Computer und Internet sind für Menschen mit Behinderung „Tore zur Welt“: So können sie sich informieren, kommunizieren und im Alltag selbstständiger agieren. Auch im Beruf und in der Aus- und Weiterbildung schaffen PC und WWW Chancen. Das setzt allerdings voraus, dass E-Learning-Angebote und Prüfungen barrierefrei sind und trotz der Behinderung ohne Schwierigkeiten absolviert werden können. Noch ist die Auswahl auf dem offenen Weiterbildungsmarkt begrenzt. Ein Lichtblick ist die barrierefreie Prüfung zum ECDL, dem europäischen Computerführerschein.
Mehr Freiheit durch das Internet
Gerhard Jaworek kann nicht sehen. Deshalb stand er im Alltag schon vor so mancher Hürde: seien es die fehlenden Blindenleitsysteme in öffentlichen Gebäuden, in denen er sich nicht ohne Hilfe zurecht findet, oder der Induktionsherd und die Waschmaschine mit Touchscreen, die er nicht bedienen kann. „Computer und Internet erleichtern mir das Leben, vieles ist damit einfacher geworden“, sagt er: Jaworek surft viel im World Wide Web, nutzt den PC zum Fernsehen und steuert seinen Haushalt über unzählige Smartphone-Apps. Jaworek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Karlsruhe und nutzt die Medien auch im Job und beim Lernen. Fachbücher kann er sich zum Beispiel vom Rechner vorlesen lassen, über sogenannte Screenreader – das ist Software, die den Bildschirminhalt automatisch vorliest. Damit steht Jaworek nicht allein. Eine Studie der „Aktion Mensch“ ergab: Menschen mit verschiedenen Behinderungen wie Blindheit, Gehörlosigkeit, geistigen oder motorischen Einschränkungen nutzen Computer und Internet intensiver als der Bundesdurchschnitt – vor allem, um sich zu informieren und mit anderen zu kommunizieren. Dank Computer und Web können sie ein selbstständigeres Leben führen.
Hier finden Sie alles über den Europäischen Computerführerschein, mit einer Übersetzung in „Leichte Sprache“: ECDL – Was ist das eigentlich?
Bildung ohne Barrieren – Angebote fehlen
PC und Internet erleichtern auch die Weiterbildung, denn mithilfe von E-Learning-Angeboten können Menschen mit Behinderung lernen, wann und wo sie wollen. Die Treppen zum Seminarraum, die oberen Regalreihen in Bibliotheken sind dann kein Problem mehr. Noch ein Vorteil: Jeder kann in seinem eigenen Tempo lernen. Das klingt alles in allem wunderbar, aber wie in der realen Welt treffen Menschen mit Handicap auch auf Barrieren in der virtuellen Welt: Seiten sind für Screenreader nicht erkennbar, die Farbkontraste auf der Seite sind zu schwach, viele Informationen werden nur optisch oder akustisch transportiert – ohne Alternativen für Nutzer, die nicht sehen oder hören können. Damit Menschen mit Behinderung tatsächlich vom E-Learning in der beruflichen Bildung profitieren können, müssen zum Beispiel Lernportale oder Lernsoftware frei von solchen Hürden sein. Das ist jedoch auf dem offenen Weiterbildungsmarkt noch so gut wie nicht der Fall. Schulen und Hochschulen sind da vielfach einen Schritt weiter. Auch einige Unternehmen machen ihren Mitarbeitern barrierefreie E-Learning-Angebote. Die Allianz AG hat zum Beispiel ein preisgekröntes interaktives Lernskript entwickeln lassen, das Mitarbeiter mit Behinderung ebenso nutzen können wie Beschäftigte ohne Einschränkungen.
Einsatz technischer Hilfsmittel erlaubt
Für alle zugänglich ist dagegen das barrierefreie Angebot zum Computerführerschein ECDL, der von der in der Dublin ansässigen ECDL-Stiftung herausgegeben wird. Die European Computer Driving Licence ist ein international anerkanntes Zertifikat, mit dem sich IT-Kenntnisse nachweisen lassen. Die Prüfung dazu können Menschen mit Handicap unter barrierefreien Bedingungen ablegen. Gerhard Jaworek bekam als Nicht-Sehender zum Beispiel mehr Zeit, die Aufgaben zu lösen. „Ich durfte außerdem einen Screenreader einsetzen“, so Jaworek. Auf Abbildungen wird bei den Aufgaben verzichtet und die Online-Prüfung ist allein über die Tastatur steuerbar: Blinden ist die Benutzung der Maus nicht möglich. Dass solche Hilfsmittel verwendet werden dürfen, scheint selbstverständlich – ist es aber nicht: „Wenn blinde Menschen eine Prüfung ablegen, ist es üblich, dass jemand neben ihnen sitzt, die Aufgaben vorliest und sich vom Prüfling die Antworten diktieren lässt. Das sind Methoden aus der didaktischen Steinzeit“, sagt Gerhard Weber, der an der Technischen Universität Dresden das Fach „Mensch-Computer-Interaktion“ lehrt. Insofern markiere die barrierefreie Prüfung zum ECDL einen Meilenstein, betont er.
