Blutvergiftung Verkannte Gefahr

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Blutvergiftungen töten jährlich in Deutschland etwa 60 000 Menschen. Viele ließen sich wohl retten: durch frühere Behandlung.

Als Letztes erinnert sich Hubert Grönert, wie ihm Narkosemittel in die Vene lief. Chirurgen wollten einen Tumor aus seinem Mund entfernen. Das war im März 2004. „Kurz vor Pfingsten wachte ich wieder auf“, sagt Grönert. Knapp drei Monate hatte der heute 64-Jährige im künstlichen Koma gelegen, während Intensivmediziner um sein Leben kämpften. Der Grund: Sepsis, besser bekannt als Blutvergiftung.

Unterschätzte Gefahr

Grönert ist kein Einzelfall, und er kam vergleichsweise noch glimpflich davon. Das geht aus einer Untersuchung in deutschen Intensivstationen hervor, die das „Kompe-tenznetz Sepsis“ (SepNet) 2007 veröffentlichte. „Demnach gibt es bei uns jährlich hochgerechnet 154 000 Betroffene, und etwa 60 000 sterben – ähnlich viele wie an Herzinfarkt“, sagt Studienkoordinator Professor Dr. Frank Brunkhorst, Intensivmediziner am Uniklinikum Jena.

Doch die offizielle Statistik nannte 2009 nur knapp 8 000 Sepsis-Todesfälle. Das liegt für Brunkhorst vor allem daran: „Kaum jemand hierzulande kennt die Sepsis. Und ihre Symptome sind sehr allgemein. Ärzte ordnen sie oft anderen Krankheiten zu.“ Dann stehe etwa „Lungenentzündung“ auf dem Totenschein.

Blutgefäße unter Beschuss

Ganz daneben liegt das nicht. „Bei einer Sepsis gerät eine Entzündung außer Kontrolle“, erklärt Professor Dr. Eugen Faist, Chirurg und Sepsisforscher am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zunächst dringen Erreger – meist Bakterien, selten auch Viren, Pilze, Parasiten – in den Körper ein, oft über die Lunge, aber auch über die Verdauungsorgane, Harnwege oder Wunden. Normalerweise dämmt die körpereigene Abwehr solche Infektionen direkt am Ursprungsort ein. Doch nicht immer gelingt das. Besonders gefährdet scheinen Menschen mit geschwächtem Immunsystem, etwa durch Krankheiten, Medikamente, hohes Alter. „Aber auch Junge und Gesunde können eine Sepsis bekommen, und manchmal reicht dafür ein Kratzer“, sagt Faist.

Organe verweigern den Dienst

Dann gelangen die Eindringlinge in den Blutkreislauf und versetzen das Immunsystem, selbst ein geschwächtes, in höchsten Aufruhr. Es entsendet massenhaft Immunzellen und -botenstoffe. Die führen hitzige Abwehrschlachten, schießen dabei weit über das Ziel hinaus und schädigen die Gefäße. In der Folge sackt der Blutdruck ab und das Gerinnungssystem spielt verrückt. Wenn nicht mehr genug Blut zu den Organen gelangt, verweigern diese den Dienst.

Dann sprechen Ärzte von „schwerer Sepsis“, beim Kreislaufzusammenbruch von einem „septischen Schock“ und können nur noch jeden zweiten Betroffenen retten. „Im Frühstadium liegen die Überlebenschancen noch über 80 Prozent“, sagt Sepsisspezialist Eugen Faist. Doch schaukele sich eine Sepsis oft schon in wenigen Stunden in tödliche Ausmaße hoch.

Schläuche, Pumpen, Monitore

„Daher muss sie so schnell wie möglich erkannt und behandelt werden“, sagt Faist. Dazu überprüfen Ärzte Allgemeinzustand und Organfunktionen, fahnden im Blut nach Entzündungsmarkern und Krankheitserregern. Auf langwierige Laborergebnisse sollten sie jedoch nicht warten, betont Brunkhorst: „Bei Verdacht auf Sepsis brauchen Patienten sofort Antibiotika, meist hochdosiert, intravenös und gegen verschiedene Bakterien.“ Die Therapie lasse sich später immer noch gemäß Befunden anpassen oder abbrechen.

