
Gesetzliche Pflegeversicherung. Demenzkranke und ihre Angehörigen kommen in der Pflegeversicherung zu kurz. Unterstützung gibt es dennoch.
Eines Tages stand Karsten Kandler vor seinem Haus und wusste nicht mehr, ob er zu seiner Stammgaststätte links lang oder rechts lang muss. Bis zu jenem Tag hatte er seine vielen Erinnerungslücken als übliche Vergesslichkeit im Alter abgetan. Doch nach diesem Erlebnis vor drei Jahren ging der 62-jährige Münchner zum Arzt.
Der Neurologe stellte die Diagnose Alzheimer-Demenz. Kandler ist einer von rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland, die an Demenz erkrankt sind.
Kandlers Zustand hat sich bisher kaum verschlechtert. Pflegeleistungen hat er deshalb noch keine beantragt. Er und seine Frau leben zurzeit von seiner Pension.
Auch wenn die Demenz schon weit fortgeschritten ist, erhalten Kranke nicht gleich Pflegeleistungen. Denn welche Hilfe sie von der Pflegekasse bekommen, hängt größtenteils davon ab, wie sehr sie körperlich eingeschränkt sind.

Viele Demenzkranke leben zurückgezogen. Aus Scham scheuen sie soziale Kontakte. Geschulte Ehrenamtliche, die zum Beispiel von Wohlfahrtsverbänden vermittelt werden, verbringen Zeit mit den Kranken. Die Diakonie Berlin nimmt dafür 10 Euro pro Stunde.
„Die meisten sind noch fit, können sich allein die Zähne putzen, essen, sich anziehen oder gehen. Erst wenn sie bei all diesen Aktivitäten nicht allein gelassen werden können, angeleitet oder beaufsichtigt werden müssen, besteht Pflegebedarf“, sagt Sabine Jansen, die Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Demenzkranke erhalten daher anfangs meist keine oder nur eine niedrige Pflegestufe.
Wenn der Kranke noch mobil ist und wegläuft, zählt das nicht für eine der Pflegestufen von 1 bis 3, die Voraussetzung für Pflegegeld oder Sachleistungen sind. Dasselbe gilt, wenn der Patient kocht und wegen seiner Demenz den Gasherd anlässt.
Beide Verhaltensweisen können aber genügen, um zumindest die „Pflegestufe 0“ zu bekommen. Denn der Patient braucht täglich Betreuung. Er kann dann einen monatlichen Zuschuss zu Betreuungskosten von 100 Euro beantragen. In schweren Fällen zahlen die Kassen bis zu 200 Euro.
Die Diagnose Demenz ist nicht nötig, um den Zuschuss zu erhalten. Stattdessen überprüft ein Gutachter die Alltagskompetenz des Patienten (siehe „200 Euro extra im Monat“). Menschen mit Pflegestufe 1 bis 3 können das Geld zusätzlich zu anderen Leistungen bekommen.
Der Zeitaufwand für Demenzpatienten ist schließlich höher als der für Pflegebedürftige ohne psychiatrische Erkrankung. Demenzkranke müssen pro Woche im Durchschnitt 42 Stunden gepflegt werden. Das sind fast 15 Stunden mehr als Pflegebedürftige ohne psychiatrische Erkrankung. Das hat die Studie MUG III des Bundesgesundheitsministeriums gezeigt.
Gleiches für Privatversicherte
Karsten Kandler war Realschullehrer, bis er die Diagnose Alzheimer bekam. Als ehemaliger Beamter ist er privatversichert. Wenn er irgendwann gepflegt werden muss, stehen ihm die gleichen Leistungen wie gesetzlich Versicherten zu. Dazu sind die privaten Pflegeversicherer verpflichtet.
Von dem Zuschuss zu Betreuungskosten können die Patienten zum Beispiel Gruppenangebote und Besuchsdienste von ambulanten Diensten, Wohlfahrtsverbänden oder lokalen Alzheimer-Gesellschaften bezahlen. Weit kommen sie mit 100 oder 200 Euro im Monat aber nicht.
Einige freie Träger berechnen für die Betreuung in einer Gruppe 10 Euro pro Stunde. Andere verlangen etwas mehr. Für Tagespflege zahlen die Patienten laut Deutscher Alzheimer-Gesellschaft zwischen 30 und 80 Euro pro Tag. Sie werden dann tagsüber außer Haus betreut.
