
Brille statt Eintrittskarte: 75 000 Fans waren live im Stadion beim Bundesliga-Auftakt. Weitere sechs Millionen verfolgten das Spiel Bayern gegen Bremen in der ARD. Erstmals konnten Zuschauer aber auch per Virtual-Reality-Brille mitfiebern – allerdings nicht in Deutschland. Unser Redakteur Martin Gobbin ist deshalb nach Holland gereist, um sich das Spiel mit der aufregenden neuen Technik anzusehen.
Näher dran als Philipp Lahm
Lewandowski guckt, läuft an, schießt – Toooooor! Der Ball zappelt im Netz. Und ich stehe nur fünf Meter entfernt. Außer dem Bremer Keeper ist jetzt keiner dem Ball so nah wie ich. Die Fotografen hocken hinter Banden, noch weiter entfernt sitzen die Fans auf den Tribünen – nur ich darf direkt auf dem Rasen dabei sein beim Eröffnungsspiel der neuen Bundesliga-Saison. Hautnah erlebe ich den 6:0-Kantersieg des FC Bayern gegen Werder Bremen. Meist stehe ich an der Mittellinie, manchmal an der Eckfahne oder hinter dem Tor. Gelegentlich sprintet Thomas Müller nur zwei Meter entfernt vorbei, mehrfach wirft Franck Ribéry eine Trinkflasche in meine Richtung. Einmal schlägt sogar eine verunglückte Flanke der Bremer einen halben Meter neben mir ein – vor Schreck zucke ich zusammen.
Hier lesen Sie den ausführlichen Erlebnisbericht unseres Redakteurs Martin Gobbin.
Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Fakten bietet der Unterartikel Kurz & Knapp: Bundesliga per Virtual Reality.
Geistig in München, körperlich in Den Haag

So nah an Ribéry wie noch nie. Screenshots geben einen Eindruck – können aber den 3D-Effekt und das Präsenzgefühl nicht wiedergeben. Zudem sehen die Screenshots schmal aus, während die Brille eine 180-Grad-Ansicht zeigt.
So nah an Ribéry wie noch nie. Screenshots geben einen Eindruck – können aber den 3D-Effekt und das Präsenzgefühl nicht wiedergeben. Zudem sehen die Screenshots schmal aus, während die Brille eine 180-Grad-Ansicht zeigt.
In Wirklichkeit sitze ich in einem holländischen Hotelzimmer. Aber was ist das schon – Wirklichkeit? Meine subjektive Wirklichkeit spielt sich gerade in der Münchner Allianz-Arena ab. Objektiv betrachtet, befinde ich mich aber in Den Haag und trage eine Art Videobrille auf dem Kopf – die Samsung Gear VR. Darin steckt ein mit der Brille kompatibles Smartphone, darauf läuft die App Oculus und innerhalb dieser App arbeitet eine weitere App namens NextVR, die via Internet das Spiel überträgt. Alles klar, oder? Nein?
Was „Virtual Reality“ bedeutet

Mit solchen Kameras am Spielfeldrand fängt Fox Sports das Bundesligageschehen ein.
VR steht für „Virtual Reality“, also „virtuelle Realität“. Um in eine solche computersimulierte Welt abzutauchen, benötige ich eine VR-Brille. Davon gibt es verschiedene Varianten, das Auftakt-Spiel des FC Bayern lässt sich aber nur mit der Gear VR verfolgen. Der Fernsehsender Fox Sports und die Online-Plattform NextVR zeigen darüber erstmals eine Bundesliga-Partie per VR – aus rechtlichen Gründen allerdings nicht in Deutschland. Daher mein Ausflug in die Niederlande. In Deutschland hat der Sender Sky bereits erste VR-Tests absolviert. Wann Fans hierzulande die ersten Spiele virtuell besuchen können, steht aber noch nicht fest.
Spiele, Maschinenbau, Pornos: Wo VR bereits zum Einsatz kommt
Bislang ist Virtual Reality nur für sehr wenige Verbraucher zum Teil ihrer Realität geworden. Zwar gibt es einige spannende oder auch nützliche Anwendungen: interaktive Spiele, imaginäre Reisen in ferne Länder oder das Zusammenstellen der eigenen Wunschküche im Fachgeschäft. Auch die Pornoindustrie investiert kräftig in virtuelle Erfahrungen. Durchgesetzt hat sich die Technik bisher aber allenfalls in einigen professionellen Bereichen: Ingenieure konstruieren damit neue Maschinen, Chirurgen üben komplizierte Eingriffe und Soldaten trainieren den Ernstfall.
Immersion: Abtauchen in eine andere Welt
Die neue Technik setzt auf den sogenannten Immersions-Effekt: Die Illusion der künstlichen Realität soll so überwältigend und echt wirken, dass der Betrachter sich möglichst vollständig darin vertieft und seine reale Umgebung eine Zeit lang vergisst. Die Brillen schirmen den Nutzer dabei fast komplett von der „echten“ Realität ab und erschaffen 360-Grad-Welten, in denen er sich körperlich präsent fühlt, sich bewegen kann und wo Lebewesen und Objekte auf seine Handlungen reagieren.
Im Stadion: 3D statt VR
Streng genommen handelt es sich bei der Fußball-Übertragung gar nicht um Virtual Reality im eigentlichen, interaktiven Sinne: Schließlich kann ich nicht nach Belieben im Stadion herumlaufen oder nach Ribérys Trinkflasche greifen. Bayern-Trainer Ancelotti wechselt Neuzugang Renato Sanches auch trotz meiner Bitte nicht ein. Zudem umfasst das Bild nur 180 Grad – danach folgen ein schwarzes Nichts und die hinein projizierten Wappen der beiden Vereine. Mein Erlebnis entspricht eher einer 3D-Übertragung. Der 3D-Eindruck kommt durch ein stereoskopisches Verfahren zustande: Auf dem Handybildschirm ist zweimal fast dasselbe runde Bild zu sehen.* Mithilfe der Gear VR setzen sich diese beiden 2D-Aufnahmen in meinem Kopf zu einem 3D-Bild zusammen.

