
Können Pflegebedürftige ihre Pflege im Heim nicht mehr selbst bezahlen, hilft das Sozialamt aus. Anschließend versucht die Behörde, Unterhalt von den Kindern des Bedürftigen einzutreiben. Zu Unterhaltszahlungen für die Eltern sind Kinder selbst dann verpflichtet, wenn die Eltern vor Jahrzehnten schon den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Das hat heute der Bundesgerichtshof entschieden.
36 Jahre ohne nennenswerten Kontakt
36 Jahre lang hatte ein Bremer Beamter keinen nennenswerten Kontakt zu seinem Vater. Dann schrieb ihn die Freie Hansestadt Bremen an. Sie teilte dem Sohn mit, dass sein Vater im Pflegeheim Sozialhilfe beziehe und forderte ihn auf, seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenzulegen. Später verlangte die Bremer Sozialbehörde insgesamt rund 9 000 Euro vom Sohn. Als in gerader Linie Verwandte sind Kinder ihren Eltern grundsätzlich zum Unterhalt verpflichtet, wenn diese für ihren eigenen Lebensunterhalt nicht mehr selbst sorgen können. Der Fall landete vor Gericht. Der Sohn verweigerte die Zahlung, da sein Vater den Kontakt zu ihm im Alter von 19 Jahren abgebrochen hatte. Mehrfach hatte der Sohn anschließend versucht, wieder eine Beziehung zu seinem Vater aufzubauen. Doch der zeigte kein Interesse.
Kontaktabbruch noch keine „schwere Verfehlung“ des Vaters
Im Jahr 2012 verurteilte das Amtsgericht Delmenhorst den Sohn zunächst zum Unterhalt. Das Oberlandesgericht Oldenburg sah die Unterhaltspflicht jedoch als „verwirkt“ an. Der Vater habe sich gegenüber dem Sohn vorsätzlich einer schweren Verfehlung schuldig gemacht (Paragraf 1611 Bürgerliches Gesetzbuch). Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) griff die Stadt Bremen diese Entscheidung an, mit Erfolg. Der Vater habe zwar seine Pflicht zu „Beistand und Rücksicht“ gegenüber seinem volljährigen Sohn verletzt (Paragraf 1618a des Bürgerlichen Gesetzbuches). Doch diese Verfehlung wiege noch nicht so schwer, dass die Unterhaltspflicht des Sohnes entfalle, so der BGH in seiner Pressemitteilung (Bundesgerichtshof, Az. XII ZB 607/12).
Kein Interesse und kein Kontakt
Was war zwischen Sohn und Vater vorgefallen: Im Alter von 18 Jahren hatte sich der Vater im Jahr 1971 von seiner Frau – der Mutter des betroffenen Sohnes – getrennt. Als der Sohn das Abitur erreicht hatte, quittierte der Vater das mit einem Achselzucken. Zu den Heiratsplänen seines Sohnes sagte der Vater nur: „Du bist ja verrückt“. Nicht einmal bei der Beerdigung des Großvaters wechselten die beiden Worte. Im Testament bestimmte der Vater im Jahr 1998, dass der Sohn nur den „strengsten Pflichtteil“ bekommen solle. Als der ehemalige Inhaber eines Friseurgeschäfts im April 2008 in ein Pflegeheim musste und der Sohn ihn zu Anfang wieder besuchte, zeigte der Vater noch immer kein Interesse an einer Wiederannäherung.
Die strenge Linie der Richter
Das aktuelle BGH-Urteil bestätigte die bisherige überwiegend strenge Rechtsprechung: So urteilte das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 2003 in einem ähnlichen Fall, wo es jahrelang keinen Kontakt zwischen Tochter und Mutter gegeben hatte und die Mutter ihre Tochter erheblich gekränkt und beleidigt hatte, dass keine schwere Verfehlung seitens der Mutter vorliege (Az. 2 UF 35/03). Tenor der Rechtsprechung bislang: Erst wenn es zu gravierendem Fehlverhalten durch die Eltern gekommen ist, sind Kinder von ihrer Unterhaltspflicht entbunden. Im Jahr 2004 hat der BGH etwa im Verhalten einer Mutter eine schwere Verfehlung gesehen. Die Mutter war in die USA ausgewandert, als die Tochter noch ein kleines Kind war, und hatte das Kind bei den Großeltern zurückgelassen (BGH, Az. XII ZR 304/02).
Keine Unterhaltspflicht nach Misshandlung
Abgesehen von „schweren Verfehlungen“ entfällt eine Unterhaltspflicht des Kindes auch dann, wenn die Eltern ihre Kinder körperlich oder gar sexuell misshandelt haben. Allerdings kann es für betroffene Kinder schwer werden, diese Verfehlungen Jahre später, wenn sich das Sozialamt wegen des Elternunterhalts meldet, noch zu beweisen. Kinder sind ihren Eltern auch dann nicht zum Unterhalt verpflichtet, wenn sich diese durch ein „sittliches Verschulden“ selbst arm gemacht haben. Kann ein Elternteil etwa durch Spielsucht oder Verschwendung nicht mehr selbst für sein Pflege aufkommen, könnte ein solches sittliches Verschulden vorliegen. Dazu gibt es aber kaum Urteile. Schließlich könnte die Unterhaltspflicht auch dann entfallen, wenn die Eltern ihre Unterhaltspflicht gegenüber den Kindern in früheren Jahren grob vernachlässigt haben. Hat zum Beispiel ein Vater die Familie verlassen und anschließend nie Unterhalt für seine Kinder gezahlt, obwohl er es konnte, sind die Kinder wegen dieser groben Vernachlässigung nicht verpflichtet, Elternunterhalt für ihn zu zahlen.
Tipp: Wie viel Einkommen und Vermögen vor dem Zugriff des Sozialamts sicher ist, erfahren unterhaltspflichtige Kinder in unserem Special Wann Kinder jetzt noch zahlen müssen.