihren Fall hatten wir im vergangenen Jahr in unserer Rubrik „Mutmacher“ ausführlich berichtet. Sie und ihr Mann Sven hatten ihren Sohn Tobias wenige Monate nach der Geburt für einen Kitaplatz angemeldet, aber keinen erhalten.
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Kitaplatz zwei Monate zu spät
Die Architektin und der Bautechniker hatten sich daraufhin bei 36 Kindertagesstätten und 6 Tagespflegestellen um einen Platz für ihren Sohn bemüht und sich beim Jugendamt vorgestellt. Doch erst nach monatelanger Suche kam ein Angebot für einen Kitaplatz – zwei Monate später als geplant. Die Leipzigerin konnte noch von Glück reden, dass ihr Arbeitgeber trotzdem ihren Arbeitsplatz frei hielt und nicht kündigte. Die Firma war nicht verpflichtet, die Elternzeit zu verlängern. Nun machte Claudia Menschel ihren Verdienstausfall als Schaden geltend. Zusammen mit dem Verdienstausfall der beiden anderen Mütter ging es um insgesamt 14 078 Euro (Bundesgerichtshof, Az. III ZR 278/15, 302/15 und 303/15).
Stadt hat ihre Amtspflicht verletzt
Der BGH stellte klar: Den Frauen steht grundsätzlich Schadenersatz zu. Die Stadt hat ihre Amtspflicht verletzt, weil sie als zuständiger Träger der Jugendhilfe dem Kind keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellte, obwohl es Anspruch darauf hatte und rechtzeitig angemeldet war. Schließlich sieht das Sozialgesetzbuch vor, dass Kinder nach Vollendung des ersten Lebensjahrs Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in einer Kindertagespflege haben. Das reicht bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. So steht es in Paragraf 24 des SGB VIII.
Finanzieller Engpass der Stadt keine Ausrede
Die Stadt kann sich nicht damit herausreden, dass die vorhandenen Kapazitäten einfach nicht ausreichten. Vielmehr hätte sie dafür sorgen müssen, dass genügend Kitaplätze vorhanden sind – entweder indem sie selbst welche schafft, oder indem sie Plätze bei freien Trägern oder Tagesmüttern besorgt. Auf allgemeine finanzielle Engpässe können Städte und Gemeinden sich nicht berufen. Sie müssen für eine ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen einstehen.
Regelung soll Erwerbsinteresse der Eltern fördern
Schon die Vorinstanz, das Oberlandesgericht Dresden, hatte eine Verletzung der Amtspflicht gesehen. Doch die Dresdner Richter meinten, daraus ergebe sich nicht zwangsläufig ein Anspruch der Eltern auf Ersatz ihres Verdienstausfalls. Das sieht der BGH ganz anders: Das vor gut drei Jahren eingeführte Kinderförderungsgesetz soll nicht nur jedem Kind einen Kitaplatz sichern, sondern auch das Erwerbsinteresse der Eltern schützen. Das Gesetz soll also nicht nur das Kindeswohl fördern, sondern auch die Eltern so entlasten, dass sie wieder zurück können in ihren Beruf. Damit soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert und ein Anreiz gegeben werden, dass mehr Familien sich ihren Kinderwunsch erfüllen.
Anscheinsbeweis gegen die Kommune
Damit ist die Sache im Grundsatz klar – im konkreten Fall verwies der BGH die Angelegenheit jedoch zurück an das Berufungsgericht. Denn in Einzelfällen kann es sein, dass die Kommune keine Schuld trifft. Denkbar wäre das zum Beispiel in Fällen, in denen eine geplante neue Kita nicht rechtzeitig fertig wird, weil der Bauträger pleite ist. Das Gericht wies aber ausdrücklich darauf hin, dass in Fällen, in denen Eltern keinen Kitaplatz für ihr Kind bekommen, grundsätzlich von der Verantwortlichkeit der Kommune auszugehen sei. Sie hat den so genannten Beweis des ersten Anscheins gegen sich und muss daher aktiv nachweisen, dass sie keine Schuld trifft.
Stadt muss Eltern die Beiträge erstatten
Schon zuvor hatten auch andere Gerichte den Anspruch auf einen Kitaplatz bekräftigt. Dabei ging es meist um die Frage, ob Eltern sich auf eigene Faust eine Betreuungseinrichtung suchen können, wenn die Stadt keinen Kitaplatz zur Verfügung stellt. Das Bundesverwaltungsgericht hatte dies bereits 2013 in einem Fall bejaht, der noch vor Inkrafttreten des bundesweiten Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz lag. Damals hatten Eltern aus Rheinland-Pfalz Anspruch auf einen Kitaplatz, weil das Landesrecht dies so vorsah. Es war aber kein Platz frei, sodass die Eltern sich selbst um die Unterbringung in einer privaten Kinderkrippe kümmerten. Die Stadt musste ihnen die Kosten ersetzen, die dadurch entstanden (Az. 5 C 35/12).
