Wenn Kleinkinder nicht schmusen wollen, nicht lächeln und nicht brabbeln, könnte das ein Zeichen für Autismus sein. Mediziner gehen heute von genetischen Ursachen aus. Eine frühe Förderung kann der Behinderung gezielt entgegenwirken.
Daniels Begrüßung ist wortlos. Der schmale Junge riecht kurz am Haar des Besuchers, legt ihm dann sanft den Ellenbogen auf den Nasenrücken und ist schon wieder verschwunden. Es mögen solche Begegnungen sein, die das gängige Bild vom bizarren Sonderling prägen: Autisten, das sind doch diese kleinen Genies, die eingekapselt in ihrer eigenen Welt leben, zu der niemand Zugang hat.
Hermann Marz hört dieses Klischee immer wieder, sagt er, und verdreht die Augen. Der Diplomsozialpädagoge leitet die Frühfördergruppe des Berliner Vereins "Hilfe für das autistische Kind". Für ihn sind die acht Jungen, die an diesem Morgen durch die Räume des Altbaus flitzen, in der Hängematte schaukeln oder vor sich hinwuseln, weder bizarr noch in erster Linie Autisten, sondern vor allem Kinder mit kindlichen Bedürfnissen. Ein Genie ist nicht dabei. Zugänglich sind sie alle. "Nur eben anders, als wir das gewohnt sind", sagt Marz. Gleichwohl leben sie in einer Welt, die ihnen Tag für Tag eine schier endlose Zahl verwirrender Rätsel aufgibt.
Mediziner gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 40.000 Menschen mit einer autistischen Störung leben, wobei Jungen etwa dreimal häufiger betroffen sind als Mädchen. Das gesamte Spektrum dieser Entwicklungsstörung reicht von sehr schwerer Behinderung in allen Lebensbereichen über mildere Formen wie dem Asperger-Syndrom bis hin zu autistischen Zügen, die kaum beeinträchtigen. Verschiedene Studien gehen daher von deutlich größerer Häufigkeit aus.
Im Laufe der Zeit können bei jedem Kind viele unterschiedliche Symptome auftreten. Es gibt jedoch typische Verhaltensweisen. Hinweise zeigen sich dabei zum Teil schon in den ersten Lebensmonaten, spätestens aber bis zum dritten Lebensjahr. Auffällig ist vor allem, dass die Kinder extrem in sich gekehrt wirken. Sie zeigen meist wenig Interesse an Menschen, beschäftigen sich stattdessen intensiv mit Gegenständen.
Was viele Eltern am meisten schmerzt, ist zugleich eines der zuverlässigsten Zeichen für eine autistische Störung: die fehlende Anteilnahme der Kinder. Sie reagieren nicht auf Gefühle anderer, teilen weder Freude noch Trauer, spenden keinen Trost und suchen vor allem keine Freundschaft. Zumindest nicht in einer üblichen Art und Weise. Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass es sich nicht um bewusste Teilnahmslosigkeit oder aktives Rückzugsverhalten handelt. Die frühere Auffassung, Eltern hätten durch falsche Erziehung ihre Kinder gleichsam zur Flucht nach innen getrieben und ihr autistisches Verhalten verursacht, ist längst revidiert.
Autisten, so die heutige Annahme, leiden an einer Störung der Hirnfunktionen, die es ihnen fast unmöglich macht, Gefühle und Gedanken anderer zu erkennen. Es fällt ihnen schwer, Gesten und Mimik zu deuten, etwa einem Lächeln oder einer Umarmung das passende Gefühl zuzuordnen. Zugleich fehlt ihnen die Vorstellung, dass ihr eigener Gesichtsausdruck eine Wirkung auf andere haben könnte. Das erklärt ihre Teilnahmslosigkeit.
Untersuchungen der Gehirnaktivität zeigten: Autistische Kinder scheinen Gesichter wie unbelebte Gegenstände wahrzunehmen. Die Forscher sehen darin einen Hinweis, dass speziell jene Teile des Gehirns, die soziale Informationen verarbeiten, anders funktionieren als üblich. Ihnen fehlen gleichsam wichtige Antennen für soziale Signale.
Auch psychologische Untersuchungen weisen in diese Richtung. Sie zeigen, dass Autisten weitgehend die Fähigkeit fehlt, die Welt aus dem Blickwinkel eines anderen zu sehen. Üblicherweise beginnen schon Kinder ab dem Alter von einem Jahr eine Vorstellung davon zu entwickeln, dass auch andere Menschen Vermutungen und Wünsche haben. Ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, lassen sich Absichten anderer Menschen nur schwer begreifen. Vor allem fehlt die Möglichkeit, prägende Erfahrungen auf diesem Gebiet zu machen, eigene Gefühle und soziale Verhaltensweisen zu entwickeln und diese angemessen mitzuteilen oder danach zu handeln.