Wer 100 Euro Betreuungsleistung erhält, könnte nur bis zu drei Termine im Monat über die Pflegekasse finanzieren. Kosten darüber müsste er selbst bezahlen.
Anziehen dauert 30 Minuten
Für Angehörige, die Demenzkranke pflegen, ist die Situation nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch besonders belastend. Durch die Demenz sind die Patienten meist stark in ihrem Wesen verändert, erkennen enge Verwandte nicht mehr oder können durch ihre Erkrankung den Einsatz der Angehörigen nicht wertschätzen.
Ellen Schulze pflegt ihre Mutter. Die 84-Jährige hat seit vier Jahren die Diagnose Demenz. Die Tochter hat als pflegende Angehörige einen 8-Stunden-Tag, auch am Wochenende. Die Berlinerin geht für ihre Mutter einkaufen, putzt vormittags deren Wohnung, kocht Essen und betreut die Mutter bei allen Alltagshandlungen.
Das Anziehen am Morgen kann bis zu 30 Minuten dauern. Die 60-jährige Tochter ist dann bei ihrer Mutter im Zimmer und erinnert sie daran, dass sie den Pullover anziehen soll oder dass der Reißverschluss noch hochgezogen werden muss. Jeden Abend ruft sie an und fragt, ob die Mutter ihre Medikamente genommen hat.
Besonders beschwerlich sind Arztbesuche, berichtet Ellen Schulze: „Wenn der Arzt nicht gleich um die Ecke ist, vergisst meine Mutter, wo wir gerade hingehen. Ich muss ihr dann mehrmals erklären, dass wir zum Arzt müssen, sonst wird sie misstrauisch und geht nicht weiter.“
Weil die Mutter auch körperlich eingeschränkt ist, hat sie Pflegestufe 2. Sie könnte zusätzlich die Betreuungsleistung erhalten, womöglich sogar die 200 Euro für schwere Fälle. Ellen Schulze hat aber dafür keinen Antrag gestellt. Sie hält es für undenkbar, dass ihre Mutter ein Betreuungsangebot in Anspruch nimmt: „Fremde Personen verunsichern sie stark, in Gruppen mit anderen fühlt sie sich nicht wohl. Sie würde sich furchtbar aufregen.“
Hilfe von der Krankenkasse


Stundenweise besuchen Betreuer Demenzkranke zuhause, aktivieren sie durch Bewegung, Musik oder mit Gesprächen über ihr früheres Leben. Das fördert den Geist und bringt Freude. Fotos von früher helfen beim Erinnern. Auch einfache Rätselaufgaben trainieren das Gehirn.
Unterstützung bei Demenz bieten auch die Krankenkassen. Die Hilfe reicht von Sprechtherapie bis Krankengymnastik. Voraussetzung ist immer ein Rezept vom Arzt.
Seit einigen Jahren gibt es Arzneimittel, die den Verlauf der Erkrankung etwas verzögern und die Merkfähigkeit der Patienten verbessern sollen. Karsten Kandler erhält von seinem Arzt Medikamente gegen die Begleiterscheinungen von Demenz wie Depressionen. „Nachdem ich die Diagnose bekam, hatte ich starke Angst, bin in eine depressive Phase gerutscht“, erinnert er sich.
Heute ist Kandler motiviert, will sich fit halten, zum Beispiel als Lesepate in Grundschulen. Zweimal pro Woche üben Schüler mit seiner Hilfe Lesen und er berichtigt sie. Regelmäßig liest Kandler auch selbst vor. Das ist ein gutes Training, denn je ärger die Symptome der Demenz werden, desto schwerer fällt den Patienten das Sprechen. Die Krankenkassen übernehmen daher bei Bedarf Kosten für Sprechtherapien.
Körperliche Bewegung kann den geistigen Abbau bremsen. Die Krankenkassen bezahlen deswegen auch Krankengymnastik bei Demenz. Kandler hält sich jedoch an sein Fahrrad und fährt mehrmals in der Woche durch die Umgebung von München.
Schwerbehindertenausweis
Finanzielle Erleichterung bringt ein Schwerbehindertenausweis. Wer eine mittelschwere Demenz hat, wird meist bereits als 100 Prozent schwerbehindert eingestuft. Schon Menschen mit 50 Prozent haben wie Kandler Anspruch auf einen Ausweis. Damit können sie zum Beispiel günstiger Bahn und Bus fahren und ins Museum gehen.
