Eine Pandemie kann zu Versorgungsengpässen in Kliniken führen. Das so genannte Triage-Gesetz regelt, wie Ärzte bei zu wenig Betten oder Beatmungsgeräten entscheiden.
Triage-Entscheidung im Falle einer Pandemie
Trotz voller Intensivstationen während der Corona-Pandemie mussten Ärztinnen und Ärzte in deutschen Kliniken bislang keine Erkrankten von einer überlebenswichtigen intensivmedizinischen Versorgung mangels Behandlungskapazitäten ausschließen. Tritt diese schwierige Situation doch einmal ein, wird nun gesetzlich geregelt, welche Abwägungen Ärzte in einer Pandemie treffen sollen, wenn nicht alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen behandelt werden können. Genannt wird das Verfahren Triage.
Das Gesetz, das noch durch den Bundesrat muss (nicht zustimmungspflichtig) und ab Dezember 2022 gilt, soll insbesondere Menschen mit einer Behinderung vor Benachteiligung schützen. Die Regeln dazu werden im Infektionsschutzgesetz (Paragraf 5c IfSG) ergänzt. Gibt es etwa zu wenig Intensivbetten oder Beatmungsgeräte, soll die Zuteilung von Therapieplätzen auf Intensivstationen dann nach den festgelegten Kriterien erfolgen.
Aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit
Sind Intensivstationen aufgrund eines Infektionsgeschehens überlastet und müssen Ärzte eine Auswahl treffen, welche Patientin oder welcher Patient intensivmedizinisch behandelt wird, müssen sie ihre Zuteilungsentscheidung maßgeblich nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen treffen. Weitere Erkrankungen dürfen bei der Beurteilung eingeschränkt berücksichtigt werden.
Kriterien wie insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität dürfen nicht berücksichtigt werden. Dies gilt für alle Patientinnen und Patienten, unabhängig von der Ursache ihrer intensivpflichtigen Behandlungsbedürftigkeit.
Kein Abbruch einer Behandlung zugunsten anderer Patienten
Bei Patienten, die bereits intensivmedizinisch behandelt werden, dürfen Ärzte die Behandlung nicht zugunsten anderer behandlungsbedürftiger Personen abbrechen. Das ist der so genannte Ausschluss der Ex-Post-Triage.
Entscheidung einvernehmlich von zwei Ärztinnen oder Ärzten
Die Entscheidung, welche Patientin oder welcher Patient aktuell und kurzfristig eine Überlebenswahrscheinlichkeit hat, müssen einvernehmlich zwei Fachärztinnen oder -ärzte oder mehrjährig intensivmedizinisch erfahrene Ärztinnen oder Ärzte treffen, die die Patientinnen und Patienten unabhängig voneinander begutachtet haben. Eine weitere Person mit Fachexpertise muss hinzugezogen werden, wenn Patientinnen oder Patienten mit einer Behinderung oder mehreren Erkrankungen, auch als Komorbidität bezeichnet, betroffen sind.
Wie das „Triage-Gesetz“ entstanden ist
Gesetz eingefordert. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie befürchteten Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke, aufgrund ihrer Behinderung – gegebenenfalls auch altersbedingt – in einer zwingenden Notlage auf der Intensivstation benachteiligt zu werden. Sie forderten ein Gesetz, in dem geregelt ist, nach welchen Maßstäben Ärzte in eine pandemiebedingten Notlage entscheiden, in einer sogenannten Triage-Situation.
Verfassungsbeschwerde eingereicht. Im Jahr 2020 reichten neun Klägerinnen und Kläger eine Verfassungsbeschwerde ein. Sie richtete sich gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers. Die Klägerinnen und Kläger sind Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke. Über die Hintergründe der Verfassungsbeschwerde berichtete die Stiftung Warentest im Special „Wenn Betten fehlen“. Der Artikel erschien in der Zeitschrift Finanztest 3/2021 und enthält auch ein Interview mit dem Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein aus Hamburg, der die neun Klägerinnen und Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat. Das Interview wurde im Frühjahr 2021 geführt. Interessierte können den Artikel hier kostenlos als PDF herunterladen.
Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 16. Dezember 2021 über die Verfassungsbeschwerde entschieden und den Staat verpflichtet, tätig zu werden (Az. 1 BvR 1541/20). Der Bundestag solle ein Gesetz verabschieden, in dem sichergestellt ist, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingter knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wirksam verhindert wird.
