Interview: „Diskriminierung ist kein Randgruppen-Problem“

Doris Liebscher
Doris Liebscher ist Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autorin des Handbuch Rechtlicher Diskriminierungsschutz der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Im Gespräch mit test.de erklärt die Expertin für Antidiskriminierungsrecht die Stärken und Schwächen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit gehören zusammen
test.de: Worin sehen Sie die Stärken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes?
Liebscher: Mit dem AGG gibt es in Deutschland endlich ein einheitliches zivilrechtliches Gesetz gegen Diskriminierung. Vor dem AGG existierten einfachgesetzliche Antidiskriminierungsvorschriften nur im deutschen Arbeitsrecht und fast ausschließlich in Bezug auf geschlechtsspezifische Diskriminierung und Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung. Die Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes reichen zwar weiter, entfalten aber keine direkte Wirkung zwischen Privaten. Zwar sollten die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote über die Auslegung von Generalklauseln im Bürgerlichen Gesetzbuch auch zwischen privaten Vertragspartnern und -partnerinnen wirken, dieser Schutz blieb aber in der Praxis weitgehend wirkungslos. Strafrechtliche Tatbestände, wie Beleidigung oder Volksverhetzung, müssen vorsätzlich begangen werden. Aber „nicht böse gemeinte“ Handlungen oder strukturell benachteiligende Regeln können schwere Folgen für die Betroffenen haben. Im Unterschied zum Strafrecht geht es im AGG nicht um Vorsatz oder Schuld von Tätern und Täterinnen, sondern um benachteiligende, ausschließende und verletzende Effekte von Handlungen.
Was unterscheidet die Regeln des AGG von strafrechtlichen Regelungen?
Das AGG eröffnet den benachteiligten Personen die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung selbst außergerichtlich oder vor Gericht geltend zu machen und auf Unterlassung, Gleichbehandlung und die Kompensation erlittener Schäden zu klagen. Das Gesetz stellt insofern eine konzeptionelle und rechtspolitische Zäsur für die bundesdeutsche Rechtskultur dar. Das AGG ist auch Teil eines neuen Diskurses über Antidiskriminierungskultur, Menschenrechte und Teilhabegerechtigkeit. Das Gesetz macht deutlich: Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit gehören zusammen. Diskriminierung ist kein moralisches Problem von Randgruppen, sondern die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft geht uns alle an.
Schutzlücke im Bereich Bildung
Hat das AGG in Ihren Augen auch Schwächen? Besteht Nachbesserungsbedarf?
Trotz einer positiven Bilanz beklagen Wissenschaftler, Anwältinnen und Antidiskriminierungsorganisationen, dass das AGG immer noch zu wenig bekannt und zu wenig wirksam sei. Wirksamkeitsdefizite resultieren aus Schutzlücken, aber auch aus Problemen bei der Durchsetzung der bestehenden Rechte. Eine große Schutzlücke ist der Bereich Bildung. Das AGG gilt nur für die Bereiche Beschäftigung und betriebliche Ausbildung (arbeitsrechtlicher Teil des AGG) und für Verträge mit privaten Bildungseinrichtungen (zivilrechtlicher Teil des AGG). Für Studierende und Schüler und Schülerinnen von staatlichen Schulen oder Universitäten ist der Schutzbereich des Gesetzes gar nicht eröffnet.
Was wäre zu tun?
Bildung ist in Deutschland Ländersache, entsprechende Diskriminierungsverbote und Rechtsansprüche müssten deshalb in die Schul- und Hochschulgesetze der Bundesländer aufgenommen werden. Eine andere Möglichkeit sind Landesantidiskriminierungsgesetze.
Als Problem haben sich auch zu weite Rechtfertigungsmöglichkeiten erwiesen. Kontrovers wird besonders das Religionsprivileg in Paragraf 9 AGG diskutiert. Religionsgemeinschaften und ihnen zugeordnete Einrichtungen, wie Diakonie und Caritas, dürfen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion als Einstellungsvoraussetzung verlangen, egal ob es sich dabei um den verkündungsnahen Bereich handelt (pastorale, katechetische und leitende Aufgaben) oder um religionsferne Tätigkeiten z.B. in Kindertagesstätten, Bildungs- oder Pflegeeinrichtungen. Außerdem dürfen kirchliche Arbeitgeber von den für sie arbeitenden Personen verlangen, sich „loyal und aufrichtig“ im Sinne des Selbstverständnisses der Organisation zu verhalten. Diese Regelung schließt einen effektiven Diskriminierungsschutz für Menschen, die keiner christlichen Kirche angehören oder die offen schwul oder lesbisch leben, für einen wichtigen Teil des Arbeitsmarktes aus.