Auf dem Handy-Display sind zwei identische Aufnahmen zu sehen – dank VR-Brille wird daraus im Kopf ein 3D-Bild.
Unscharfe Schüsse
Wirklich überzeugend finde ich das nicht: So ziemlich alles im Bild ist unscharf. Die Namen auf den Trikots sind kaum lesbar, die Gesichter der Spieler bleiben matschig. So erlebe ich das 1:0 in dem Glauben, Thomas Müller habe es erzielt. Doch die Reporter sprechen von Xabi Alonso als Torschützen. Ebenfalls störend ist die Pixelstruktur des Smartphones, die von der Brille deutlich sichtbar gemacht wird. Das erschwert den Versuch, die Virtualität als Realität zu akzeptieren. Beim realen Stadionbesuch sehe ich nie Pixel. Und setze ich die Brille mal kurz ab, um nach einem Snack zu greifen, muss ich die Schärfe anschließend erneut mit einem Rädchen am Brillengehäuse justieren.
Der Überblick fehlt

Suchbild: Wo ist der Ball? Aus der Mittellinien-Perspektive lässt sich das Spiel oft nur schwer verfolgen.
Suchbild: Wo ist der Ball? Aus der Mittellinien-Perspektive lässt sich das Spiel oft nur schwer verfolgen.
Auch Regie und Kameraführung haben deutliche Schwächen: Um den 3D-Effekt möglichst stark zur Geltung zu bringen, sind die Kameras auf Spielfeldhöhe statt auf den Tribünen platziert. Die Hauptkamera steht an der Mittellinie – sie ist auch im Einsatz, als Lewandowski das 3:0 erzielt. Aus dieser Perspektive ist für mich kaum zu erkennen, wie das Tor zustande kommt. Die Mittellinien-Kamera existiert zudem nur auf einer Seite des Stadions. Spielen die Teams über die andere Seite, bekomme ich nur wenig mit. Nahaufnahmen würden dieses Problem lösen – doch die für VR zuständigen Kameras zoomen und bewegen sich nicht. Der Mangel an Übersicht und Details könnte theoretisch dadurch aufgewogen werden, dass ich mich körperlich im Stadion wähne. Aber bedingt durch Unschärfe, Pixelstruktur und die Begrenzung auf eine 180-Grad-Ansicht ist die atmosphärische Immersion viel schwächer als bei einem tatsächlichen Stadionbesuch. Ich tauche nicht wirklich ins Spiel ein.
Keine interaktive Kameraführung
Um näher am Geschehen zu sein, würde ich gerne selbst wählen können, aus welcher Perspektive ich das Spiel gerade verfolge. Bei manchen TV-Übertragungen ist das per App bereits möglich. Hier aber führt Fox Regie. Interaktiv ist das Ganze also nur insofern, als ich innerhalb der von Fox verwendeten Kameraperspektive den Kopf nach Belieben drehen und so einen selbstgewählten Bildausschnitt betrachten kann.
Orientierungslos nach dem Schnitt
Selbst wenn Fox Sports den geeignetsten Blickwinkel aussucht, bringt das mitunter noch Probleme mit sich: Schlägt Mats Hummels etwa den Ball aus der eigenen Hälfte zu Ribéry, ist mein Kopf anfangs nach links gerichtet. Schneidet der Regisseur dann auf die Hintertorkamera um, ist der Ball an Ribérys Fuß plötzlich rechts im Bild – ich muss den Kopf schnell wenden und mich völlig neu orientieren. Da schlägt Ribéry aber schon die Flanke in den Strafraum und ich werfe den Kopf wieder nach links. Selbst wenn sich der Ball gerade gar nicht bewegt – etwa weil er zum Abstoß bereit liegt – ändert sich seine Platzierung im Bild durch einen Kamerawechsel mitunter komplett. Das ist zwar auch im Fernsehen der Fall, doch da fällt es kaum auf, da ich aufgrund der Entfernung zum Bildschirm meine Kopfhaltung nie ändern muss. Verschlimmert werden die Orientierungsprobleme noch dadurch, dass die Umschnitte stets mit kurzen Abblenden verbunden sind. Es gibt einen kurzen „Blackout“, durch den ich manche Chance komplett verpasse, weil die Regie im entscheidenden Moment umschneidet.
Schnell kommt Langeweile auf