„Ein absolut gleichwertiger Abschluss“
„Beim ECDL müssen alle Prüflinge die gleichen Kenntnisse nachweisen. Menschen mit Handicap dürfen jedoch Technologien einsetzen, mit der sie ihre Einschränkung kompensieren können. Das dauert oft länger, daher bekommen sie mehr Zeit zum Lösen der Prüfungsaufgaben“, erklärt Hartmut Sommer von der Dienstleistungsgesellschaft Informatik (DLGI). Die ist in Deutschland für das IT-Zertifikat zuständig. Was den barrierefreien Computerführerschein einzigartig macht: „Der ECDL ist ein absolut gleichwertiger Abschluss, durch den Menschen mit Behinderungen ihre Fähigkeiten im Umgang mit der Informations- und Kommunikationstechnologie nachweisen können. Bei Bewerbungen ist das viel wert“, so Sommer. Die barrierefreie Prüfung ist nicht nur auf Blinde und Menschen mit Sehbehinderungen abgestimmt. Sie richtet sich genauso an hörbehinderte und gehörlose Menschen, an Personen, die in ihren geistigen Fähigkeiten oder hinsichtlich der Mobilität eingeschränkt sind, und nicht zuletzt an Menschen mit Lernschwierigkeiten wie Legasthenie oder Dyskalkulie, also einer Lese- oder Rechenschwäche.
Barrierefreies Lernen braucht bestimmte Voraussetzungen
Das Beispiel ECDL zeigt: Barrierefreie Bildung braucht bestimmte Voraussetzungen bei der Gestaltung und Konzeptionierung der E-Learning-Produkte. Jede Art von Behinderung bringt ihre eigenen Anforderungen mit sich – das zeigt die Übersicht über digitale Barrieren. Darüber hinaus finden sich im Internet viele Seiten, die Informationen und Leitfäden für eine barrierefreie Gestaltung liefern. Vorgaben macht auch die Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik (Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung, BITV 2.0). Sie basiert auf dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Demzufolge muss Teilhabe für alle möglich und sollten PC-Programme sowie virtuelle Inhalte im Netz allgemein zugänglich sein. Die BITV 2.0. legt dafür Standards fest – ebenso wie die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte.
Vier goldene Regeln für ein „Netz für alle“
Grundsätzlich gelten laut WCAG für die virtuelle Barrierefreiheit vier „Goldene Regeln“:
- Die Angebote müssen wahrnehmbar sein. Das lässt sich erreichen, indem etwa für Bilder oder Grafiken Alternativen zur Verfügung stehen. Das können beschreibende Texte sein. Aber auch Symbole oder eine einfachere Sprache erhöhen die Wahrnehmbarkeit.
- Die Tools müssen bedienbar sein. Das wird zum Beispiel dadurch sichergestellt, dass alle Funktionen auch ausschließlich über die Tastatur verfügbar sind oder ausreichend Zeit zur Verfügung steht, Inhalte zu lesen und zu benutzen.
- Die Inhalte müssen verständlich sein. Dabei kommt es darauf an, dass die Texte leicht verständlich und lesbar sind. Dafür können beispielsweise die Regeln der Leichten Sprache angewendet werden.
- Die Webangebote müssen robust sein. Das bedeutet, dass sie mit gebräuchlicher aktueller und möglichst auch mit zukünftiger Technik kompatibel sein sollen. Sie müssen ebenfalls über Hilfstechnologien wie Bildschirmleseprogramme, Spezialtastaturen oder Ähnliches nutzbar sein.
Hindernisse melden und beseitigen
Nicht nur beim E-Learning, auch im restlichen Internet gibt es noch zahlreiche Hürden. Zur Barrierefreiheit sind derzeit nämlich nur Bundesbehörden verpflichtet – für alle anderen ist sie eine freiwillige Leistung. Für die Verbesserung der Situation setzt sich unter anderem das Projekt Digital informiert – im Job integriert ein. Unter anderem betreibt es die Meldestelle für digitale Barrieren. An sie können sich all jene wenden, die beim Surfen im Web auf Hindernisse stoßen. Jedem konkreten Hinweis wird nachgegangen – und im besten Fall verändert sich etwas. Leiter Christian Radek hat schon einiges bewirkt: „Manche Seiten gewähren Zugang zu den Inhalten nur, wenn man eine Eingabe in einem Sicherheitsfeld macht“, erklärt er. Solche sogenannten Captchas sind für Blinde und Sehbehinderte aber ein unüberwindbares Hindernis. „Wir haben auf eine Meldung eines Nutzers hin bewirkt, dass der Webauftritt für den Rundfunkbeitrag zum Beispiel nun zusätzlich auch ein akustisches Captcha verwendet“, berichtet Radek. Nicht immer hat er solchen Erfolg – das barrierefreie Internet, das zum Surfen und Lernen für alle zur Verfügung steht, ist momentan noch Zukunftsmusik.
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Das E-Learning-Informationsportal e-teaching.org bietet eine Vertiefung zum Thema unter http://www.e-teaching.org/didaktik/konzeption/barrierefreiheit/
Die Aufzeichnung eines Online-Events zu barrierefreiem E-Learning, das im Oktober 2013 stattfand, kann außerdem hier angesehen werden: http://tinyurl.com/noj5r4u
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