
Professor Uwe Janssens, Präsident der deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin St. Antonius Hospital in Eschweiler.
Die Kliniken in Deutschland sind stark ausgelastet. Ein Grund dafür ist die hohe Zahl an Corona-Infizierten, die inzwischen in Krankenhäusern liegen, ein Teil davon auf der Intensivstation. Doch die Zahl der Intensivbetten inklusive Pflegepersonal ist begrenzt. Was tun, wenn coronabedingt nicht mehr alle Patienten intensivmedizinisch behandelt werden können?
Ärztinnen und Ärzte medizinischer Fachgesellschaften haben für Ressourcen-Engpässe einen Leitfaden entwickelt, der von der Akademie für Ethik in der Medizin unterstützt wird. Mitunter wird darüber unter dem Stichwort „Triage“ diskutiert. Der Intensiv- und Notfallmediziner Professor Uwe Janssens erklärt im Interview, warum er diesen Begriff für schwierig hält und nach welchen Kriterien Ärzte entscheiden, wenn intensivmedizinische Ressourcen knapp werden.
Interview mit einem Intensivmediziner
Herr Janssens, wie gehen Ärzte vor, wenn es in den Kliniken zu Engpässen in der Notfall- und in der Intensivmedizin kommt?
Auf solch eine Situation sind Ärzte in Deutschland vorbereitet. Bereits im Frühjahr, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, haben acht medizinische Fachgesellschaften hierfür einen Leitfaden entwickelt. Es gibt medizinisch-ethische Kriterien, nach denen Ärzte dann auswählen, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhält.
Warum sprechen Sie in diesem Zusammenhang nicht von „Triage“?
Triage ist ein aus der Militärmedizin herrührender Begriff. Es geht dabei um die – ethisch schwierige – Aufgabe, etwa bei einem Massenunfall von Verletzten oder anderweitig Erkrankten darüber zu entscheiden, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen aufzuteilen sind. Es handelt sich um ein Stratifikationsverfahren, also eine Ersteinschätzung vor der vollständigen Diagnose. Das ist nicht auf die Covid-19-Pandemie übertragbar. Denn hier müssen wir uns auf die Situation einstellen, keine verfügbaren Ressourcen mehr zu haben. Genau dafür haben die Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet.
Nach welchen Kriterien entscheiden dann die Ärzte?
Die Entscheidung orientiert sich immer an der klinischen Erfolgsaussicht einer intensivmedizinischen Behandlung und am Willen des Patienten. Um das beurteilen zu können, prüfen wir den Schweregrad der aktuellen Erkrankung und berücksichtigen die Vorerkrankungen des Patienten. Das Alter des Patienten, Beruf, Behinderung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle. Nach Abwägung entscheiden Ärzte über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizinischen Therapie oder nicht-intensivmedizinischen Therapie, zum Beispiel auf der Allgemeinstation. Es kann auch um eine Palliativversorgung gehen.
Wer ist an der Entscheidungsfindung beteiligt?
Es gilt das Mehr-Augen-Team-Prinzip. Eine Entscheidung über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizinischen Behandlung sollen möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte, eventuell ein weiterer Facharzt sowie Vertreter der Pflege und weiterer Disziplinen, zum Beispiel ein Ethikberater der Klinik, begleiten. Immer wird der Patient selbst oder sein Vertreter, etwa der in einer Vorsorgevollmacht genannte Bevollmächtigte, in die Diskussion und Entscheidung mit einbezogen.
Manche Menschen lehnen eine intensivmedizinische Behandlung für sich ab. Was empfehlen Sie dann?
Der Vertreter des Patienten, in der Regel der Bevollmächtigte, sollte wissen, wie der Patient zu intensivmedizinischen Maßnahmen steht. Ist ein Patient nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, ist der Bevollmächtigte der Ansprechpartner für die Ärzte. Wer eine intensivmedizinische Behandlung für sich ablehnt, sollte dies in einer Patientenverfügung schriftlich dokumentieren.
Herr Professor Janssens, vielen Dank für das Gespräch.
Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte
Medizinische Fachgesellschaften haben klinisch-ethische Empfehlungen für Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie entwickelt. Sie sollen den verantwortlichen Akteuren durch medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen eine Entscheidungsunterstützung bieten. An der Erstellung waren Fachvertreter aus der klinischen Notfallmedizin, Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen beteiligt.