Fox Sports kompensiert die Schwächen der VR-Übertragung durch eine Projektion des herkömmlichen TV-Bildes in den Himmel.
Fox Sports kompensiert die Schwächen der VR-Übertragung durch eine Projektion des herkömmlichen TV-Bildes in den Himmel.
Tendenziell wechselt die Ansicht aber eher zu selten als zu oft. So entsteht der trügerische Eindruck, auf dem Platz sei nicht viel los ist. Das liegt daran, dass der Ball eben oft weit entfernt ist und die Kameras ihn nicht verfolgen oder heranzoomen. So wird mir schon nach 15 Minuten etwas langweilig in der virtuellen Realität. All dieser Schwächen sind sich scheinbar auch Fox Sports und NextVR bewusst: In der zweiten Halbzeit projizieren sie – quasi als Kompensation – immer öfter Ausschnitte der herkömmlichen TV-Übertragung in den Himmel über der Allianz-Arena.
Nackenschmerzen und Striemen auf der Stirn

Auf Dauer unangenehm: Weil die App das Bild nicht richtig zentriert, muss ich meinen Kopf ständig nach links drehen.
Ein weiteres Problem: Die App hat Probleme mit der Zentrierung des Bildes: Es rutscht immer wieder nach links. Um es in meiner VR-Brille zu zentrieren, muss ich meinen Hals relativ weit nach links drehen. Das ist auf Dauer anstrengend. Und wenn der Ball mal richtig weit nach links rollt, muss ich mich geradezu verbiegen. Zudem machen sich spätestens in der zweiten Halbzeit die rund 500 Gramm bemerkbar, die Brille und Smartphone gemeinsam auf die Waage bringen. Das Gewicht zieht meinen Kopf nach unten, mein Nacken muss sich dagegen stemmen, leichte Verspannungen sind die Folge. Dieses Gewicht mag konstruktionsbedingt unvermeidbar sein. Unnötig ist hingegen, dass eine Stoffnaht im Inneren der Brille leicht schmerzhaft gegen die Stirn drückt und bei längerem Tragen einen Striemen hinterlässt. Immerhin: Schlecht wird mir während des gesamten Abends überhaupt nicht – andere Besucher von VR-Welten klagen hingegen öfter über virtuelle Seekrankheit.
Sechs Tore, wenig Highlights
Zu den wenigen „Wow!“-Momenten der Übertragung zählt der eingangs erwähnte Elfmeter von Lewandowski. Hier kann sich die Regie auf die Situation einstellen und rechtzeitig in die optimale Kameraposition wechseln. Wie der Ball ein paar Meter von mir entfernt im Netz zappelt – das ist schon ein eindrucksvolles Erlebnis. So nah dran war ich noch nie bei einem Bundesliga-Spiel. Ansonsten passiert ab und zu mal etwas Amüsantes, das mich daran erinnert, dass ich nicht wirklich im Stadion bin: Gelegentlich springt der Ball über die Seitenlinie ins Aus, prallt am schwarzen Nichts ab und rollt dadurch zurück Richtung Spielfeld. Das liegt daran, dass die Kamera exakt auf Höhe einer Bande steht, die den Ball stoppt – für mich ist die Bande aber nicht sichtbar, sondern Teil des schwarzen Nichts, das den Ball scheinbar mit seinen magischen Kräften zurückstößt.
Kein Ersatz für TV-Übertragung oder Stadion-Besuch

Nah dran – aber weder fühle ich mich mittendrin noch habe ich einen Überblick über das Spiel.
Nah dran – aber weder fühle ich mich mittendrin noch habe ich einen Überblick über das Spiel.
Neben dem 6:0 des FC Bayern konstatiere ich nach dem Spiel noch ein paar weitere Ergebnisse: Der Ladestand des Handyakkus, der auch die Brille mit Energie versorgt, ist von 100 auf 48 Prozent gesunken. Der insgesamt sehr flüssige Stream hat rund 3,5 Gigabyte an Daten verbraucht – VR-Anwendungen, die eine Internetverbindung voraussetzen, sollte man also unbedingt über WLan statt per Mobilfunk nutzen. Ob Sport-Übertragungen überhaupt ein sinnvolles Szenario für die Virtual-Reality-Technik darstellen, ist für mich nach diesem Experiment aber fraglich. Zumindest bei der von Fox Sports gewählten Form tauche ich nicht annähernd so tief ins Geschehen ein wie bei einem realen Stadionbesuch, muss aber gleichzeitig auf die vom TV-Gerät gewohnte Übersicht und Detailtiefe verzichten. Beim nächsten Spiel setze ich mich doch lieber wieder vor den Fernseher oder fahre nach München statt nach Den Haag – in die Realität statt die Virtualität.
* Passage korrigiert am 13. Oktober 2016