
Etwa jeder fünfte Facharzt im Test lehnte Akutpatienten ab. Die meisten Praxen halfen, egal ob gesetzlich oder privat Versicherte anfragten.
Knack macht das Knie, als Sandra Kern (Name geändert) beim Handball stürzt. An Weiterspielen ist nicht zu denken, zu weh tut die Verletzung. Auch am nächsten Morgen schmerzt das Knie, ist trotz Kühlen prall geschwollen und verweigert den Dienst. Die 25-Jährige kann kaum noch auftreten. Sie möchte unbedingt ärztlich abklären lassen, was los ist. Da sie noch nie beim Orthopäden war, sucht sie einen im Internet aus und wählt die Nummer. Wird sie einen Termin bekommen? Schnell? Als Kassenpatientin?
Auch wir wollten die Antworten wissen. Unser Testergebnis: Entgegen dem Klischee scheinen Ärzte im Akutfall keinen Unterschied zwischen Privat- und Kassenpatienten zu machen. Aber etwa ein Fünftel der Praxen lässt Hilfsbedürftige mit dringenden Beschwerden im Regen stehen.
Testanrufe bei 60 Praxen

Geschulte Tester riefen im März 2013 bei 60 Facharztpraxen an. Auf der Liste standen 30 Orthopäden und 30 Gynäkologen aus zehn verschieden großen, bundesweit gestreuten Städten: Augsburg, Bremen, Düsseldorf, Flensburg, Hildesheim, Jena, Kaiserslautern, Leipzig, Magdeburg, Reutlingen. Jede Praxis wurde zweimal kontaktiert. Dabei sollten sich die Tester – aber nur auf Nachfrage – einmal als Privat- und einmal als Kassenpatient ausgeben. Bei beiden Anrufen schilderten sie Symptome für jeweils ein akutes Problem.
Einmal ging es um den eingangs beschriebenen Knacks im Knie, der auf einen Kreuzbandriss oder Bruch des Schienbeinkopfes hindeutet, beim zweiten Fall um einen möglichen Bandscheibenvorfall mit Zeichen einer Beinlähmung. Die gynäkologischen Symptome wiesen entweder auf Blasenentzündung oder eine bakterielle Scheideninfektion hin. Letztere könnte von sexuell übertragbaren Erregern wie Chlamydien stammen – die mitunter unfruchtbar machen. Betroffene brauchen schnell ein Antibiotikum. Auch die anderen Beschwerden dulden keinen Aufschub. Eine Blasenentzündung kann auf die Niere schlagen, das Bandscheibenproblem dauerhafte Lähmungen verursachen, das Knie nachhaltig geschädigt bleiben. Kurz: Im realen Leben müssten Patienten am selben, spätestens am nächsten Tag zum Arzt.

