Jedes dritte Baby in Deutschland kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Die einstige Notfallmaßnahme wird zum Normalfall. Das birgt auch Risiken.
Ein lauer Sommerabend. T-Shirts und Tops spannen sich über runden Bäuchen. 32 Schwangere plus ihre Partner besichtigen eine Berliner Geburtsklinik. Sie hören Vorträge, sehen die Vorwehenzimmer und die Entbindungsräume in hellen Pastelltönen, in denen breite Betten, große Badewannen und Gebärhocker bereitstehen. Nur eine Tür – massiv, aus silbrig-glänzendem Stahl – bleibt zu. Sie führt zum OP, wo die Kaiserschnitte stattfinden. Rein statistisch wird jede dritte Frau aus der Besichtigungsgruppe dort landen.
Nicht so harmlos wie sein Ruf
Die deutsche Kaiserschnittrate liegt bei 32 Prozent – doppelt so hoch wie vor 20 Jahren. „Der Kaiserschnitt gilt zunehmend als normaler Weg des Gebärens und nicht mehr als das, was er eigentlich ist: eine Notfallmaßnahme“, sagt Frauenärztin Dr. Maria Beckermann, Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe bestätigt: Nur 10 Prozent der Kaiserschnitte sind heute medizinisch absolut notwendig, der Rest erfolgt wegen einer „relativen Indikation“. Hier müssen Ärzte die Risiken gegenüber einer natürlichen Geburt abwägen – und haben großen Ermessensspielraum. Sie greifen wohl allzu unbekümmert zum Skalpell – obwohl der Kaiserschnitt nicht so harmlos ist wie sein Ruf.
„Ich bin zweimal in einen Kaiserschnitt reingeschlittert, der nicht unbedingt nötig war“, sagt Ute Taschner aus Freiburg. Sie ist selbst Ärztin und schrieb wegen ihrer Erfahrungen den Ratgeber „Meine Wunschgeburt“. Ihr erster Kaiserschnitt führte zum zweiten – spätere natürliche Geburten gelten gemeinhin als riskant. Der Grund für den ersten Schnitt lautete Geburtsstillstand. Das Köpfchen des Babys hing gewissermaßen fest. „Es wäre wohl mit guter Hebammentechnik zurechtgerutscht“, sagt Taschner. Doch kein Helfer nahm sich Zeit. „Nur alle zwei Stunden schaute jemand nach mir.“ Irgendwann war Schichtwechsel, die neue Ärztin wollte wohl den Kreißsaal leeren und riet zum Schnitt. „Ich sagte okay, ich war wahnsinnig erschöpft.“ Taschner wurde in den OP gerollt, bekam eine Narkose, spürte etwas Ziehen und Ruckeln – „und kurz darauf war das Baby da“.
Hier liegt wohl ein Hauptgrund für den Anstieg der Raten: Kaiserschnitte gehen schnell und sind gut planbar. Beides lässt sich von natürlichen Geburten nicht behaupten. „Da erscheinen Kaiserschnitte oft praktischer – gerade in Zeiten, in denen Kliniken Personal einsparen, auch im Kreißsaal“, sagt Frauenärztin Beckermann. Zudem habe sich die Risikowahrnehmung verkehrt: „Die einst lebensgefährlichen Operationen lassen sich heute viel schonender durchführen. Daher gelten sie oft sogar als sicherer als natürliche Geburten, auch haftungsrechtlich.“ Diese Gemengelage habe einen Teufelskreis in Gang gesetzt. Ärzte machen mehr Kaiserschnitte, damit verlieren sie Routine im Meistern schwieriger Geburten und machen noch mehr Kaiserschnitte.
Risiken für Mutter und Kind
Experten sehen die Entwicklung kritisch. „Es handelt sich beim Kaiserschnitt immer noch um eine Operation mit Verletzungsgefahren“, sagt Professor Dr. Frank Louwen, Leiter der Geburtsklinik der Uni Frankfurt, der eine neue Leitlinie zum Thema mit entwickelt. Manche Frauen litten danach an starken Wundschmerzen. Zudem träten öfter Störungen der Blutgerinnung auf als bei natürlichen Geburten – teils mit lebensbedrohlichen Folgen wie Thrombose und Schlaganfall. Hinzu kämen Risiken für spätere Schwangerschaften, wie etwa narbenbedingte „Plazentationsstörungen“. Dabei siedelt sich der Mutterkuchen zum Beispiel an einer ungeeigneten Stelle an.
