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Erschöpft, traurig, ohne Antrieb – Depressionen lähmen. Laufen als Therapie klingt zunächst abwegig. Doch Studien zeigen: Joggen ist ein Antidepressivum. Aber auch Schwimmen, Radfahren, Walken, ja selbst ein Tanzkurs kann die Stimmung aufhellen, Ängste mildern und einem geistigen Abbau entgegenwirken. test.de fasst die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen und sagt, wo Betroffene geeignete „Anlaufstellen“ finden können.
In Bewegung bleiben
Jeden Montag, ob bei Regen oder Schnee, Ostern und Heiligabend, trifft sich die Laufgruppe des Münchner Bündnisses gegen Depression. Ihr Motto: „Trotzdem Laufen!“ Denn jegliche Bewegung ist für Menschen mit Depressionen eine große Hürde. Sie zu überwinden gleicht einem Befreiungsschlag – und ist womöglich heilsam. Aktuell leiden mehr als fünf Millionen Deutsche zwischen 18 und 79 Jahren an einer Depression, ergab eine repräsentative Erhebung des Robert-Koch-Instituts. Die Betroffenen verlieren ihre Lebensfreude, fühlen sich erschöpft und leer. Oft wird die Erkrankung von Schlafstörungen oder körperlichen Beschwerden begleitet. Suizidgedanken greifen Raum.
Sport kann gegen Depressionen helfen
Als anerkannte Behandlungsmethoden gelten dann Psychotherapie und Medikamente. Doch auch körperliche Betätigung hat in den vergangenen Jahren einen hohen Stellenwert erlangt – als ergänzende Hilfe. Allen Sportarten voran: das Joggen. Wie in München bieten Depressionsverbände vielerorts Lauftreffen an; in Kliniken etabliert sich zunehmend die Lauftherapie. Studien legen nahe, dass Sport generell sogar davor schützen kann, an einer Depression zu erkranken.
Laufgruppen in Deutschland
Regionale Angebote plus Informationen finden Sie auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Aus der Haustür – und los
„Das Besondere am Laufen ist, dass es so einfach umzusetzen ist. Außer passender Schuhe bedarf es keiner speziellen Ausrüstung. Man kann aus der Haustür raus und direkt loslegen“, sagt die Psychotherapeutin Hannah Jilg, die in München die Laufgruppe betreut. Zugleich sei Laufen eine natürliche Art der Fortbewegung und daher für viele leicht zu lernen. Im Gegensatz zu Tabletten bliebe es zudem ohne Nebenwirkungen. Gemeinsam mit Menschen mit Depression und deren Angehörigen läuft Hannah Jilg Woche für Woche durch den Englischen Garten. „Dabei geht es nicht um Leistungen, Zeiten oder Strecken, sondern um Spaß an der Bewegung und das Miteinander“, sagt sie. Je nach Tempo joggten die Teilnehmer zunächst in unterschiedlichen Gruppen, kämen aber für Koordinationsübungen und Dehnung im Park wieder alle zusammen.
Die Gemeinschaft stärkt
Schon diese Gemeinschaft kann die Stimmung heben. „Sportgruppen motivieren“, sagt auch Viola Oertel, Psycho- und Sporttherapeutin an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Menschen mit Depression zögen sich oft stark zurück, lebten isoliert. Eine Gruppe ermöglicht ihnen wieder sozialen Austausch. „Und die Teilnehmer unterstützen sich indirekt. Schon die Frage ‚Wo warst du letztes Mal?‘ kann motivieren, nicht wieder einen Kurs zu verpassen.“ Das habe sie bereits mehrfach bei ihren Patienten erlebt.
Der erste Schritt ist der schwerste
Tatsächlich ist der erste Schritt zum Sport der schwerste, sagt Oertel. „Es gehört zu der Erkrankung, dass die Menschen sich energielos und körperlich erschöpft fühlen. Bei den meisten Patienten bedarf es individueller Gespräche, um sie zu motivieren“, erzählt die Psychotherapeutin. Doch wenn die Patienten einmal dabei waren, dann hätten sie sehr gut mitgemacht – und Spaß gehabt.
Glückshormone heben die Stimmung
Speziell Laufen wird eine wohltuende Wirkung nachgesagt. Studien haben gezeigt, dass es Stresshormone im Körper abbaut, die bei Menschen mit Depressionen oft erhöht sind. Laufen setzt zudem Endorphine frei, die sogenannten Glückshormone, und kann auf diese Weise die Stimmung aufhellen. Zudem schüttet das körpereigene Belohnungssystem Botenstoffe aus, die antidepressiv wirken.
