Berufsgenossenschaften müssen zahlen, wenn Arbeitnehmer wegen ihres Berufs krank werden. Nur wenigen Betroffenen gelingt es aber, eine dauerhafte Rente durchzusetzen.
Günther Kaarst* war jahrelang ganz nah dran am Dreck. Er arbeitete in einer mittelgroßen Kunststofffabrik in der Eifel, die Industriebehälter und Fahrgestelle herstellte. Wenn die neuen Behälter versiegelt werden mussten, kroch er in sie hinein und strich die Ritzen zwischen Boden und Seitenwänden mit einer giftigen Spachtelmasse aus. Einen Atemschutz trug er dabei nicht. Er arbeitete auch an den Maschinen, an denen die Behälter hergestellt wurden und säuberte seine Hände danach mit einem giftigen Lösemittel. Und natürlich atmete er auch die giftige Luft in der Werkshalle ein, in der die neuen, noch feuchten Behälter vor sich hindünsteten. Mit 41 Jahren war Günther Kaarst gesundheitlich am Ende. Ihm wurde häufig übel, er litt unter Gliederschmerzen, hatte Kopfweh, war leicht reizbar und brach hin und wieder sogar zusammen. Ab dem 22. August 1994 schrieb sein Arzt ihn dauerhaft krank. Wenig später erstattete der Mediziner bei der zuständigen Berufsgenossenschaft Anzeige wegen Verdachts auf eine Berufskrankheit. Günther Kaarst hatte sich vergiftet.
Bis heute verweigert die Berufsgenossenschaft dem Patienten eine Rente. Und das, obwohl bei Kaarst inzwischen eine Schwerbehinderung von 40 Prozent anerkannt ist und sein Arzt auf eine Entschädigung drängt. Zuständig ist für ihn die Kölner Bezirksverwaltung der Holz-Berufsgenossenschaft. Als einer der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung soll sie Beschäftigte absichern, wenn sie während ihrer Arbeit einen Unfall haben oder wegen ihres Berufs krank werden.
Die zu gewährenden Renten richten sich dabei nach der jeweils festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Wer überhaupt nicht mehr arbeiten kann, erhält die so genannte Vollrente. Sie erreicht allerdings nur zwei Drittel des bisherigen Verdienstes. Bei einer MdE von zum Beispiel 40 Prozent bezahlt die Genossenschaft dann 40 Prozent von zwei Dritteln des bisherigen Verdienstes.
Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Zweig der gesetzlichen Sozialversicherung. Alle Arbeitnehmer müssen hier versichert sein. Die Beiträge zahlen allein die Arbeitgeber. Dafür müssen sie, wenn ein Mitarbeiter im Betrieb verunglückt oder wegen seines Berufs krank wird, nicht selbst leisten.
Die Genossenschaft von Günther Kaarst weigert sich zu zahlen, weil sie der Ansicht ist, dass Kaarsts Krankheit eher psychosomatische Ursachen hat und nicht durch Lösemittel hervorgerufen wurde. Günther Kaarsts Arzt sieht das jedoch anders. Jetzt prozessiert Kaarst vor dem rheinland-pfälzischen Landessozialgericht in Mainz.
Die meisten Patienten, die auf eine Rente wegen einer Berufskrankheit hoffen, machen die gleiche Erfahrung wie Günther Kaarst: Sie stellen fest, dass die Berufsgenossenschaft nicht zahlt. Im vergangenen Jahr gewährten die gewerblichen Genossenschaften nur in 5.204 Fällen eine Rente bei insgesamt rund 73.000 Anzeigen wegen Verdachts auf eine Berufskrankheit. Die Quote liegt bei etwa 7 Prozent. Weitere rund 16 Prozent wurden zwar als Berufskranke anerkannt, jedoch ohne Rentenzahlungen. Sie erhielten aber zum Beispiel Umschulungs- oder Rehamaßnahmen. Über ein Viertel der Verdachtsmeldungen entfällt dabei auf Hautkrankheiten, etwa bei Frisören. An zweiter Stelle stehen Erkrankungen, die auf mechanische Einwirkungen zurückgehen. Dazu gehört zum Beispiel das Tragen schwerer Lasten.
Viele Stolpersteine
Die meisten Betroffenen stolpern über die unzähligen Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um eine Berufskrankheitenrente zu erhalten. Es beginnt damit, dass in der Regel nur bei Krankheiten entschädigt wird, die auf der so genannten Berufskrankheitenliste stehen. Diese Liste wird vom Bundesarbeitsministerium erarbeitet. Zurzeit umfasst sie 67 Positionen. Für Krankheiten, die nicht auf der Liste stehen, kann nur gezahlt werden, wenn es neue medizinische Erkenntnisse gibt.