„Zudem wurden die Folgen für die Kinder lange vernachlässigt“, sagt Louwen. Viele litten zunächst an Anpassungsstörungen wie Atemproblemen. Das wundert Beckermann nicht: „Der Übergang von drinnen nach draußen ist für manche Kinder zu abrupt.“ Außerdem fällt eine wichtige Vorbereitung auf das Erdenbürgertum weg: der Weg durch den Geburtskanal. Dabei wird Fruchtwasser aus der Lunge gepresst und das Baby mit mütterlichen Bakterien und Antikörpern ausgestattet. Das schützt vor Keimen und scheint das Immunsystem so in die Spur zu setzen, dass es äußere Feinde bekämpft, den eigenen Körper aber nicht angreift. Vielleicht erklärt das, dass Kaiserschnittkinder laut neueren Studien etwas häufiger als andere an Autoimmunkrankheiten leiden.
Das Baby sofort nehmen
Die Risiken sollten Eltern nicht beunruhigen, aber Ärzte erinnern, Kaiserschnitte nicht leichtfertig und möglichst schonend durchzuführen. Geplant sollten sie laut Louwen erst in der 40. Schwangerschaftswoche stattfinden – nicht früher, wie oft üblich. „Die Zeit im Mutterleib ist wichtig für die kindliche Entwicklung“, erklärt Beckermann. Statt einer Vollnarkose sollte die Frau, wenn das geht, besser eine Periduralanästhesie (PDA) bekommen. Dann bleibt sie wach und kann ihr Baby sofort nehmen. „Es sollte schon an ihrer Brust liegen dürfen, während die OP-Wunde genäht wird, und auch später möglichst bei ihr bleiben – für die Mutter-Kind-Bindung“, betont Taschner. Sie weiß das aus eigener Erfahrung. „Bei meinem ersten Kaiserschnitt haben sie mir meinen Sohn nur kurz gezeigt, Witze gemacht, er sei ja groß wie ein Schuljunge, und ihn dann meinem Mann gegeben. Ich sah ihn erst am nächsten Tag wieder – und betrachtete ihn instinktiv gar nicht als mein Kind.“ Auch das Stillen klappte nicht gut, Taschner war erschöpft und bedrückt.
Die meisten folgen ärztlichem Rat
Dass sich alles einspielte, verdankt sie ihren Schwiegereltern. „Sie haben uns zu sich geholt, mich bekocht und verwöhnt, so dass ich Zeit für das Baby hatte.“ Daher glaubt sie: Unterstützung durch Partner, Familie, Freunde und die Nachsorge durch die Hebamme hilft Müttern, gerade nach Kaiserschnitt. „Wenn jemand Essen bringt oder ältere Kinder betreut, ist das vielleicht wertvoller als das schönste Geschenk.“
Und noch etwas sei entscheidend: „Anerkennung.“ Viele Frauen, die keine natürliche Geburt geschafft hätten, fühlten sich als Versagerinnen. „Aber auch ein überstandener Kaiserschnitt ist eine Leistung“, sagt Taschner. Zudem wählten die meisten Frauen ihr Schicksal nicht selbst, sondern folgten ärztlichem Rat.
Auch Beckermann glaubt, dass sich im System insgesamt etwas ändern muss. Vor allem fordert sie eine intensive Betreuung bei Entbindungen. „Um sie seelisch und körperlich zu stärken, sollte jeder Frau die ganze Zeit eine Hebamme zur Seite stehen.“ Kliniken müssten also viel mehr Personal einstellen. Zudem brauchten Ärzte klare Leitlinien und praktische Übung im Umgang mit schwierigen Geburten und Schwangere gute Beratung – die etwa auf Ängste vor der natürlichen Geburt eingeht. Wer solche Forderungen unterstützt, kann eine Kampagne des Arbeitskreises Frauengesundheit online unterschreiben (www.akf-kaiserschnitt-kampagne.de).
