
Eine Depression kann auch im hohen Alter noch behandelt werden. Doch oft bleibt sie unentdeckt – mit schlimmen Folgen.
Seine Augenlider wiegen schwer, der Blick geht nach unten, auch seine Mundwinkel zeigen zum Boden. Tränen stehen Wolfgang Steiner (Name von der Redaktion geändert) in den Augen, wenn er von seinem Leben erzählt. Der 70-Jährige war viele Jahre lang Politiker in Süddeutschland, hatte Frau und Kinder, Freunde und viele Bekannte, gab häufig Feste, besitzt mehrere Häuser. Doch dann kam der Absturz: in Beruf und Ehe. Das Leben ist ihm seither gleichgültig, er kann sich nicht mehr an ihm erfreuen, bleibt lieber im Bett liegen, zieht sich zurück. Wolfgang Steiner ist schwer depressiv.
Weil immer mehr Menschen immer älter werden, ist die Depression im Alter in Deutschland ein wachsendes Phänomen – neu ist es nicht. Lange Zeit wurde jedoch abgewunken, wenn ein alter Mensch keine Freude mehr am Leben verspürte. Die Haltung „Du bist alt, da ist das so“ ist bis heute weit verbreitet. Dass eine Depression der Grund sein kann, wird oft nicht in Betracht gezogen – und schon gar keine Behandlung. Tatsächlich ist die Erkrankung bei Personen ab 65 Jahre beinahe so häufig wie beim Rest der Bevölkerung. Ärzte und Psychologen sind sich dessen zunehmend bewusst. Und doch wird die Erkrankung bei alten Menschen noch oft übersehen.
Versteckte Krankheit

Tabletten verweigern. Angehörige sollten hellhörig werden, wenn Senioren lebensnotwendige Arzneimittel ablehnen.
Im Kern erleben die Betroffenen die gleichen Symptome wie jüngere Erwachsene, aber sie berichten selten davon. Meist klagen sie bei ihrem Hausarzt oder Verwandten über körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Appetitverlust. Weil selten jemand nachfragt, bleibt unentdeckt, dass sie sich nur noch niedergeschlagen und traurig fühlen, dass sie ihr Interesse an lange gepflegten Hobbys verloren haben und der Wunsch nach einem baldigen Ende an ihnen nagt.
Auch Steiner schleppt seine Depression schon lange mit sich herum. Vor 15 Jahren, sagt er, sei der Knackpunkt gewesen. Damals schied er bei einer Wahl zu einem politischen Posten aus, der ihm sehr wichtig war. Von da an sei er immer tiefer gefallen. Beruflich wurde er durch einen neuen Job aufgefangen, als Erfolg empfand er das allerdings nicht. Privat stapelten sich die Probleme. Seine Ehe: am Ende. Der Kontakt zu den Kindern: abgebrochen. Die langjährige Partnerschaft danach: auch kaputt. Die Freude am Leben: fort. Sein einziger Wunsch: ein Ende. „Ich habe versucht, mich aus dem Leben zu schleichen“, sagt Wolfgang Steiner. Er nahm eine Überdosis Tabletten – und überlebte.
Suizid im Alter ist nicht selten

Nicht mehr essen. Suizidgedanken sind auch im Alter nicht selten. Manch Betroffener verweigert einfach das Essen.
Ein Einzelfall ist Steiner nicht. Alte Menschen mit Depression denken zwar seltener an Selbstmord als jüngere Depressive. Allerdings enden Selbstmordversuche im Alter häufiger tödlich. „Denn Senioren und Betagte sind gebrechlicher und sterben deshalb bei Suizidversuchen leichter“, erklärt der Psychiater Michael Linden. Experten warnen auch vor passiven Suiziden. Sie sprechen davon, wenn ein Patient seine lebensnotwendigen Medikamente nicht mehr einnimmt oder das Essen verweigert.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass die psychische Störung die Genesung von körperlichen Erkrankungen verzögert und so zu längeren Krankenhausaufenthalten führt. Das aber mindert die Lebensqualität weiter und gibt depressiven Gefühlen zusätzlich Nahrung. Bleibt eine Depression unbehandelt, kann sie zudem chronisch werden.
Vielfältige Risikofaktoren

