Kinder und Diabetes Viele Regeln sind passee

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Immer häufiger erkranken schon Kinder und Jugendliche an Diabetes. Doch rechtzeitige Diagnose, konsequente Schulung und gesunde Lebensführung ermöglichen Zuckerkranken heute einen nahezu normalen Alltag. Das Risiko von Spätschäden wird gemindert.

Ein Kind, das häufig Durst hat, fällt zunächst nicht weiter auf: "Ganz normal", dachten die Eltern des kleinen Oliver, der immer wieder zu trinken verlangte. Auch häufiges Wasserlassen machte sie nicht stutzig. Erst als der Fünfjährige merklich an Gewicht verlor, ging die Mutter mit ihm zum Kinderarzt.

Dessen Diagnose war ein Schock: Diabetes vom Typ 1, die schwerste Form der Zuckerkrankheit. 20.000 Kinder sind in Deutschland davon betroffen. Und aus Gründen, die Wissenschaftler noch enträtseln müssen, werden es europaweit immer mehr.

Die Erkrankung wird Olivers weiteres Leben nun beeinflussen und bestimmen. Der Junge muss Insulin spritzen. Doch bei allem Schreck über das Auftreten der Zuckerkrankheit -­ heute ist vieles anders als in früheren Zeiten. Diabeteskranke Kinder und Jugendliche können weit wirkungsvoller, unkomplizierter und unauffälliger behandelt werden. Und es gelingt sogar, die drohenden schwerwiegenden diabetischen Folgeerkrankungen weitgehend in den Hintergrund zu drängen: Eine optimale Therapie kann vor allem die gefürchteten Augen-, Nerven- und Nierenschäden vermeiden, verzögern oder mindern helfen.

Die Außenseiterrolle von Zuckerkranken gehört der Vergangenheit an. Die Patienten werden in der Regel vollständig in das tägliche Leben einbezogen. Die jungen Patienten brauchen sich keinen komplizierten Vorschriften und Verboten unterzuordnen, die Zwänge einer speziellen Diabetes-Diät gibt es kaum mehr. Die Jungen und Mädchen können ­ gleich ihren gesunden Altersgefährten ­ ein normales Leben führen, frei von wesentlichen Einschränkungen, essen und trinken fast wie die anderen, spielen und herumtollen, am Schulsport teilnehmen, sich in der Disko vergnügen, ihre Ausbildung absolvieren.

Voraussetzung ist, dass die jungen Diabetiker schon im Kindesalter lernen, mit ihrer Erkrankung richtig umzugehen. Auch dieses ist leichter als zuvor: Dank spezieller Schulungsprogramme, neuer Medikamente, mithilfe gesunder Ernährung, Sport und Fitness. Aber: Die Motivation muss immer wieder gewonnen und unter Umständen neu geweckt werden. Hier kommt inzwischen auch Selbsthilfegruppen eine große Bedeutung zu.

Erste Anzeichen

Wichtig ist zunächst, dass die Erkrankung möglichst früh entdeckt wird. Alarmzeichen sind, wie bei Oliver, ständiger Durst, häufiges Wasserlassen, unerklärlicher, erheblicher Gewichtsverlust. Dazu können depressive Verstimmungen und ängstliches Verhalten kommen.

Der Typ-1-Diabetes im Kindes- und Jugendalter unterscheidet sich erheblich vom "Altersdiabetes", der oft schon durch Gewichtsreduktion und Ernährungsregeln in den Griff zu bekommen ist. Bei dieser Form der Erkrankung haben die Betazellen der Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion vollständig eingestellt. Der Körper benötigt dieses Hormon, um seine Zellen mit Zucker zu versorgen. Die Betroffenen müssen ­- die erste therapeutische Konsequenz ­- ihr Leben lang täglich Insulin spritzen.

Beim Altersdiabetes produziert der Körper zwar noch Insulin, doch der Organismus reagiert auf die Substanz nicht mehr ausreichend.

Wissenschaftler sprechen beim Typ-1-Diabetes von einer Autoimmunerkrankung, genetisch bedingt oder durch Umweltfaktoren hervorgerufen. Die meisten der Kinder sind bei Ausbruch der Krankheit im Alter zwischen 5 und 14 Jahren, jeder fünfte kleine Patient hat noch nicht einmal das vierte Lebensjahr vollendet. Jungen und Mädchen sind gleichermaßen von der Erkrankung betroffen.