„Natürlich brauchen wir den Kaiserschnitt als lebensrettende Maßnahme“, sagt Beckermann. „Aber er sollte nicht das Normale sein. Die natürliche Geburt ist für viele Frauen eine wichtige Erfahrung.“
Im Osten weniger als anderswo
Wer die Operation eher nicht möchte, sollte sich zum Beispiel bei Infoabenden von Geburtskliniken schlaumachen und nach dem Betreuungsschlüssel bei Entbindungen und der Kaiserschnittrate fragen. Von Klinik zu Klinik bestehen enorme Unterschiede. In den neuen Bundesländern finden insgesamt besonders wenige Kaiserschnitte statt, wie eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt. „Hier gibt es offenbar eine andere Tradition der Geburtshilfe, und Ärzte trauen sich auch schwierige Entbindungen zu“, so Beckermann. Die Säuglingssterblichkeit ist dort sogar geringer als in Westdeutschland.
Tipp: Wenn sich in der Schwangerschaft mögliche Gründe für einen Kaiserschnitt abzeichnen, sollten Sie mehrere Meinungen einholen, etwa von einem Frauenarzt und einer Hebamme. Lassen Sie sich in – eventuell mehreren – Kliniken individuell beraten. Fragen Sie, ob man Sie bei einer natürlichen Geburt unterstützen würde. Wenn ja, sollten Sie den Kaiserschnitt trotzdem nicht ganz ausschließen – falls er doch erforderlich wird.
Natürliche Geburt nach Kaiserschnitt
Taschner hatte nach den Kaiserschnitten das Gefühl, ihr fehle etwas. Als sie wieder schwanger wurde, wollte sie eine natürliche Geburt. „Ich bin keine Kamikaze-Mutter, die sich und ihr Kind gefährdet“, sagt sie. Sie recherchierte, suchte eine geeignete Klinik und eine erfahrene Hebamme. Die kam mit in den Kreißsaal und wich nicht von ihrer Seite. „Das war eine tolle Unterstützung – die brauchte ich auch.“ Sie hatte 20 Stunden heftige Wehen, spürte aber auch unbekannte Kräfte in sich. Schließlich sah sie ihr kleines Mädchen und dachte: „Jetzt habe ich das wirklich geschafft.“
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@Otto-Ferdinand-Wels: Vielen Dank für den Hinweis. Sobald wir etwas Neues zum Themenkomplex Geburt und Kaiserschnitt schreiben, werden wir Ihre Frage berücksichtigen. (ib/cr)
Das Thema, daß anscheinend bei manchen Frauen die Vagina bei einer natürlichen Geburt so stark gedehnt wird, daß sie sich monatelang oder sogar dauerhaft nicht mehr ganz zurückbildet und die Sex-Qualität darunter leidet, wird vermieden. Warum?
Der Artikel bringt nicht wirklichen Erkenntnisgewinn. Mich würde z.B. interessieren, wie sich ein Wunschkaiserschnitt bei einer unproblematischen Schwangerschaft gegen eine "normale" (Wunsch-)Geburt bei ein ebenfalls unproblematischer Schwangerschaft schlägt. Interessant wären hier die Sterblichkeitsraten von Kind-/Mutter aber auch solche Langzeitfolgen einen Sauerstoffmangels unter der "normalen" Geburt, Gesundheitszustand der Mutter z.B. 5 Jahre nach Geburt oder KS, weitere Langzeitfolgen für das Kind etc.
Nur wenn man diese Zahlen bereinigt hätte (Kaiserschnitte bereinigt um Notkaiserschnitte und Problemschwangerschaften und Geburten bereinigt um Problemschwangerschaften und "normale" Geburten gegen den ärztlichen Rat), könnte man ernsthaft und vor allem wissenschaftlich geischert die Risiken KS und "normale" Geburt vergleichen.