In Bewegung bleiben. Ein Hund hält auf Trab. Das kann einer Depression vorbeugen oder aus ihr heraushelfen.
Mit dem Alter endet eine wichtige Lebensphase: das Berufsleben. Für viele geht damit ein wichtiger Lebensinhalt verloren. Solche Wendepunkte im Leben sind zwar nicht die Ursache einer Depression, dennoch erhöhen einschneidende Ereignisse das Risiko zu erkranken deutlich. Auch Schicksalsschläge können eine Depression erst anstoßen. Der Tod des Ehepartners, von engen Freunden und Verwandten kann stark erschüttern oder in die Einsamkeit führen. Ansonsten spielen biologische Anlagen und erlernte Denkmuster eine wichtige Rolle, wenn eine Depression entsteht.
Verwechslungsgefahr mit Demenz
Der Verlust der Autonomie scheint ein besonderer Risikofaktor zu sein: Senioren, die in Pflegeeinrichtungen oder Altenheimen wohnen, leiden bis zu sechsmal häufiger unter Depressionen als Gleichaltrige, die in ihrem eigenen Zuhause leben. Denselben Effekt kann auch eine schwere körperliche Erkrankung haben: etwa wenn ein Hüftschaden ans Bett fesselt, ein Schlaganfall die Selbstständigkeit nimmt oder Demenz den Verstand zu rauben droht.
Eine weitere Besonderheit bei Depression im Alter: Demenz und Depression können schnell verwechselt werden. Auch eine Depression beeinträchtigt meist das Denken. Die Betroffenen sprechen langsamer, es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren. Jeder dritte Patient, der sich in Demenz-Sprechstunden vorstellt, hat eine Depression. „Bei manchen depressiven Patienten wird allerdings fälschlicherweise eine Demenz festgestellt“, sagt die Psychiaterin Stephanie Krüger, Chefärztin am Vivantes-Humboldt-Klinikum in Berlin. Anhand von Details und durch genaue Untersuchungen von Spezialisten können die beiden Erkrankungen auseinandergehalten werden (siehe „Die Krankheit“). Nicht selten treten sie aber auch parallel auf.
Senioren misstrauen Psychotherapie
Alte Menschen mit psychischen Beschwerden sollten ohne Scheu professionelle Hilfe suchen. Erste Anlaufstelle kann der Hausarzt sein. Von ihm können sich Betroffene zum Psychiater oder Psychologen überweisen lassen. Doch viele Senioren begegnen einer Psychotherapie und psychiatrischen Medikamenten mit Misstrauen. „Manche denken, sie würden für verrückt erklärt, andere halten die Psychoberufe für mysteriös“, sagt der Psychotherapeut Simon Forstmeier, der an der Universität Zürich forscht und Senioren behandelt. Dabei gibt es eine gute Nachricht: Wird eine Depression rechtzeitig erkannt, lässt sie sich meist genauso gut behandeln wie in jüngeren Jahren.
Wechselwirkungen beachten
Die Therapie aber muss in jedem Fall angepasst werden, zum Beispiel bei der Behandlung mit Medikamenten. Viele Senioren nehmen wegen körperlicher Erkrankungen bereits zahlreiche Medikamente ein. Behandelnde Ärzte müssen auf mögliche Wechselwirkungen achten, wenn sie Senioren zusätzlich Antidepressiva verschreiben. Zudem verarbeitet der Körper Arzneimittel im Alter anders. „Ältere Menschen verspüren öfter Nebenwirkungen. Nicht jedes antidepressive Medikament ist also geeignet. Auch bei der Dosierung ist Vorsicht geboten“, erklärt Krüger.
Gut verträgliche Antidepressiva

Altes Hobby aufnehmen. Lang vernachlässigte Interessen wieder aufleben zu lassen, hebt meist die Stimmung.
Für Senioren gut verträgliche Antidepressiva sind sogenannte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Trizyklische Antidepressiva hingegen können zu Verstopfung und Herzrhythmusstörungen führen, Konzentration und Gedächtnis beeinträchtigen. Und sie senken den Blutdruck, was zu Stürzen führen kann. Auch die Psychotherapie muss anders angegangen werden. „Inhaltlich machen wir das Gleiche wie mit Jungen“, sagt Forstmeier. „Bei Senioren gehen wir nur langsamer vor, wiederholen wichtige Übungen, arbeiten mehr mit Merkzetteln.“
Lebensrückblick für die Zukunft

Bewusst zurückblicken. Eine Methode, bei der Depressive auf ihr Leben blicken, kann helfen.
Zusätzlich wendet Forstmeier in bis zu zehn Sitzungen eine moderne Methode an, die sich vor allem bei Depressionen im Alter bewährt hat: die Lebensrückblickintervention (siehe „Therapie“). Schritt für Schritt erinnern sich die Patienten an wichtige Etappen in ihrem Leben, besprechen positive wie negative Erfahrungen. Am Ende der Therapiestunden sollen sie eine positive Bilanz ihres Lebens ziehen und so wieder mit Freude in die Zukunft blicken können.
Chefärztin Stephanie Krüger rät auch, einen Hund zu kaufen: „So kommt man an die frische Luft, bewegt sich, hat eine Aufgabe und trifft andere Hundebesitzer.“
Wolfgang Steiner ist nun seit zwei Monaten in einer Klinik. Dort führt er täglich psychologische Gespräche, erhält Medikamente, die seine Stimmung aufhellen sollen. Noch immer fällt ihm der Blick in die Zukunft schwer. Was er sich erhofft? „Dass ich überhaupt wieder hoffen kann.“
-
- Einsamkeit ist ein Gefühl, dass Jung und Alt erfassen kann. Sehr verbreitet sei es bei Mittdreißigern und über 65-Jährigen, antwortete die Bundesregierung auf eine...
-
- Unter Pflegeheimbewohnern sind Depressionen häufig. Doch oft bleibt das Problem unbemerkt oder wird mit Demenz verwechselt. Die Gesundheitsexperten der Stiftung...
-
- Starkes Übergewicht kann seelische Ursachen haben – und wiederum selbst die Psyche stark belasten. Lesen Sie, warum und wie eine Psychotherapie beim Abnehmen helfen kann.
Diskutieren Sie mit
Nur registrierte Nutzer können Kommentare verfassen. Bitte melden Sie sich an. Individuelle Fragen richten Sie bitte an den Leserservice.
Nutzerkommentare können sich auf einen früheren Stand oder einen älteren Test beziehen.
Die meisten Senioren sind mangelhaft ernährt, insbesondere die in Altersheimen weggesperrten. Außerdem haben die meisten alten Menschen nicht mehr so viel Hunger, das reduziert die absolute Menge an Vitalstoffen. Man sollte als erste Maßnahme alle Vitamine und Mineralstoffe überprüfen. Ein massiver Vitamin D Mangel ist normal, führt aber auch zu Depressionen. Man sollte mindestens 50 ng/ml 25-OH Vitamin D haben, besser noch mehr. Darauf achten Ärzte nur auf Intervention. Außerdem sind die Zustände in vielen Altersheimen so schlecht (trotz super Pflegenoten), daß psychische Erkrankungen kein Wunder sind.