Bundestag verabschiedet Triage-Gesetz. Am 10. November 2022 hat der Bundestag das Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, das so genannte Triage-Gesetz. Geplante Geltung ab Dezember 2022.
Bund, Länder und Kliniken in der Pflicht
Bund, Länder und Kliniken sollen alles dafür tun, damit es in einer Pandemie als Folge von überlasteten Intensivstationen nicht zu Verteilungsfragen und einer Patientenauswahl kommt. Alle regionalen und überregionalen Behandlungsmöglichkeiten sollen ausgeschöpft und organisatorische Maßnahmen ergriffen werden, um Bettenknappheit zu verhindern. Dazu gehören etwa die Umorganisation des stationären Regelbetriebs, die Zurückstellung planbarer Operationen, die Schaffung zusätzlicher Kapazitäten, die Organisation des notwendigen Personals oder die Kooperation mit anderen Krankenhäusern. Auch internationale Verlegungen sollen geprüft werden.
Ärztinnen und Ärzte medizinischer Fachgesellschaften haben für Ressourcen-Engpässe einen Leitfaden entwickelt, der von der Akademie für Ethik in der Medizin unterstützt wird. Mitunter wird darüber unter dem Stichwort „Triage“ diskutiert. Der Intensiv- und Notfallmediziner Professor Uwe Janssens erklärt, warum er diesen Begriff für schwierig hält – und nach welchen Kriterien Ärzte entscheiden, wenn intensivmedizinische Ressourcen knapp werden. Das Interview haben wir im November 2020 geführt, als Professor Janssens noch Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) war.
Herr Janssens, wie gehen Ärzte vor, wenn es in den Kliniken zu Engpässen in der Notfall- und in der Intensivmedizin kommt?
Auf solch eine Situation sind Ärzte in Deutschland vorbereitet. Bereits im Frühjahr, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, haben acht medizinische Fachgesellschaften hierfür einen Leitfaden entwickelt. Es gibt medizinisch-ethische Kriterien, nach denen Ärzte dann auswählen, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhält.
Warum sprechen Sie in diesem Zusammenhang nicht von „Triage“?
Triage ist ein aus der Militärmedizin herrührender Begriff. Es geht dabei um die – ethisch schwierige – Aufgabe, etwa bei einem Massenunfall von Verletzten oder anderweitig Erkrankten darüber zu entscheiden, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen aufzuteilen sind. Es handelt sich um ein Stratifikationsverfahren, also eine Ersteinschätzung vor der vollständigen Diagnose. Das ist nicht auf die Covid-19-Pandemie übertragbar. Denn hier müssen wir uns auf die Situation einstellen, keine verfügbaren Ressourcen mehr zu haben. Genau dafür haben die Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet.
Nach welchen Kriterien entscheiden dann die Ärzte?
Die Entscheidung orientiert sich immer an der klinischen Erfolgsaussicht einer intensivmedizinischen Behandlung und am Willen des Patienten. Um das beurteilen zu können, prüfen wir den Schweregrad der aktuellen Erkrankung und berücksichtigen die Vorerkrankungen des Patienten. Das Alter des Patienten, Beruf, Behinderung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle. Nach Abwägung entscheiden Ärzte über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizinischen Therapie oder nicht-intensivmedizinischen Therapie, zum Beispiel auf der Allgemeinstation. Es kann auch um eine Palliativversorgung gehen.
Wer ist an der Entscheidungsfindung beteiligt?
Es gilt das Mehr-Augen-Team-Prinzip. Eine Entscheidung über die Einleitung oder Fortführung einer intensivmedizinischen Behandlung sollen möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte, eventuell ein weiterer Facharzt sowie Vertreter der Pflege und weiterer Disziplinen, zum Beispiel ein Ethikberater der Klinik, begleiten. Immer wird der Patient selbst oder sein Vertreter, etwa der in einer Vorsorgevollmacht genannte Bevollmächtigte, in die Diskussion und Entscheidung mit einbezogen.
Manche Menschen lehnen eine intensivmedizinische Behandlung für sich ab. Was empfehlen Sie dann?
Der Vertreter des Patienten, in der Regel der Bevollmächtigte, sollte wissen, wie der Patient zu intensivmedizinischen Maßnahmen steht. Ist ein Patient nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, ist der Bevollmächtigte der Ansprechpartner für die Ärzte. Wer eine intensivmedizinische Behandlung für sich ablehnt, sollte dies in einer Patientenverfügung schriftlich dokumentieren.
Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte
Medizinische Fachgesellschaften haben klinisch-ethische Empfehlungen für Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie entwickelt. Sie sollen den verantwortlichen Akteuren durch medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen eine Entscheidungsunterstützung bieten. An der Erstellung waren Fachvertreter aus der klinischen Notfallmedizin, Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen beteiligt.
Bei der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) finden Sie die Handlungsempfehlungen zu Covid-19.
Zunächst tun die Kliniken alles, damit es nicht zu Engpässen auf Intensivstationen kommt. Erst wenn die Ressourcen weder in der eigenen Klinik noch regional oder überregional ausreichen, muss entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten entsprechend behandelt werden, welche nicht – und welche nicht mehr.
Grundsätze der intensivmedizinischen Behandlung
Medizinische Entscheidungen orientieren sich immer am Bedarf des einzelnen Patienten. Dabei bilden die medizinische Indikation und der Patientenwille die Grundlage für eine patientenzentrierte Entscheidung. So ist eine Intensivtherapie nicht indiziert, wenn
der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat,
die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder
ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre.
Alle Patienten werden in die Betrachtung einbezogen
Reichen die Ressourcen nicht aus, kommt ergänzend zur patientenzentrierten Betrachtung eine „überindividuelle“ Perspektive hinzu. Dabei sind immer alle Patienten einzubeziehen – nicht nur Patienten mit Covid-19-Infektionen. Liegt eine intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit vor, müssen die individuellen Erfolgsaussichten des Patienten eingeschätzt werden. Hierfür greifen die von den Fachgesellschaften entwickelten Kriterien. Das Alter des Patienten, sein Beruf, ein Behinderung oder andere soziale Kriterien spielen für sich alleine keine Rolle.
In Vorsorgevollmacht einen Bevollmächtigten nennen
In einer Vorsorgevollmacht legen Sie fest, wer mit Ärzten spricht und Entscheidungen trifft, falls Sie dazu nicht mehr in der Lage sind – vorübergehend oder dauerhaft. Die bevollmächtigte Person ist der juristische Vertreter des Patienten. Das Vorsorge-Set der Stiftung Warentest enthält die wichtigsten Formulare, dazu gehören die Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung sowie die Betreuungsverfügung. Der Ratgeber hat 144 Seiten, kostet 16,90 (kostenlose Lieferung), die Ausgabe als PDF/E-Book kostet 13,99 Euro.
Festlegungen in einer Patientenverfügung treffen
Wenn Sie sich umfassend mit dem Thema Patientenverfügung beschäftigen möchten hilft der Ratgeber "Meine Patientenverfügung" mit den weiteren Schwerpunkten Palliativmedizin, Sterbehilfe und Organspende. Rechtsanwälte, Ärzte, Psychiater und Ethikbeauftragte kommen zu Wort. Der Ratgeber enthält außerdem alle Formulare für die rechtliche Vorsorge: 144 Seiten, 14,90 Euro (kostenlose Lieferung). Die PDF/E-Book-Version kostet 11,99 Euro.
Patientenverfügung in Corona-Zeiten
Sollten Sie sich fragen, ob Sie Ihre Patientenverfügung für den Fall einer Covid-19-Erkrankung anpassen sollten: Eine Behandlung wegen Covid-19 ist kein Anwendungsfall für eine Patientenverfügung. Eine Patientenverfügung kommt erst zum Einsatz, wenn ein Patient in aussichtsloser Krankheitssituation dauerhaft nicht mehr einwilligungsfähig ist.
Mehr Informationen und ein Interview mit dem Lungenfacharzt Dr. Thomas Voshaar über Therapien bei schwerem Covid-19-Verlauf in unserem Special > Patientenverfügung in Corona-Zeiten.
Betreuungsverfügung
Alternativ oder ergänzend zur Vorsorgevollmacht ist eine Betreuungsverfügung sinnvoll. Ein Verfügender kann darin festlegen, wer im Notfall für ihn handeln soll. Kommt es zum Betreuungsverfahren, prüft das Betreuungsgericht, ob die vorgeschlagene Person als Betreuer geeignet ist. Sinnvoll ist es, weitere Wünsche aufzulisten, etwa welches Pflegeheim erste Wahl ist, ob Religion eine Rolle spielt oder wer sich um das Haustier kümmern soll. Die Verfügung sollte schriftlich vorliegen.
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