Zumindest ein Teil der Autisten hat außerdem Schwierigkeiten, Sinneseindrücke in ein Gesamtkonzept zu ordnen. Vielmehr nehmen sie die Welt als ein großes Nebeneinander von Details wahr. Sie sehen Bäume, aber keinen Wald, Fäden, aber keinen Teppich. Vor allem Kinder mit Asperger-Syndrom haben oft ausgeprägte Sonderinteressen und häufen eine Fülle von lexikalischem Wissen etwa über Lokomotiven an. Oft direkte Folge ihrer Wahrnehmung: Es gibt kein Konzept, jede Einzelheit ist wichtig. Im Alltag bereitet das oft große Probleme, weil Situationen nicht eingeschätzt werden können, wenn ein Zusammenhang fehlt.
Buch mit sieben Siegeln
Als Kern autistischer Störungen gilt vielen aber das Manko an sozialer Wahrnehmung: Wer Gefühle und Gedanken anderer nicht oder nur verschwommen wahrnehmen kann, weil er Gestik, Mimik oder Stimme nicht deuten kann, dem erscheint das übliche Bild sozialen Miteinanders unverständlich. Sind soziale Regeln wie in einem Buch mit sieben Siegeln verschlossen, wird Gemeinschaft nicht erlebbar. Im Gegenteil: Sie wird leicht als Bedrohung empfunden. Wer nicht weiß, wie er sich verhalten soll, erlebt viele Situationen als Stress. Und wer soziale Kodes nicht einhält, der ruft Ablehnung hervor. "Es gibt durchaus Kinder, die soziale Kontakte gar nicht vermissen und lieber allein sind", sagt Dr. Sven Bölte, Diplompsychologe an der Uniklinik Frankfurt. "Aber besonders die intelligenteren Kinder leiden sehr darunter, sie merken, dass sie anecken, können aber nichts dagegen tun." Nicht selten mündet die stets scheiternde Kontaktsuche in Depressionen.
Die primären Ursachen der Störung sind bislang nicht vollständig geklärt. "Wir gehen aber heute davon aus, dass Autismus zu 90 Prozent genetisch bedingt ist", sagt Bölte, der in einem internationalen Forschungsprojekt nach den Ursachen der Erkrankung forscht. Die Wissenschaftler haben eine ganze Reihe verdächtiger Regionen auf verschiedenen Chromosomen gefunden, in denen sie ursächlich beteiligte Gene vermuten. Die Daten weisen darauf hin, dass fehlerhaft arbeitende Gene unter anderem die Gehirnentwicklung des Kindes noch während der Schwangerschaft stören. Daneben gibt es biochemische Auffälligkeiten, etwa im Haushalt des Botenstoffs Serotonin oder bei bestimmten Eiweißen, die für das Hirnwachstum wichtig sind.
Diagnostiziert werden autistische Störungen heute im Wesentlichen anhand des kindlichen Verhaltens. Erst nach einer sorgfältigen Diagnose kann gemeinsam mit den Eltern ein individueller Behandlungs- und Förderplan erstellt werden.
Grundsätzlich gilt: Je früher autistische Kinder gefördert werden, desto besser sind die Chancen, der Behinderung gezielt entgegenzuwirken. Das liegt auch daran, dass sich im frühen Kleinkindalter das Gehirn noch weitgehend in der Entwicklung befindet. Gestörte Funktionsbereiche können möglicherweise von anderen Hirnarealen übernommen und so ausgeglichen werden, vermuten Mediziner. Oft wird diese Chance verpasst, weil Eltern zu lange mit einem Arztbesuch warten, aber auch weil Ärzte die autistische Störung nicht als solche erkennen.
Im Alter von fünf Jahren sind schon viele autistische Verhaltensweisen gefestigt, die dann nur schwierig wieder abzubauen sind. Wenngleich Autismus nicht heilbar ist, sind bei früher Förderung mitunter bemerkenswerte Besserungen in fast allen Bereichen zu erzielen. "Allerdings kann die Erkrankung auch so umfassend sein, dass Therapien erfolglos bleiben", schränkt Bölte ein. "Insbesondere bei starker Beeinträchtigung der Intelligenz und der Sprache sind die Aussichten meist schlecht." Und selbst bei hohen intellektuellen Fähigkeiten blieben viele aufgrund ihrer sozialen Schwächen ein Leben lang auf eine Betreuung angewiesen.
"Generell kommt es darauf an, einen ganzheitlichen Therapie- und Förderansatz zu verfolgen, der die Gesamtentwicklung des autistischen Kindes zum Ziel hat", beschreibt Professor Helmut Remschmidt, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg die Prinzipien der Behandlung. Gleichzeitig müssten aber bestimmte Symptome wie etwa der Hang zu Selbstverletzungen gezielt beeinflusst werden. Bewährt haben sich Verhaltenstherapien, kombiniert mit einem pädagogischen Training. Spracherziehung, Beschäftigungs-, Bewegungs- und Musiktherapie sind weitere wichtige Bestandteile.