Bei der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) finden Sie die Covid-19 Empfehlungen.
Bei der DIVI finden Sie auch täglich aktualisierte Daten zur Auslastung der Intensivstationen in deutschen Kliniken.
Zunächst weitreichende Ressourcenprüfung
Zunächst tun die Kliniken alles, damit es nicht zu Engpässen auf Intensivstationen kommt. Erst wenn die Ressourcen weder in der eigenen Klinik noch regional oder überregional ausreichen, muss entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten entsprechend behandelt werden, welche nicht – und welche nicht mehr.
Grundsätze der intensivmedizinischen Behandlung
Medizinische Entscheidungen orientieren sich immer am Bedarf des einzelnen Patienten. Dabei bilden die medizinische Indikation und der Patientenwille die Grundlage für eine patientenzentrierte Entscheidung. So ist eine Intensivtherapie nicht indiziert, wenn
- der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat,
- die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder
- ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre.
Alle Patienten werden in die Betrachtung einbezogen
Reichen die Ressourcen nicht aus, kommt ergänzend zur patientenzentrierten Betrachtung eine „überindividuelle“ Perspektive hinzu. Dabei sind immer alle Patienten einzubeziehen – nicht nur Patienten mit Covid-19-Infektionen. Liegt eine intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit vor, müssen die individuellen Erfolgsaussichten des Patienten eingeschätzt werden. Hierfür greifen die von den Fachgesellschaften entwickelten Kriterien. Das Alter des Patienten, sein Beruf, ein Behinderung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle.
Dokumente für die rechtliche Vorsorge
Alle Informationen finden Sie im Detail im kostenlosen Special Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht.
In Vorsorgevollmacht einen Bevollmächtigten nennen

In einer Vorsorgevollmacht legen Sie fest, wer mit Ärzten spricht und Entscheidungen trifft, falls Sie dazu nicht mehr in der Lage sind – vorübergehend oder dauerhaft. Die bevollmächtigte Person ist der juristische Vertreter des Patienten. Das Vorsorge-Set der Stiftung Warentest enthält die wichtigsten Formulare, dazu gehören die Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung sowie die Betreuungsverfügung. Der Ratgeber hat 144 Seiten, kostet 14,90 (kostenlose Lieferung), die Ausgabe als PDF/E-Book kostet 11,99 Euro.
Behandlungswünsche für die letzte Lebensphase

Wer sich über die medizinischen Möglichkeiten in Notfällen oder am Lebensende eine Meinung gebildet hat, kann in einer Patientenverfügung festlegen, wann er auf Maßnahmen verzichtet – oder nicht. Das Finanztest Spezial Patientenverfügung informiert umfassend – mit den weiteren Schwerpunkten Palliativmedizin, Sterbehilfe und Organspende, enthält alle Formulare für die rechtliche Vorsorge, hat 112 Seiten und kostet 12,90 Euro (kostenlose Lieferung). Die Ausgabe als PDF/E-Book kostet 11,99 Euro.
Patientenverfügung in Corona-Zeiten
Sollten Sie sich fragen, ob Sie ihre Patientenverfügung für den Fall einer Covid-19-Erkrankung anpassen sollten: Eine Behandlung wegen Covid-19 ist kein Anwendungsfall für eine Patientenverfügung. Eine Patientenverfügung kommt erst zum Einsatz, wenn ein Patient in aussichtsloser Krankheitssituation dauerhaft nicht mehr einwilligungsfähig ist.
Mehr Informationen und ein Interview mit dem Lungenfacharzt Dr. Thomas Voshaar über Therapien bei schwerem Covid-19-Verlauf in unserem Special > Patientenverfügung in Corona-Zeiten.
Betreuungsverfügung
Alternativ oder ergänzend zur Vorsorgevollmacht ist eine Betreuungsverfügung sinnvoll. Ein Verfügender kann darin festlegen, wer im Notfall für ihn handeln soll. Kommt es zum Betreuungsverfahren, prüft das Betreuungsgericht, ob die vorgeschlagene Person als Betreuer geeignet ist. Sinnvoll ist es, weitere Wünsche aufzulisten, etwa welches Pflegeheim erste Wahl ist, ob Religion eine Rolle spielt oder wer sich um das Haustier kümmern soll. Die Verfügung sollte schriftlich vorliegen.
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