Etwa jede fünfte Praxis lehnt Akutpatienten ab.
Das sah das Personal in den meisten Praxen auch ein – aber in jeder fünften nicht (siehe Grafik). Eine Testerin wurde schon in ihren ersten Sätzen mit einem „Ne, ne“ abgewürgt, ihre Nachfragen mit einem „Ne, tut mir leid, auf Wiederhören“ erstickt. Andere Praxen gewährten Hilfe zu spät – teils sogar deutlich. „Wir haben erst wieder in fünf Wochen Termine“, hieß es einmal und an anderer Stelle: „Tut mir leid, dass Sie Schmerzen haben, aber da müssten wir jetzt einen regulären Termin ausmachen.“ Meist wurde die Abfuhr mit Überfüllung begründet. Fünfmal lautete die Devise: „Aufnahmestopp“ für neue Patienten.
Ärzte dürfen Patienten wegen Überlastung abweisen. Doch wenn sie einen Notfall nicht versorgen, können sie sich strafbar machen. Und ob ein solcher vorliegt, lässt sich nun mal am besten durch eine persönliche Untersuchung abklären. So sieht das auch Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV): „Der Arzt wird versuchen, Akutpatienten einzuschieben. Sonst sollte er zumindest einen Kollegen nennen.“
Einige in der Grafik gelb markierte Praxen erfüllten immerhin die zweite Anforderung. So erklärte eine Mitarbeiterin: „Der Doktor ist heute in Urlaub. Sie können zu unserem Vertretungsarzt gehen.“ Doch meist half man den Testern bei einer Abweisung gar nicht oder so gut wie gar nicht weiter – selbst wenn diese nachfragten, was sie denn nun machen sollen. Dann hieß es etwa: „Probieren Sie es doch einfach woanders.“ Oder: „Es gibt zehn ansässige Orthopäden. Die können Sie durchtelefonieren.“
Verweise an Hausarzt
Drei abweisende gynäkologische Praxen schickten die Blasenentzündungskandidatin direkt zum Hausarzt. Ein gangbarer Weg, denn auch dieser könnte die Krankheit diagnostizieren und behandeln. Nur hilft der Rat nicht viel, wenn ein Patient gar keinen solchen Vertrauensmediziner hat. Das bedachten auch drei orthopädische Praxen nicht, die unsere bandscheibengeplagte Testerin zum Hausarzt verwiesen. Zudem verkannten sie den Ernst der Lage. Die Frau brauchte eindeutig einen Facharzt, und zwar schnell, denn ihr droht eine dauerhafte Lähmung. Schon die ersten Sätze am Telefon wiesen auf die Gefahr hin: „Ich habe seit Wochen Kreuzschmerzen. Seit gestern haben sich diese verstärkt – und jetzt schmerzt auch mein rechtes Bein. Das zieht sich irgendwie bis ganz runter.“
Wie hier wählten wir alle vier Eingangsbeschreibungen so, dass sie aufhorchen lassen, das volle Ausmaß der Beschwerden aber nicht zeigen. So wollten wir prüfen, ob fachliche Nachfragen kommen oder das Praxispersonal Rücksprache mit dem Arzt hält. Solche Schritte sind zum Einschätzen der Dringlichkeit unerlässlich – fanden aber bei den abweisenden Praxen nicht statt.
Viele Praxen öffnen ihre Türen
Auch die Mitarbeiterinnen der anderen Praxen fragten so gut wie nichts Medizinisches. Aber dort ist das kein Problem: Sie erkannten die Dringlichkeit auch so und vergaben zügig einen Termin, meist noch am selben Tag. Oft reichten bereits die ersten Schilderungen als Türöffner. In zehn Fällen half es, wenn die Tester nachhakten: „Geht es wirklich nicht (früher)?“ Dann lautete die Antwort oft: „Ich könnte Sie irgendwie dazwischenschieben.“
Auch hier wirkten die Mitarbeiterinnen häufig gehetzt, aber überwiegend freundlich. Und: Sie vergaben Termine unabhängig von der Frage: Kasse oder privat? Auch bei den Abfuhren spielte die Frage keine Rolle. Nur in vier Telefonaten wurde sie überhaupt thematisiert. Im Akutfall interessiert der Versicherungsstatus eines Patienten also offenbar nicht mal am Rande.
Manchmal dauerts länger
Bei längerfristigen Terminen hingegen werden Kassenpatienten durchaus benachteiligt. Erst im April sorgte wieder eine entsprechende Studie der Grünen für Medienwirbel. Demnach warten Kassenpatienten im Schnitt 20 Tage länger auf einen Facharzttermin als Privatpatienten, deren Behandlung besser vergütet ist.
Ein weiterer Grund für lange Wartezeiten: „Derzeit herrscht Ärztemangel, gerade in ländlichen Regionen“, sagt Stahl. Zudem kann Überlastung natürlich auch durch Schwächen der Praxisorganisation entstehen. „Hier haben die Qualitätsmanagementsysteme, die alle Praxen bis Ende 2009 einführen mussten, sicher manches verbessert.“ Einige sehen etwa Pufferzeiten für Akutpatienten vor. Manche Mediziner packen die Probleme auch an, indem sie sich vernetzen. So bietet das Ärztenetz Hamburg einen „Terminpool“: Mitgliedspraxen können dort untereinander für Patienten Termine ausmachen.
Schneller beim Arzt

Bei Lebensgefahr. Die Nummer 112 ist rund um die Uhr zu erreichen – EU-weit und kostenlos von Festnetz und Handy.
Patienten können auch selbst einiges tun, um schneller zum Arzt vorzudringen (siehe Tipps). „Vor allem müssen sie bei der Anfrage deutlich sagen, dass sie akute Beschwerden haben“, sagt Andrea Fabris von der Unabhängigen Patientenberatung, die individuell und kostenlos informiert (www.upd-online.de). „Wer sich, auch wegen Wartezeiten, sehr über einen Arzt ärgert, kann sich bei der regionalen Ärztekammer oder Kassenärztlichen Vereinigung beschweren“, ergänzt Fabris. Zuvor empfiehlt sie ein klärendes Gespräch mit dem Mediziner. Und Ärztevertreter Stahl würde sich vor allem dann beschweren, „wenn die medizinische Versorgung ernsthaft bedroht ist.“
Grundsätzlich bittet er auch um Verständnis für die Situation der Ärzte. „Patienten können Abläufe verbessern, indem sie weniger dringende Termine früh ausmachen und Termine, die sie nicht wahrnehmen können, rechtzeitig absagen.“ Das taten auch unsere Tester: Sie klingelten ein zweites Mal bei den Praxen durch und sagten, sie hätten anderweitig Hilfe gefunden. Vielleicht kam die Lücke anderen Akutpatienten zugute.
-
- Muss ein Arzt Schmerzensgeld und Schadensersatz für Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zahlen, wenn er einen Schwerkranken mehrere Jahre mit einer Magensonde...
-
- Eigentlich sollen Patienten höchstens vier Wochen warten müssen, bis sie einen Facharzt sehen. Doch bei den vor zwei Jahren eingeführten Terminservicestellen ist...
-
- Das Portal Jameda veröffentlicht Bewertungen über Ärzte und Zahnärzte ohne deren Zustimmung. Premium-Kunden zahlen einen Monatsbeitrag und können ihre Profile selbst...
Diskutieren Sie mit
Nur registrierte Nutzer können Kommentare verfassen. Bitte melden Sie sich an. Individuelle Fragen richten Sie bitte an den Leserservice.