Epilepsie Fehlzündung im Kopf

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Das vergangene Jahrzehnt hat viele Fortschritte für die Behandlung der Epilepsie gebracht. Doch die Erkrankten leiden immer noch unter Vorurteilen und werden ausgegrenzt.

Meistens sagt mir nichts, dass ein Anfall kommen wird. Aber hinterher merke ich, dass ich einen hatte, weil ich durcheinander bin und manchmal Schmerzen habe, wenn ich gestürzt bin, mich verbrannt habe oder einen Verkehrsunfall hatte. Das ist dann leider keine Einbildung."

Ein großer epileptischer Anfall dauert nur wenige Minuten. Doch für Augenzeugen und Betroffene ist er ein dramatisches Ereignis: Der Epileptiker verliert plötzlich das Bewusstsein, seine Muskeln versteifen sich, er kann stürzen oder umfallen, und nach 20 bis 30 Sekunden verkrampfen Arme, Beine und Gesicht und fangen an zu zucken. Nach dem Anfall ist der Kranke meist verwirrt, fühlt sich erschöpft und hat ein starkes Schlafbedürfnis.

Doch diese Anfallsform ist nur eine von vielen. Die meisten Patienten leiden unter weniger schweren Anfällen. So kann beispielsweise auch eine kurze Unaufmerksamkeit oder geistige Abwesenheit ("Absence") von fünf bis zehn Sekunden Dauer oder das Zucken eines Arms Anzeichen eines epileptischen Anfalls sein. Bei einem Teil der Epileptiker treten die Anfälle wie aus heiterem Himmel auf. Bei anderen kündigen sie sich Stunden oder sogar schon Tage vorher durch unterschiedliche Vorzeichen wie Kopfschmerzen, Schwindel oder verstärkte Reizbarkeit an.

Jeder Patient erlebt andere Arten von Anfällen und die Beschreibungen sind entsprechend vielfältig: "Meine ersten Anfälle hatte ich mit 14 Jahren, sie waren sehr leicht. Nur meine Augen verdrehten sich, und ich kriegte Lidflattern. Im Lauf der Jahre sind meine Anfälle schwerer geworden. Heute winde ich mich im Anfall in spastischen Krämpfen. Ich schwanke nach allen Seiten, reibe meine Hände aneinander und mache ein saugendes Geräusch mit den Lippen, wobei mein Mund anschwillt und Blut quillt, weil ich mich beim Kauen verletze."

Falsche Vorstellungen

"Ich sehe während der Anfälle alles verschwommen, aber ich kann die Menschen um mich herum sprechen hören und auf Fragen deutlich antworten. Ist der Anfall vorüber, bin ich sofort wieder ganz klar, und ich erinnere mich lückenlos an das, was geschehen ist."

"Meine Epilepsie macht mir viele Sorgen und Schwierigkeiten, die Krankheit ist ein zunehmend schlimmes Problem. Ich lebe beispielsweise auf dem Land, weil das Stadtleben zu belastend ist. Ich schäme mich meiner Krankheit, und mit meinem Selbstwertgefühl steht es nicht zum Besten."

Ständiger Begleiter von Epilepsiekranken ist vor allem die Angst - die Angst vor dem nächsten Anfall, die Angst, wann und wo er auftreten und wie schwer er sein wird, die Angst vor Verletzungen. Aber Epileptiker müssen nicht nur mit den körperlichen und psychischen Belastungen ihrer Erkrankung fertig werden. Darüber hinaus haben sie auch mit den Vorurteilen ihrer Mitmenschen zu kämpfen. Wie kaum eine andere Gruppe chronisch Kranker werden sie gesellschaftlich diskriminiert.

So halten rund 20 Prozent der Deutschen einer Emnid-Umfrage zufolge Epilepsie für eine Geisteskrankheit. In keinem anderen Land der Welt - seien es die USA und Italien oder Indien und China - ist diese Vorstellung so verbreitet wie bei uns. 15 Prozent der Bevölkerung wollen nicht, dass ihre Kinder in der Schule oder beim Spielen Kontakt zu epileptischen Kindern haben. 20 Prozent würden Epileptiker als Ehepartner für Sohn oder Tochter ablehnen, doppelt so viele sind in dieser Frage unentschieden.