Normales Wachstum

Steht die Diagnose fest, sind die wichtigsten Behandlungsziele die Normalisierung der Blutzuckerwerte, des Fettstoffwechsels, das normale Wachstum des Kindes und seine Normalgewichtigkeit. Unbedingt zu vermeiden sind gefährliche Unterzuckerungen (Hypoglykämien), die oft verbunden sind mit Schweißausbrüchen, Schwächegefühl, starkem Herzklopfen und Bewusstseinstrübung. Der Schock durch Unterzuckerung kann zum Tode führen.

• Nach den Empfehlungen der Deutschen Diabetes-Gesellschaft sollten die Blutzuckerwerte, gemessen vor der Nahrungsaufnahme und zwei Stunden danach, 70 bis 160 mg/dl betragen.

• Der Hämoglobinwert HbA1c (Marker für die Qualität der Blutzuckereinstellung) soll dem Normbereich angenähert sein: Es ist nach einer US-Studie (= Diabetes Control and Compliacation Trial) ein Hämoglobinwert von unter 7 Prozent anzustreben.

Der HbA1c-Wert (mit Glukose beladenes Hämoglobin; rote Blutkörperchen) ist praktisch das "Langzeitgedächtnis" des Organismus für die Höhe des Blutzuckerspiegels der letzten vier bis sechs Wochen ­ jede Senkung verringert das Risiko für diabetische Folgeschäden.

Lernen von klein auf

Als Säulen der Behandlung gelten weiter spezielle altersgerechte Schulungen für Kinder und Eltern: Nahe gebracht werden den kleinen Patienten unter anderem eine ausgewogene Ernährungsweise, regelmäßige sportliche Aktivitäten sowie die sachgerechte Insulingabe.

Die erste Behandlung und Schulung erkrankter Kinder erfolgt in Deutschland in der Regel stationär im Krankenhaus, am besten in einer Kinderklinik. Die Eltern werden in Information und Training mit einbezogen. Die Kinder müssen altersgerecht in einer ihnen verständlichen Art und Sprache geschult werden.

Selbst spritzen

Bei den Schulungen geht es unter anderem um den Umgang mit Insulininstrumenten wie Pens und Spritzen und um Ernährungsfragen. Die Kinder sollen so zeitig wie möglich in die für den Umgang mit der Krankheit wichtigsten Verrichtungen eingewiesen werden. Später lernen sie, zu Hause ihren Blutzucker zu messen. Achtjährige sind meist schon in der Lage, sich das lebensnotwendige Insulin zu spritzen und die täglichen Insulindosen ihrem persönlichen Lebensrhythmus und ihren Ernährungsgewohnheiten anzupassen.

Anerkannte Einrichtungen

Anlaufstelle für die Eltern sollten diabetolo-gisch tätige Ärzte, spezielle Zentren und Kinderkliniken sein, die von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft als "Behandlungseinrichtung für Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus" anerkannt sind. Die Vorstellung erfolgt in der Regel alle drei Monate. Dem niedergelassenen Kinderarzt geht ein Bericht zu, mit dem er die weitere Behandlungsstrategie planen kann. Auf dieser Basis werden bundesweit zurzeit etwa 7.600 Kinder erfasst und behandelt.

Diese Zahl lässt für die Zukunft hoffen. Denn die Daten einer dänischen Studie, die sich auch auf Deutschland übertragen lassen, besagen, dass bislang nur etwa 10 Prozent aller insulinpflichtigen Diabetiker richtig eingestellt sind.

Spezielle Schulungen sind auch in der Folgezeit unverzichtbar. Bei vielen Patienten fehlt oft die Motivation. In der Pubertät verhalten sich viele Diabetiker nachlässig. Sie begehen Ernährungsfehler, lassen Mahlzeiten aus, verzichten auf die Insulingabe. Eine wichtige Hilfe sind hier vor allem auch Selbsthilfegruppen, in denen sich Diabetiker zusammenfinden. Inzwischen gibt es einen Verband, der sich speziell um zuckerkranke Kinder und Jugendliche kümmert.

15 Lebensjahre gewinnen

Wer sich einer modernen, effizienten Diabetestherapie unterzieht und gesundheitsbewusst lebt, gewinnt Lebensqualität und kann mit einem Zugewinn von mindestens 10 bis 15 Lebensjahren rechnen.

Eine wesentliche Rolle spielen hier auch neue biosynthetisch hergestellte Insuline, die nun ebenfalls für Kinder zur Verfügung stehen. Sie wirken schneller, ermöglichen aufgrund der kürzeren Wirkungsdauer eine bessere Steuerung des Stoffwechsels. Nach der Injektion werden im Blut höhere Spitzenkonzentrationen erreicht. Auch "Ernährungssünden" sind so rasch zu kompensieren.

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