Manchmal reicht sie aus. Sonst versuchen Ärzte, die Erregerquelle zu beseitigen, etwa durch eine Wundreinigung. Und um den Organismus zu stabilisieren, setzen sie auf Intensivmedizin: intravenöse Flüssigkeit, künstliche Beatmung und Ernährung, Dialyse. „Ich brauchte wohl das volle Programm“, sagt Grönert. Bewusst erinnert er sich, entrückt im künstlichen Koma, an nichts davon, bloß an „Dutzende von Träumen – meist relativ harmlose, oft sogar ziemlich komische“. Doch seine Frau denkt bis heute mit Schaudern an all die Schläuche, Pumpen, Monitore, die Ungewissheit. Und Grönert bemerkte die Spuren der Strapazen direkt beim Erwachen: „Ich konnte vor Schwäche nicht einmal die Finger bewegen.“ Wie ihm geht es nach einer schweren Sepsis vielen. Sitzen, stehen, gehen, anziehen, essen, sprechen – fast alles müssen sie neu lernen. Grönert bewegte sich erst im Rollstuhl und dann auf Krücken fort, monatelang. „Heute funktioniert alles wieder. An Spätfolgen leide ich nicht.“

Folgen aggressiver Immunreaktionen

Ein Glück. „Oft führen die aggressiven Immunreaktionen und Therapien zu bleibenden Schäden der Muskeln und Nerven oder zu geistigen Beeinträchtigungen“, sagt Faist. Auch komme es zu psychischen Problemen. Das wundert Brunkhorst nicht: „Sepsis-Patienten durchleben eine Nahtoderfahrung und scheinen sie selbst im künstlichen Koma unbewusst abzuspeichern.“ Doch mangele es in Deutschland an geeigneten Nachsorgekonzepten.

Sepsis entsteht oft im Krankenhaus

Auch bei der Vorbeugung gebe es noch viel zu tun, besonders in den Kliniken. Schon ihr Zweck macht sie zu Hochburgen für Erreger: Viele kranke Menschen auf engem Raum, kurze Wege für Mikroorganismen. Denen stehen sogar die Pforten ins Körperinnere weit offen– etwa durch Operationen, Beatmungsschläuche, Katheter.

So erkrankt laut SepNet-Studie etwa die Hälfte aller Sepsispatienten im Krankenhaus. „Diese Zahl lässt sich sicher durch weitere Verbesserung der Hygiene senken“, sagt Studienkoordinator Brunkhorst. Das fordert er auch für Alten- und Pflegeheime.

Bedarf besteht auch bei Diagnose und Therapie. „Wir brauchen Nachweisverfahren, um Sepsis so schnell und früh wie möglich zu erkennen, und zielgenaue Medikamente, etwa zur Dämpfung der überschießenden Immunreaktion“, sagt Faist.

Im Jahr 2002 erhielt das Präparat Xigris mit „aktiviertem Protein C“ die Zulassung bei schwerer Sepsis. Es birgt aber selbst ein lebensgefährliches Risiko, nämlich für starke Blutungen. Unter anderem deshalb wird es nur bei Sepsispatienten mit sehr hohem Sterberisiko empfohlen. Ansonsten nennt Faist die Forschungslage „frustrierend“: „Immer wieder tauchen hoffnungsvolle Ansätze auf, um dann in Patientenstudien zu enttäuschen.“ Brunkhorst bestätigt: „Eine neue Zauberformel ist nicht in Sicht.“

Frühe Behandlung rettet Leben

Doch er ist überzeugt: „Die Zahl der Sepsis-Toten lässt sich allein dadurch halbieren, dass Ärzte das vorhandene Wissen richtig nutzen.“ Und das bedeute vor allem: so früh wie möglich. „Mit jeder Stunde ohne Behandlung steigt das Sterberisiko US-amerikanischen Daten zufolge um sieben Prozent.“ Doch äußert sich die Sepsis oft mit sehr allgemeinen Symptomen, die auch zu einer banalen Erkältung passen. „Diese müssen wir bekannter machen – am besten so wie die vom Herzinfarkt.“

„Fragen Sie: Kann das Sepsis sein?“

Sein Rat: Bei bestimmten Warnzeichen (siehe „Symptome der Sepsis“) sollte man sofort ärztlichen Rat einholen. „Auch wer schon aus anderen Gründen im Krankenhaus liegt, sollte auf die Symptome achten“, sagt Brunkhorst. „Fragen Sie konkret: Kann das Sepsis sein?“ Denn auch Ärzte brauchten noch ein stärkeres Problembewusstsein.

Grönert geht es wieder richtig gut. Er hilft in der Firma seiner Frau und engagiert sich bei der Deutschen Sepsis-Hilfe. Letztlich machte ihn die Krankheit sogar gesünder: Der einstige Zigarrenliebhaber raucht nicht mehr, verzichtet auf Alkohol, mäßigt sich beim Essen, setzt verstärkt auf Bewegung. Und bringt mit 70 Kilo nur noch halb so viel auf die Waage wie früher. „Ich bekam ein zweites Leben geschenkt“, erklärt er. „Diese Chance will ich nicht verspielen.“

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khuber am 10.05.2011 um 18:27 Uhr

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