Falsche Vorstellungen von der Erkrankung und die Abwertung der Betroffenen ziehen sich durch die Medizinhistorie. Im Mittelalter glaubte man, Epilepsie sei entweder eine Strafe Gottes oder die Rache von Dämonen. Dabei hatte der griechische Arzt Hippokrates in seinem Buch "Über die heilige Krankheit" schon im Jahr 450 vor Christus epileptische Anfälle genau beschrieben und mit dem Gehirn als Ausgangspunkt in Verbindung gebracht. Doch erst im 19. Jahrhundert gab es die ersten wissenschaftlichen Beweise für diese Aussage.

Heute wissen die Forscher relativ genau, was bei einem epileptischen Anfall passiert. Von den 20 Milliarden Nervenzellen im Gehirn steht jede mit sehr vielen anderen in Verbindung. Elektrische Impulse und chemische Signale ermöglichen Denken und Fühlen, Bewegung und Wahrnehmung. Wenn jedoch ungewöhnlich viele Nervenzellen gleichzeitig elektrisch aktiviert sind und sich gegenseitig aufschaukeln, kommt es zu einem "Feuerwerk" im Gehirn - einem epileptischen Anfall.

Manchmal ist die gesamte Hirnrinde von den Fehlzündungen der Nervenzellen betroffen, manchmal nur eine kleine Region. Je nach dem Ursprungsort im Gehirn können epileptische Anfälle unterschiedlich aussehen. Sie können zu Bewegungsstörungen führen, etwa zuckenden Armen oder Beinen. Sehstörungen wie Lichtblitze und Farbensehen oder Hörstörungen können auftreten, oder die Aufmerksamkeit kann vermindert sein.

Ursachen für die Störungen der Gehirnfunktionen sind zum Beispiel Hirnschäden während der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel bei der Geburt, Kopfverletzungen, Gehirntumoren oder - vor allem im Alter - Durchblutungsstörungen. Doch bei mehr als der Hälfte der epileptischen Anfälle sind die Ursachen unbekannt. Bei einem kleinen Teil dieser Patienten spielt wahrscheinlich Vererbung eine Rolle.

Epilepsie ist die häufigste neurologische Erkrankung. Weltweit sind etwa 50 Millionen, in Deutschland rund 800.000 Menschen betroffen. Besonders häufig erkranken Kleinkinder. Was wenig bekannt ist: Auch Ältere sind überdurchschnittlich gefährdet - mehr als ein Drittel der Epilepsien beginnt jenseits des 60. Lebensjahres.

Einen so genannten Gelegenheitsanfall können rund fünf Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben erleiden. Diese Anfälle werden durch besondere Umstände wie zum Beispiel Schlafmangel, Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Alkoholkonsum, Drogen(entzug), Stoffwechselstörungen und - bei Kindern - fieberhafte Infekte (Fieberkrampf) ausgelöst. Von einer chronischen Epilepsie spricht man erst nach mindestens zwei Anfällen, für die keine Auslöser erkennbar sind.

Es gibt zahlreiche Formen epileptischer Anfälle. Rund 70 Prozent der Patienten sprechen relativ gut auf Medikamente an. In der Regel werden sie von Allgemeinärzten, Kinderärzten oder niedergelassenen Neurologen behandelt, gelegentlich auch in einer neurologischen Klinik. Es stehen etwa 15 bis 20 anfallhemmende Substanzen zur Verfügung. Sie setzen die Übererregbarkeit von Nervenzellen herab oder verstärken die natürlichen Hemmmechanismen. Der Weg zur optimalen Dosis - Unterdrückung der Anfälle, geringe Nebenwirkungen - ist allerdings oft lang und beschwerlich.

Schwer behandelbare Epilepsien

Etwa ein Drittel der Erkrankten leidet an schwer behandelbaren Epilepsien. Wenn nach Therapieversuchen mit mehreren Medikamenten innerhalb von etwa zwei Jahren keine Anfallsfreiheit zu erreichen ist, sind Untersuchungen in einem spezialisierten Epilepsiezentrum sinnvoll. Diese Zentren wurden im vergangenen Jahrzehnt in Deutschland verstärkt gefördert und ausgebaut. Ein interdisziplinäres Team von Neurologen, Neuropsychologen, Neurochirurgen und medizintechnischen Spezialisten untersucht und behandelt hier die Epileptiker, denen bisher nicht geholfen werden konnte. Sie setzen aufwendige diagnostische Verfahren ein, um den Anfallsherd im Gehirn genau einzugrenzen. So können sie klären, ob ein Patient von einer Operation profitieren kann.