Einen festen Rahmen schaffen
Ziel ist es, störendes Verhalten wie ständige Wiederholungen oder Selbstaggressionen abzubauen und die Kinder zu motivieren, Neues auszuprobieren und auf ihre Mitmenschen zuzugehen. Gleichzeitig werden konkrete Handlungsweisen geübt, die für eine Gemeinschaft notwendig sind, etwa der rechtzeitige Gang zur Toilette. Als hilfreich haben sich feste Strukturen erwiesen, an denen sich die Kinder orientieren können: sowohl feste Zeiten und Räume zum Lernen, Spielen und Essen als auch eine feste Struktur des Trainings selbst. Eltern werden mit einbezogen, um ihr Kind im Alltag zu Hause an bestimmte Abläufe zu gewöhnen.
Medikamente können einzelne Begleitsymptome lindern, wie etwa Ruhelosigkeit oder Depressionen, können die autistische Störung aber nicht ursächlich behandeln. Sie sollten stets in ein therapeutisches Gesamtkonzept integriert sein.
Bei einer schweren autistischen Behinderung sind die therapeutischen Möglichkeiten meist eingeschränkt. Oft hat das Kind aber Fähigkeiten, die gezielt ausgebaut werden können. "Wir knüpfen zunächst an Ritualen der Kinder an, gehen darauf ein und bauen so Vertrauen auf", beschreibt Hermann Marz von der Berliner Frühfördergruppe die ersten Schritte. Einem Kind, das sich etwa pausenlos mit Papierschnipseln beschäftigt, zeigt der Pädagoge, wie sich daraus ein kleines Kunstwerk basteln lässt. Er stellt immer wieder fest, dass dieses Angebot gern angenommen wird. "Die Kinder sehnen sich nach einem Miteinander und sind durchaus in der Lage, Beziehungen aufzubauen. Nur können sie das nicht in gewohnter Weise zeigen." Gerade für Eltern sei es eine riesige Erleichterung, wenn ihr Kind zum Beispiel mit einer kurzen Berührung Zuneigung äußert.
Das gemeinsame Frühstück in den hohen Räumen des Berliner Altbaus ist praktische Lebenshilfe. Die Kinder lernen nicht nur, Brote zu schmieren, sondern auch die vielen sozialen und emotionalen Regeln, die am Tisch gelten: Was ärgert andere, was macht sie froh, und vor allem, woran erkennt man das und wie reagiert man darauf? Vieles an Selbstverständlichem muss immer wieder erklärt werden, weil die Kinder nur sehr schwer verstehen, dass Regeln allgemein gelten. Ist die Situation nur etwas anders, stehen sie wieder vor einem Rätsel. Regelmäßige Ausflüge, U-Bahnfahrten, der Einkauf im Supermarkt oder einfach nur der Gang zum Spielplatz sollen deshalb helfen, den Erfahrungsschatz draußen zu erweitern. "Wichtig ist dabei", so Marz, "dass die Kinder Lebensfreude entwickeln, Spaß am Miteinander finden und merken, dass sie wertvolle Teile dieser Gemeinschaft sind."
Neben Frühfördergruppen, die in mehreren Städten meist vom Verband "Hilfe für das autistische Kind" oder in Kinderkliniken eingerichtet wurden, gibt es auch einige Schulprojekte nur für autistische Kinder. Kleine Klassen, zum Teil Einzelunterricht und eine intensive Betreuung durch Erzieher sind das Konzept.
Da spezielle Schulen jedoch selten sind, gehen die meisten Kinder in Schulen für Lernbehinderte oder geistig Behinderte. Andere sind zum Teil in Regelschulen integriert. "Welcher Weg für das Kind am besten ist, hängt vom Einzelfall ab", sagt Bärbel Wohlleben, Diplompsychologin und zweite Vorsitzende des Berliner Vereins "Hilfe für das autistische Kind". Wenngleich das Ziel sei, autistische Menschen so weit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern, gebe es Grenzen. "Schreiben und Rechnen ist nicht das Problem, sondern die sozialen Regeln der Mitschüler", so Wohlleben. "Das geht nur mit ständiger Betreuung."
Das Gleiche gilt für den späteren Berufsweg. In der Regel kann nur eine Werkstatt für Behinderte die nötige Arbeitsbegleitung leisten. Selbst die wenigen, denen sogar ein Studium möglich wird, benötigen im sozialen Umgang stets fremde Hilfe. Als sehr günstig hat sich für autistische Erwachsene das Leben in speziellen Wohnheimen bewährt. Wenngleich noch rar, bieten dort kleine Wohngruppen mit qualifizierten Betreuern als feste Bezugspersonen beste Voraussetzungen für eine Integration.
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