Schwerbehinderte mit Ausweis erhalten auch Steuererleichterungen. Viele können kostenlos eine Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie bei Flügen im Inland mitnehmen. Manche werden auch von den Rundfunkgebühren befreit. Den Ausweis können sie formlos beim Versorgungsamt ihrer Gemeinde beantragen.
Selbsthilfegruppe
Wenn Kandler allein mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in München unterwegs ist, hat er schon öfter an einer Haltestelle gestanden und nicht gewusst, wo es langgeht. Inzwischen traut er sich, andere Passanten anzusprechen und sie um Hilfe zu bitten. Diesen Mut hat er erst, seit er eine Selbsthilfegruppe für Demenzkranke in München besucht. Dort kann er sich mit anderen Betroffenen austauschen.
„Zu sehen, dass es noch andere gibt, die in der gleichen Situation sind, das stützt mich sehr“, sagt Kandler. In der Gruppe sprechen die Patienten nicht nur unter Anleitung über ihre Situation, sondern gestalten auch gemeinsam ihre Freizeit und unternehmen Ausflüge. Bisher gibt es 35 solcher Selbsthilfegruppen in Deutschland. Die Alzheimer-Gesellschaften geben Auskunft, wo sich diese treffen.
Freizeit für Pflegende
Für Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, bieten die Pflegekassen verschiedene Leistungen an, um sie zu entlasten. Die Hilfen gibt es allerdings nur, wenn der Pflegebedürftige in eine Pflegestufe zwischen 1 und 3 eingestuft ist. Dann zahlt die Kasse zum Beispiel monatlich bis zu 1 510 Euro, damit der Kranke in einer Tagesgruppe betreut werden kann und nicht rund um die Uhr von Angehörigen gepflegt werden muss.
Die Pflegekassen bieten auch Kurzzeit- oder Verhinderungspflege an – diese Angebote werden wichtig, wenn pflegende Angehörige krank werden oder einmal in Urlaub fahren wollen.
Beide Leistungen sind jeweils auf 1 510 Euro und 28 Tage im Jahr beschränkt. Der Pflegebedürftige wird dann zuhause oder in einer anerkannten Einrichtung von ausgebildeten Pflegekräften für einige Stunden oder mehrere Tage gepflegt. Eine Verhinderungspflege können auch Familienmitglieder oder Nachbarn übernehmen.
Für die Mutter von Ellen Schulze kommt jeden Morgen ein ambulanter Pflegedienst, der hilft, die Thrombose-Strümpfe anzuziehen. Doch mehr Unterstützung durch Pflegekräfte kann Ellen Schulze nicht nutzen. „Vor einigen Wochen musste ich für kurze Zeit eine Ersatzpflege in Anspruch nehmen. Meine Mutter hatte große Angst, wir würden sie allein lassen und in ein Heim stecken. Sie hat geweint und geschrien“, erzählt sie.
Pflegeberatung nutzen
Schnell kann den Pflegenden der Alltag zu viel werden. Wie sehr sie die Situation belastet, bemerkte Ellen Schulze aber erst, als ihre Tochter Katja sie darauf ansprach.
„Natürlich pflege ich meine Mutter gerne, sie ist jetzt mein Küken und es macht mich glücklich, wenn sie zufrieden ist. Aber sie jeden Tag zu pflegen, macht mich auch fertig“, sagt die 60-jährige Tochter.
Pflegeberater in Pflegestützpunkten der Pflegekassen oder von Wohlfahrtsverbänden können helfen. Sie zeigen, wo Entlastung möglich ist, oder vermitteln Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige. Wenn nötig, kommen sie für die Beratung sogar nach Hause.
Die Pflegekassen und freien Träger bieten außerdem spezielle Kurse an, in denen Tipps zum Umgang mit Demenzpatienten gegeben werden. Beratung und Pflegekurse sind kostenlos.
Seit einigen Wochen teilt sich Ellen Schulze nun die Pflege mit ihrer Schwester. Die neugewonnene Freizeit möchte sie für sich nutzen: In der Stadt Kaffee trinken, den Sommer genießen, vielleicht auch mal eine Angehörigengruppe besuchen.
Name von der Redaktion geändert.