„Bewegung fördert das Gefühl der Selbstwirksamkeit“
Doch nicht nur im Körper, auch im Geist regt Sport und somit auch Joggen Gutes an. „Bewegung fördert das Gefühl der Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, selbst etwas machen, verändern und für sich tun zu können“, erklärt der Sportpsychiater Andreas Ströhle, Oberarzt am Universitätsklinikum Charité in Berlin. Das gebe Kraft. Er testet derzeit mit Kollegen von acht weiteren Kliniken, ob es schwer erkrankten Patienten schon helfen kann, am Tag nur ein paar mehr Schritte zu gehen.
Aus der Depression herauslaufen
Die Studie endet erst im Frühjahr 2019, aber Ströhle beobachtet bereits Erfolge: „Ein Patient, der zu uns kam, ging anfangs nicht mehr als 5 000 Schritte pro Tag. Pro Woche sollte er dann 500 Schritte mehr machen, bis hin zu 10 000 Schritten pro Tag. Tatsächlich fing er nach einiger Zeit sogar an zu joggen.“ Zusammen mit Psychotherapie und Medikamenten habe er sich „aus der Depression herausgelaufen“, noch heute jogge der Patient regelmäßig.
Vorbeugend wirksam
Einer neuen Erkrankung lässt sich damit nicht immer vorbeugen. Aber aktuelle Studien weisen darauf hin, dass körperlich aktive Menschen tatsächlich seltener an einer Depression erkranken als nicht aktive. Eine Erhebung mit rund 34 000 Norwegern kam 2017 zu dem Befund: Schon eine einzige aktive Stunde pro Woche könnte jede achte Depression verhindern.
Es muss nicht immer Laufen sein
Eine internationale Übersichtsarbeit von 2018 mit Daten von mehr als 260 000 Menschen von vier Kontinenten kommt zu dem gleichen Schluss. Sie zeigt auch: Es muss nicht immer Laufen sein. Schwimmen, Radfahren, Walken oder auch Krafttraining können ebenso die Stimmung aufhellen, aber auch Ängste mildern und einem geistigen Abbau entgegenwirken. „Es geht weniger darum, welche Sportart man ausübt, sondern dass man sich überhaupt bewegt. Man kann auch in einen Tanzkurs gehen“, sagt Ströhle. Jeder sollte einen Sport finden, der ihm Freude bereitet und leicht in den Alltag zu integrieren ist. Und die Ziele dürften nicht gleich zu hochgesteckt sein, kurze Strecken und ein moderates Tempo seien in Ordnung.
Und danach ein Bad
„Die Hürde zu mehr Bewegung sollte möglichst gering sein“, sagt der Arzt. Betroffene selbst empfehlen zudem, sich nach dem Laufen Gutes zu tun, etwa ein Bad zu nehmen.
150 Minuten Bewegung pro Woche
Noch offen ist, wie lange, wie intensiv oder wie häufig jemand trainieren sollte, damit die Bewegung sich möglichst positiv auswirkt. Ströhle rät, sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu orientieren: Das sind fünfmal 30 Minuten moderater Aktivität je Woche. Lauftreffs wie der in München sind oftmals ein guter Anfang. Sie werden für manche gar ein wichtiger Anker im Leben. „Einige Teilnehmer kommen schon seit Jahren zu dem Treffen“, sagt Psychotherapeutin Jilg. Dabei bestehe keine Pflicht dazu. Jeder könne teilnehmen, keiner müsse. An manchen Tagen kämen vier, an anderen zwanzig Teilnehmer. Aber immer seien alle nachher zufrieden. Weil sie gelaufen sind.
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Defintiv hilft bewegung am besten gegen trüe Gedanken. Auch ein Sportverein mit ständig wechselnden Angebot ist sehr empfehlenswert. Ich finde es richtig spitze, dass ihr einen Artikel mit diesem Lösungsansatz veröffentlicht habt. Gerne mehr davon!
Es ist leider ein Teufelskreis, dass an Depressionen leidende Menschen sich weniger bewegen, dies aber genau wichtig ist aus verschiedenen und im Artikel gut beschriebenen Faktoren. Welche Art auch immer es sein mag für jeden persönlich, wieder in Bewegung zu kommen ist ein wichtiger Faktor.
Liebe Grüße,
Timo Funken