Wer zu krank ist zum Arbeiten, bekommt eine Erwerbsminderungsrente. Doch nur gut die Hälfte der Anträge wird genehmigt. Finanztest schildert zwei Fallbeispiele. Außerdem erklären wir Schritt für Schritt, was Betroffene tun können – und sagen, wie viel Rente für wen drin ist.
„Ein Mensch sucht sich das nicht aus“
„Ich bin leider Rentnerin“, sagt Stephanie Klein. „Es ist ein schlimmes Gefühl, nicht mehr für das Familieneinkommen mitarbeiten zu können, ein Mensch sucht sich das nicht aus“, so die 45-Jährige. Vor 25 Jahren bekam die gelernte Verkäuferin die Diagnose multiple Sklerose. Trotz Beeinträchtigungen durch diese unheilbare Nervenkrankheit konnte sie lange weiterarbeiten. Doch vor einigen Jahren ging es nicht mehr. Zu ihrer Krankheit waren Angst- und Panikstörungen hinzugekommen. Die Frau musste ihren Job aufgeben und eine Erwerbsminderungsrente beantragen. Ende März wurde diese erstmals ausgezahlt. „Dafür musste ich vier Jahre lang kämpfen“, sagt Klein. Erst vor Gericht setzte sie ihren Anspruch durch.
41 Prozent der Anträge abgelehnt
Für Carsten Ohm vom Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen ist das nicht überraschend. „Es ist sehr schwierig, eine Erwerbsminderungsrente zu erhalten“, sagt Ohm. Die Statistik gibt ihm recht. Von den knapp 356 000 neuen Anträgen auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) im Jahr 2015 wurden 41 Prozent abgelehnt.
Stephanie Klein
„Ohne meinen Mann und den Sozialverband VdK hätte ich nicht die Kraft gehabt, mehr als vier Jahre bis zur Rente zu kämpfen“, sagt die 45-Jährige. Die gelernte Verkäuferin hat multiple Sklerose. Im November 2012 beantragte sie eine Erwerbsminderungsrente. Ihren Antrag und ihren Widerspruch lehnte der Rentenversicherer ab. Erst mit einer Klage beim Sozialgericht setzte sie ihren Anspruch auf Erwerbsminderungsrente durch. Die erste Rentenzahlung erhielt sie im März 2017. Stephanie Klein bekam Rechtsschutz vom Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen. Seine Gebühr für das Widerspruchsverfahren beträgt 66 Euro; für Gerichtsverfahren sind es je nach Instanz zwischen 102 Euro und 285 Euro.
Hauptgrund ist die Psyche
Es sind vor allem psychische Erkrankungen, die Menschen zu einem frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zwingen – vor Rücken- und Krebserkrankungen. Die Deutsche Rentenversicherung prüft mit eigenen medizinischen Gutachtern, ob und in welchem Umfang ein Antragsteller noch arbeiten kann. Neben den gesundheitlichen Einschränkungen prüft die Rentenversicherung, ob der Antragsteller mindestens fünf Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat.
Viele finden keinen Teilzeitjob
Von den rund 1,8 Millionen Erwerbsminderungsrentnern beziehen derzeit etwa 1,7 Millionen die volle Rente. Sie sind nicht mehr in der Lage, drei Stunden am Tag irgendeine Arbeit zu verrichten oder können zwar zwischen drei und sechs Stunden am Tag arbeiten, finden aber wegen der Arbeitsmarktlage keinen Teilzeitjob (Tabelle Volle oder halbe Rente).
Leseraufruf
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Das Zauberwort heißt Zurechnungszeit
Diesen Menschen fehlen oft noch viele Jahre bis zum Beginn ihrer regulären Altersrente – und somit auch viele Beitragsjahre in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für diese Zeit erhalten sie einen Ausgleich in Form einer sogenannten Zurechnungszeit. Es wird rechnerisch so getan, als ob die Person weitergearbeitet und Rentenbeiträge gezahlt hätte. Derzeit wird eine Zurechnungszeit bis zum 62. Geburtstag zugrunde gelegt.
Schrittweise Anhebung
Für alle, die ab Januar 2018 eine Erwerbsminderungsrente beantragen, erhöht sich die Zurechnungszeit auf 62 Jahre und drei Monate. Schrittweise wird sie dann bis zum Jahr 2024 auf 65 Jahre angehoben. Die günstigere Regelung gilt jedoch jeweils nur für Neurentner, nicht für diejenigen, die schon eine Rente erhalten.
Beispiel: Ein 25-jähriger Industriemechaniker mit einem Bruttomonatsgehalt von 3 000 Euro arbeitet seit seinem 20. Geburtstag. Falls er mit 50 Jahren erwerbsunfähig wird, bekommt er nach jetzigem Stand eine Rente von 1 005 Euro netto im Monat. Er wird also so gestellt, als ob er insgesamt 42 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hätte (von seinem 20. bis zu seinem 62. Geburtstag). Ab 2024 würde er so gestellt, als ob er 45 Jahre eingezahlt hätte (von seinem 20. bis zu seinem 65. Geburtstag). Dies brächte ihm rund 70 Euro mehr Rente.
Rentenabschläge bis 10,8 Prozent
An den Rentenabschlägen ändert sich allerdings nichts. Für jeden Monat, den die Erwerbsminderungsrente vorzeitig beginnt, werden 0,3 Prozent abgezogen. Maximal sind es 10,8 Prozent, nämlich dann, wenn die Rente mit 60 Jahren und elf Monaten – oder früher – anfängt. Eine ungekürzte Erwerbsminderungsrente erhält zum Beispiel 2017 nur, wer erst mit 63 Jahren und elf Monaten voll oder teilweise erwerbsunfähig wird. Diese Altersgrenze wird für die jeweiligen Neurentner stufenweise bis zum Jahr 2024 auf 65 Jahre angehoben.