Verbandsklagerecht fehlt
Für manche Lebensbereiche fehlt es also noch an Regeln, für andere gibt es sie schon. Wirken denn die vorhandenen Regeln?
Leider nicht genug. Dringend verbessert werden müssen die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten. Die Zwei-Monats-Fristen zur außergerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen sind in der Lebensrealität viel zu kurz. Die Erfahrung der letzten zehn Jahre stützt auch die Forderung nach einem Verbandsklagerecht, das es in vielen anderen EU-Staaten, zum Beispiel in Österreich gibt. Damit können Verbände im Namen von Betroffenen Klagen führen, das nimmt einzelnen Personen das individuelle Prozessrisiko und den zeitlichen und emotionalen Stress, all das hält bisher viele Betroffene davon ab, ihr Recht geltend zu machen. Das sogenannte AGG-Hopping ist dagegen ja der absolute Ausnahmefall, im Vergleich zu anderen EU-Staaten haben wir viel weniger Klagen – aber nicht weniger Diskriminierung.
Es gibt AGG-Schutz im Arbeitsrecht. Und es gibt AGG-Schutz im allgemeinen Zivilrecht. Ist der Schutz im Zivilrecht ausreichend?
Der intensivste Schutz im Zivilrecht besteht gegen Diskriminierungen aus rassistischen Gründen und wegen der ethnischen Herkunft. Er erstreckt sich auf alle Verträge über Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Für die anderen Diskriminierungskategorien ist der Anwendungsbereich des AGG nur bei sogenannten Massengeschäften eröffnet. Es muss sich also entweder um Geschäfte handeln, die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen abgeschlossen werden und bei denen das Ansehen der Person entweder keine oder nur eine nachrangige Bedeutung hat, zum Beispiel Einkaufen in einem Geschäft, ein Discobesuch, die Anmietung eines Leihwagens, oder es muss sich um einen privaten Versicherungsvertrag handeln. Bei Mietverträgen wird angenommen, dass kein Massengeschäft vorliegt, wenn eine Person insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet. Hier gibt es ein unterschiedliches Schutzniveau, das nicht einleuchtet, auch wenn unterschiedliche Diskriminierungskategorien zusammenkommen, zum Beispiel, wenn ein Vermieter mit vielen Häusern nicht an eine Hijab tragende Frau vermieten will, wird es schwierig.
Eine weitere Schutzlücke – die zudem gegen EU-Recht verstößt – ist, dass im zivilrechtlichen Teil gar kein Verbot sexueller Belästigung enthalten ist. Das heißt, auf Arbeit habe ich rechtlichen Schutz vor sexueller Belästigung – nicht aber, wenn ich selbst zu Hause oder im Büro eine Handwerksfirma beschäftige und in diesem Zusammenhang sexuell belästigt werde.
Die eigenen Rechte kennen
Wie kann eine von Diskriminierung betroffene Person reagieren?
Wichtig ist es, die eigenen Rechte zu kennen und sich Unterstützung zu organisieren. Ich empfehle sich an innerbetriebliche Interessenvertretungen zu wenden und/oder an eine externe Beratungsstelle. Jedes Unternehmen und jede Dienststelle ist nach dem AGG verpflichtet, eine AGG-Beschwerdestelle einzurichten, bei der sich alle Beschäftigten sowie Bewerber und Bewerberinnen beschweren dürfen – das ist ihr Recht. Einen guten Überblick über die Rechte nach dem AGG und über externe Beratungsstellen gibt es bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Wichtig ist es, mit klarem Kopf zu handeln, Beweise zu sichern und Ansprüche innerhalb von zwei Monaten nach Kenntnis der Diskriminierung außergerichtlich geltend zu machen. Auch wenn Betroffene selbst gerade keine Ressourcen haben, sich gegen Diskriminierung zu wehren, ist es wichtig, Diskriminierung zu melden – das geht zum Teil auch anonym –, sei es beim Betriebsrat, der Frauenbeauftragten oder der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.