Die Epilepsiechirurgie hat in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. Allerdings kommen zur Zeit nur etwa drei bis fünf Prozent aller Epileptiker für eine Operation infrage. Ein chirurgischer Eingriff ist nur dann möglich, wenn die Anfälle immer am selben Ort im Gehirn entstehen. Dieser winzige Hirnbereich kann entfernt werden, wenn dadurch die normale Hirnfunktion nicht gestört wird ­ Seh-, Sprach- und Bewegungszentren beispielsweise sind deshalb tabu.

In seltenen Fällen wird die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhälften durchgetrennt, damit sich die epileptische Aktivität nicht auf das ganze Gehirn ausbreitet. Beispielsweise kommen Patienten mit mehreren kleinen epileptischen Herden und schweren Sturzanfällen für eine solche Operation in Betracht.

Auch nach einer Operation müssen zunächst noch anfallhemmende Medikamente eingenommen werden. Je nach Art und Ort des Eingriffs können etwa 50 bis 70 Prozent der chirurgisch behandelten Epileptiker damit rechnen, künftig keine Anfälle mehr zu erleiden, bei 20 bis 30 Prozent geht nach der Operation zumindest die Zahl der Anfälle deutlich zurück.

Patienten, bei denen Medikamente nicht wirken und für die eine Operation zu gefährlich oder aussichtslos wäre, hoffen jetzt auf ein neues Therapieverfahren - die elektrische Stimulation des Vagusnervs. Dazu wird ein Schrittmacher (neurokybernetische Prothese) in eine Hauttasche unter dem Schlüsselbein implantiert. Elektroden senden alle paar Minuten einen elektrischen Impuls aus, den der Vagusnerv ins Gehirn leitet. Weltweit wurden bisher etwa 5.000 solcher Hirnschrittmacher eingesetzt. Offenbar können sie die Zahl der epileptischen Anfälle reduzieren und sie manchmal sogar unterdrücken. In Deutschland ist die Operation nur in wenigen spezialisierten Epilepsiezentren möglich, von denen das Bonner Zentrum die längste Erfahrung hat.

Ganz normale Menschen

Wissenschaftliche und medizinische Fortschritte haben für viele Epileptiker die Therapiemöglichkeiten verbessert und den Alltag erleichtert. Dazu zählen etwa die Neuentwicklung von Medikamenten, die Verfeinerung von Diagnose- und Operationstechniken sowie völlig neue therapeutische Verfahren. Doch auch weiterhin sind noch viele Fragen ungeklärt. Die Ursachen zahlreicher epileptischer Anfälle liegen immer noch im Dunkeln, einfache Vorbeugestrategien sind so gut wie unbekannt, und die Langzeiterfolge von Operationen sind bisher ungeklärt.

Im täglichen Leben leiden Epileptiker aber vor allem darunter, dass sich immer noch viele falsche Vorstellungen um die Epilepsie ranken. Viele Betroffene verheimlichen deshalb ihre Erkrankung. Das kann zur sozialen Isolation führen und das Selbstwertgefühl verringern. Viele Kinder mit Epilepsie erhalten keine ausreichende Schulbildung, und ihr Berufseinstieg ist erschwert. Die Arbeitslosenquote von Epilepsiekranken ist überproportional hoch. Das lässt sich nur selten medizinisch begründen, eher liegt es wohl am mangelnden Wissen der Arbeitgeber über die Krankheit. Denn Epilepsie vermindert nicht die Intelligenz. Die beruflichen Leistungen von Epileptikern sind so gut wie die von Gesunden, und nur in wenigen Berufen besteht ­ abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung ­ ein erhöhtes Unfallrisiko.

In seiner anfallsfreien Zeit ist ein Epileptiker so "normal" wie andere Menschen auch. Und die Geschichte zeigt, dass einige Anfallkranke ihre Mitmenschen an Intelligenz, Kreativität und Leistungsfähigkeit sogar weit überragen, wie etwa die Dichter Byron, Dostojewski und Flaubert, der Maler van Gogh, der Naturforscher Helmholtz oder die Staatsmänner Alexander der Große, Caesar und Napoleon.

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