Antragsteller im Schnitt 52 Jahre alt
„Das Durchschnittsalter der Antragsteller liegt bei 52 Jahren“, so ein Sprecher der Deutschen Rentenversicherung. Das bedeutet: 10,8 Prozent weniger Rente.
Tipp: Sie können als Frührentner bis zu Ihrer Regelaltersgrenze freiwillige Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, wenn Sie Geld haben. Sie können einen Beitrag zwischen 84,15 Euro und 1 187,15 Euro im Monat wählen und so Ihre Altersrente steigern.
Von der Günstigerprüfung profitieren
Seit Juli 2014 können Erwerbsunfähigkeitsrentner von der sogenannten Günstigerprüfung profitieren: Die Rentenversicherung prüft, ob sich die letzten vier Jahre vor der Erwerbsminderung negativ auf die Rentenhöhe auswirken. Mindern diese Jahre die Rentenansprüche, fallen sie beim Berechnen der tatsächlichen Rente heraus. Hintergrund: Viele Menschen sind in der Zeit vor dem Rentenbeginn schon gesundheitlich so stark eingeschränkt, dass sie zum Beispiel nur noch Teilzeit arbeiten können, länger krankgeschrieben sind oder Krankengeld beziehen. Die dadurch bedingten Einkommenseinbußen schlagen bei einer Gesamtbetrachtung des Einkommens voll durch.
Durchschnittlich 731 Euro Rente im Monat
Von der Günstigerprüfung profitieren alle Neurentner, die zum Zeitpunkt der Erwerbsunfähigkeit jünger als 62 Jahre sind. Wer vor dem Stichtag 1. Juli 2014 eine Rente bezog, konnte sie aber nicht in Anspruch nehmen. Die Erwerbsminderungsrente beträgt im Durchschnitt aller Rentner 731 Euro pro Monat. Erwerbsunfähige, die 2015 neu in Rente gingen, bekommen im Schnitt nur noch 672 Euro. Zum Leben reicht das nicht. Mehr als 15 Prozent aller Erwerbsminderungsrentner sind auf Grundsicherung angewiesen.
Oft mühsamer Weg bis zur Rente
Ein Problem: Bei vielen Antragstellern klappt es mit der Erwerbsminderungsrente nicht im ersten Anlauf. Der Rentenversicherungsträger lehnt ihren Antrag ab oder spricht ihnen statt der vollen nur die halbe Rente zu. Antragsteller können dann zunächst Widerspruch einlegen. Lehnt ihn der Rentenversicherer ab, können sie klagen.
Gutachter gibt meist den Ausschlag
„Es hängt viel vom Gutachter ab“, sagt Daniel Overdiek vom Sozialverband VdK Bayern. Bei Rentenanträgen und Widersprüchen ziehen die Rentenversicherungsträger ihre eigenen Gutachter zurate. „Kommt es zum Prozess, bestellt das Gericht in der Regel einen neutralen Gutachter“, so Overdiek. „Entscheidet er zugunsten des Versicherten, bewilligt der Rentenversicherer dann häufig die Rente, noch bevor es zu einem Urteil kommt“, sagt der Sozialexperte. „Denn in fast allen Fällen folgen die Richter diesem Gutachten.“
Erst eine Klage brachte Erfolg
Wie Stephanie Klein konnte auch Catrin Bracke ihre Rente erst mit einer Klage durchsetzen. Bracke leidet unter Fibromyalgie, einer schmerzhaften Muskel- und Gelenkerkrankung. Begleitet wird sie häufig von Schlafstörungen und Depressionen. „Drei Jahre hat es gedauert, bis ich die Rente bekommen habe. Es waren sehr belastende Jahre“, sagt die gelernte Friseurin. „Wir hatten ein Haus gebaut, waren zwei Verdiener. Es wird sehr schwierig, wenn einer ausfällt“, ergänzt Brackes Ehemann Tino. Kleins Rente ist zunächst befristet. Das ist nicht ungewöhnlich. Sozialexperte Overdiek: „Eine unbefristete Rente wird häufig erst nach wiederholter Befristung bewilligt.“
Catrin Bracke
„Drei Jahre hat es gedauert, bis ich die Rente bekommen habe. Es waren sehr belastende Jahre für mich und meinen Mann“, sagt die 52-Jährige. Die gelernte Friseurin leidet unter Fibromyalgie, einer schmerzhaften Muskel- und Gelenkerkrankung. Im August 2013 beantragte sie eine Erwerbsminderungsrente. Ihren Antrag und ihren Widerspruch lehnte der Rentenversicherer ab. Erst mit einer Klage beim Sozialgericht setzte sie ihren Anspruch auf Erwerbsminderungsrente durch. Die erste Rentenzahlung erhielt sie im Februar 2014. Catrin Bracke bekam Rechtsschutz vom Sozialverband VdK Bayern. Seine Gebühr für das Widerspruchsverfahren beträgt 40 Euro; für Gerichtsverfahren sind es je nach Instanz zwischen 60 und 110 Euro.
Weitere Informationen über Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sowie zur gesetzlichen Rentenversicherung finden Sie auf unseren Themenseiten Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung und Gesetzliche Rente.
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