Eine zweite wichtige Bedingung: Die Krankheit muss durch den Beruf verursacht oder verschlimmert worden sein. Kann dies nicht nachgewiesen werden, erhält der Betroffene keinen Pfennig. Der Zusammenhang muss mit "hinreichender Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen werden, so steht es zum Beispiel in einem der Standardwerke zur Gesetzlichen Unfallversicherung von Bereiter-Hahn und Mehrtens. In der Praxis entzündet sich an diesem Punkt immer wieder Streit: Patienten sind dann der Ansicht, dass die vorgelegten Beweise ausreichen, die Genossenschaften sehen den Zusammenhang jedoch als nicht bewiesen an. Können sich die Parteien nicht einigen, bleibt nur der Gang vor das Sozialgericht. Viele Anträge scheitern daran, dass sich im Nachhinein nur noch wenig beweisen lässt. Auch Günther Kaarst hat dieses Problem. Er streitet sich mit seiner Genossenschaft über die Frage, welcher Schadstoffbelastung er an seinem Arbeitsplatz tatsächlich ausgesetzt war. Als Kaarst noch arbeitete, wurde die Schadstoffbelastung nicht überall gemessen und heute wird dort zum Teil etwas anderes hergestellt. Jetzt versuchen die Gutachter aus den Messungen, die vorliegen, auf Kaarsts damalige Belastung zu schließen. Im Nachhinein ärgert sich Günther Kaarst, dass er damals auf die Messungen nicht geachtet hat. "Aber wer denkt schon an so etwas?", sagt er.
Heute kümmert er sich um diese Dinge obwohl er es rein rechtlich nicht müsste. Es ist Aufgabe der Genossenschaft, die Beweise zu erheben. Sie hat hierfür den Technischen Aufsichtsdienst (TAD). Kaarst lässt sich aber die Untersuchungsberichte des TAD schicken und prüft, ob alle wichtigen Punkte berücksichtigt wurden. Stimmt seiner Auffassung nach etwas nicht, teilt er das der Genossenschaft mit. "Es geht schließlich um mein Geld", sagt er.
Beweise sammeln
Der Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter (Abekra) in Altenstadt in Hessen empfiehlt den Betroffenen sogar, grundsätzlich so viel wie möglich selbst zu recherchieren. Die Geschäftsführerin, Dr. Angela Vogel, kritisiert den Technischen Aufsichtsdienst scharf: "Häufig sammelt der TAD vor allem die Beweise, die dazu führen, dass die Genossenschaft nicht zahlen muss." Angela Vogel hält es nicht für sinnvoll, dass die Berufsgenossenschaften, die ja zahlen sollen, gleichzeitig auch die Ermittlungen führen. Ihrer Ansicht nach sollte damit eine unabhängige Institution beauftragt werden. Schließlich muss sich der Kranke noch von einem medizinischen Gutachter untersuchen lassen. Wer als Gutachter bestellt wird, darf letztlich die Genossenschaft entscheiden. Laut Sozialgesetzbuch soll sie den Betroffenen allerdings möglichst mehrere Gutachter zur Auswahl nennen.
Auch Günther Kaarst musste sich untersuchen lassen. Das Gutachten, das die Ärzte Dr. Ebbinghaus, Dr. Prager und Dr. Wischnewski aus Castrop-Rauxel mit Datum vom 18. April 1995 gemeinsam anfertigen und bei dem sie auch auf Zusatzgutachten zurückgreifen, leitet die Genossenschaft an ihn weiter. Günther Kaarst liest in dem Gutachten, er hätte eine "grenzwertige intellektuelle Leistungsfähigkeit mit Hinweis auf eine ausgeprägte hypochondrische Störung vor dem Hintergrund einer querulatorisch anmutenden und insgesamt kritikschwachen Persönlichkeit". Die Ärzte sind offenbar der Ansicht, dass er sich seine Krankheit zu weiten Teilen einbildet. Weiter heißt es in dem Gutachten: "Wegen der erheblich zu kurzen Expositionsdauer und der nicht lösemitteltypischen psychischen Symptomatik kann auch hier eine Berufskrankheit nicht festgestellt werden." Am 3. August 1995 lehnt die Berufsgenossenschaft den Antrag ab.
Kaarst legt Widerspruch gegen den Bescheid ein. Die Genossenschaft bittet die Gutachter um eine erneute Stellungnahme. Sie bleiben im Großen und Ganzen bei ihrer Auffasssung. Die Genossenschaft lehnt wieder ab.
Kaarst nimmt sich einen Anwalt und klagt vor dem Sozialgericht Trier. Seine Rechtsschutzversicherung kommt für die Kosten auf. Das Gericht lässt die Schadstoffbelastung an Karsts ehemaligem Arbeitsplatz erneut untersuchen.
Widersprüchliche Gutachten
Der Richter gibt auch ein neues medizinisches Gutachten in Auftrag. Als Gutachter wird Professor Konietzko aus Mainz bestellt. In seinem Gutachten heißt es jetzt: "Aufgrund der Datenlage kommen wir daher zu dem Schluss, dass das hirnorganische Psychosyndrom mit Wahrscheinlichkeit wesentlich durch die Exposition gegenüber neurotoxischen Substanzen (insbesondere Styrol und Methylenchlorid) ... mit verursacht wurde."
Das Gericht folgt dem neuen Gutachten. Am 15. Januar 1999 verurteilt es die Holz-Berufsgenossenschaft zur Zahlung einer Rente wegen einer verminderten Erwerbsfähigkeit von 20 Prozent. Günther Kaarst soll rückwirkend zum 1. April 1994 monatlich etwa 500 Mark erhalten.
Die Genossenschaft hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Sie behauptet, dass in dem neuen Gutachten zu hohe Schadstoffbelastungen zugrunde gelegt wurden. Damit geht der Streit um die Rente ins sechste Jahr. Günther Kaarst geht es inzwischen gar nicht mehr allein ums Geld. Jetzt will er auch den Vorwurf, er habe sich seine Krankheit nur eingebildet, vom Tisch haben.
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