Kind rechtzeitig anmelden
Voraussetzung dafür ist, dass Eltern ihren Bedarf rechtzeitig anmelden. Ähnlich haben auch andere Gerichte entschieden. So musste die Stadt Mainz Eltern entschädigen, die keinen Kitaplatz bekamen und sich deshalb auf eigene Faust eine Tageseinrichtung für ihre Zwillinge suchten. Sie fanden einen Waldorfkindergarten, der eine Mitgliedsgebühr verlangte. Die Stadt muss den Eltern die Kosten erstatten (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Az. 7 A 10849/15.OVG).
Wahl zwischen Kitaplatz und Tagesmutter?
Ob Eltern die Wahl haben zwischen Kitaplatz und Tagesmutter, regelt das Gesetz nicht eindeutig. Die Gerichte urteilen in dieser Frage unterschiedlich. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof meint, dass das Jugendamt Eltern nicht auf eine Tagesmutter verweisen darf, wenn keine Plätze in einer Tageseinrichtung frei sind und umgekehrt (Az. 12 BV 15.719). Auch laut Verwaltungsgericht Köln haben die Eltern die Wahl zwischen Kita und Tagesmutter (Az. 19 L 877/13). Anders das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen: Ist lediglich ein Platz bei einer Tagesmutter frei und nicht in einer Kindertagesstätte, hat die Behörde ihre Pflicht zur Bereitstellung einer Betreuung erfüllt. Nur wenn es mehrere frei Plätze gebe, dürften Eltern wählen, so das Urteil (Az. 12 A 1262/14).
Maximal neun Stunden pro Tag
Wie viele Stunden pro Tag Anspruch auf einen Kitaplatz besteht, steht nicht im Gesetz. Es nennt keine wöchentliche oder tägliche Höchstbetreuungszeit. Das Verwaltungsgericht München entschied, dass es entscheidend auf Alter und Entwicklungsstand des Kindes ankommt: Je jünger, desto kürzer sollte die außerfamiliäre Betreuung sein. Als Obergrenze sieht das Gericht täglich neun Stunden an, also pro Woche 45 Stunden. Mehr sei unter dem Aspekt des Kindeswohls nicht zumutbar (Az. M 18 K 14.3284). Ähnlich urteilte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Az. 12 B 793/13).
Entfernung muss zumutbar sein
Die Kita muss in zumutbarer Entfernung liegen. Mehrere Gerichte finden maximal fünf Kilometer in Ordnung, zumindest in Großstädten. Die Fahrtzeit sollte nicht über 30 Minuten liegen. Ein dreimaliges Umsteigen findet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof unzumutbar. Ebenso wenig könne von Eltern verlangt werden, einen zweiten Pkw anzuschaffen, um die Fahrtzeiten zu verkürzen (Az. M 18 K 14.3284).
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@HORTSCHT8: Es gibt unterschiedliche Wege, um den Umfang eines Schadensersatzes beim Verdienstausfall zu berechnen. Eine Methode geht vom Bruttolohn aus, eine andere vom Nettolohn. Je nachdem, welche Methode gewählt wird, finden weitere Abzüge statt. Diese dienen dazu, zu gewährleisten, dass die geschädigte Person mit dem Erhalt des Schadensersatzes finanziell nicht besser dasteht als ohne das Schadensereignis.
Auf jeden Fall sollten Sie sich anwaltlich beraten lassen, um die individuelle Höhe des Schadensersatzes zu berechnen, unabhängig davon, wie das in den Vom BGH behandelten Fällen gemacht wurde.
Sie können beide Urteile auf der Seite des Bundesgerichtshofes finden.
www.bundesgerichtshof.de / Aktuelle Entscheidungen / Suche / III ZR 278/15 bzw. III ZR 302/15
In keinem der beiden Fälle führt der BGH aus, wie die Schadenshöhe nach seiner Ansicht zu berechnen war.
Im zweiten Fall machte eine Architektin ihren Verdienstausfallschaden in Höhe ihres Nettolohnes nebst entgangener Beiträge zum Versorgungswerk geltend. Der BGH hatte hier aber gar keine Stellung zur Richtigkeit der Berechnung des Umfanges des erstattungsfähigen Schadens bezogen, sondern diese Frage an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Bezieht sich der Schadenersatz auf den entgangenen (Netto-)Lohn? Was ist mit den Rentenbeiträgen, die in der Zeit nicht geleistet werden (können), was später Einschnitte bei der Rente zur Folge hat? Was ist mit der betrieblichen Altersvorsorge, deren Arbeitgeberanteil den Eltern auch entgeht, solange sie nicht arbeiten? Und müssen Schadenersatzzahlungen versteuert werden?
ISUV e.V. Pressemitteilung hierzu
http://www.isuv-online.de/?p=152108
mit freundlichen Grüßen